# taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: Die Notdurft wird vernachlässigt | |
> Heute wird um viele Bedürfnisse ein Kult errichtet. Nur das elementarste | |
> Bedürfnis – der Toilettengang – lässt sich kaum in Würde befriedigen. | |
Bild: Der Weg zur Toilette ist bisweilen ein Hindernislauf: Bezahlklo in Ahrens… | |
Der Mensch hat ja so einige Bedürfnisse, und um die meisten hat er einen | |
großen Kult errichtet. Was auf den Tisch kommt, ist Glaubensbekenntnis, es | |
scheidet die Gebildeten von den Ungebildeten, die Gesundheitsapostel von | |
den Fastfood-Schlemmern, den Gourmet vom Gourmand, die Armen von den | |
Reichen. Ein anderer großer Kult wird um die Liebe gemacht. Die sehnsüchtig | |
fantasierte, glücklich oder unglücklich machende, den Menschen in seiner | |
Lebensplanung leitende Liebe ist den Menschen fast ebenso wichtig wie das | |
Essen. | |
Irgendwann gewann dann auch das Atmen an Bedeutung. Früher atmete man halt, | |
ohne sich groß Gedanken zu machen, aber jetzt soll auch das Atmen gesund | |
sein, weil man herausgefunden hat, dass es ungesundes Atmen gibt. Allein | |
wegen des Atmens ziehen Leute schon aufs Land und verschlechtern den | |
Dagebliebenen mit ihrer Arbeitsplatz-Pendelei noch mehr die Atemluft. | |
Dann gibt es das Bedürfnis nach Anerkennung, da bietet das Internet heute | |
auch dem kleinsten Scheißer unglaubliche Möglichkeiten, und das Gleiche | |
gilt übrigens für das Bedürfnis nach jeder Form von Sexualität. Aber ein | |
Bedürfnis wird immer noch kaum thematisiert und in der öffentlichen | |
Infrastruktur oft vernachlässigt: Das Bedürfnis nach dem Toilettengang. | |
Ich hielt mich gerade heute, aus privaten Gründen, auf der Internetseite | |
der Stadt Calw im Baden-Württembergischen auf, da fand ich unter der Rubrik | |
Calw informativ eine Unterrubrik Nette Toilette. Dass eine Stadt derart | |
freimütig und offensiv mit seinem öffentlichen, kostenlosen | |
Toilettenangebot an die Menschen herantritt, finde ich bemerkens- und | |
lobenswert. Ist doch dieser Punkt im öffentlichen Leben oft vernachlässigt | |
und lässt die Gäste wie die Einheimischen ratlos auf der Straße stehen. | |
## Der Mann strullert gerne öffentlich | |
Der Mann an sich, insbesondere wenn er alkoholisiert ist, strullert gerne | |
öffentlich, er braucht nur eine Wand, einen Zaun oder einen Baum. Der Mann | |
an sich, vermute ich (und ich nehme hiermit ausdrücklich jeden Mann davon | |
aus, der dies nicht zu seiner Gewohnheit zählt!), zeigt ihn einfach gerne | |
her. Es ist ihm vielleicht ein uraltes, natürliches Bedürfnis, sich in der | |
Luft, an der Sonne zu entleeren und Anteil zu haben, am sommerlichen | |
Geruchsmuster rund um Bahnhofsgebäude, Laternenpfähle, Bretterwände oder in | |
den Grünanlagen. | |
Ich war Anfang Juni diesen Jahres bei einem Schützenfest in Ostwestfalen, | |
da gab es zwei Toilettenwagen, einen für Frauen und einen, der nicht | |
benutzt wurde, weil Männer keinen Toilettenwagen benötigen, sie gehen | |
hinter den Toilettenwagen. In Hamburg müssen Frauen und andere | |
schambehaftete Menschen ein Restaurant aufsuchen und eine Bitte äußern. | |
Sie wissen, sie haben nichts konsumiert, dürfen sie dennoch? Selten ist es | |
mir abgeschlagen worden, aber ein natürliches, mehrmals täglich | |
aufkommendes Bedürfnis muss auch auf eine würdevolle, angemessene Weise | |
befriedigt werden können, wie alle anderen, mittlerweile zum Kult | |
erhobenen, Bedürfnisse. | |
Warum sollen wir uns nicht wohlfühlen dürfen, es nicht nett und sauber | |
haben, nicht gern den Ort aufsuchen wollen, ohne Ekel und Abscheu? Denn es | |
ist uns nun einmal ein, sogar unerlässliches, menschliches Bedürfnis, ganz | |
wie das Atmen und das Trinken. Es kann ja, unter idealen Bedingungen, sogar | |
ein lustvoller Vorgang sein, Befreiung, Loslassen, körperliche Entspannung. | |
Stattdessen werden wir in öffentlichen Toiletten oft gequält und | |
entwürdigt. Stattdessen gibt es einfach keine öffentlichen Toiletten und | |
wir müssen betteln gehen. | |
Und jetzt will die Stadt Hamburg also an einem Ort Toiletten errichten | |
lassen, an dem es kaum nötiger sein könnte und dessen Backsteine sicherlich | |
zu den uringetränktesten Hamburgs, wenn nicht Europas, zählen. St. Pauli | |
soll – für eine Million Euro – in der U-Bahn-Station Reeperbahn eine neue, | |
öffentliche bewachte Unisex-Toilettenanlage bekommen. Chapeau! Selten wurde | |
Geld besser investiert. Und das ist mein voller Ernst. Ich werde zur | |
Einweihung pinkeln gehen. | |
7 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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ein kostenloses Klo. Seitdem bietet sie Toiletten-Führungen an. |