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# taz.de -- Roman von Gary Shteyngart: Ein moralfreier, geldgeiler Typ
> „Willkommen in Lake Success“ hätte geistreiche Gesellschaftssatire werden
> können. Ist dann aber doch nur zur trivialen Männerfantasie geraten.
Bild: Darauf steht der Protagonist in Gary Shteyngarts neuem Roman
Natürlich lässt sich nur vermuten, was Gary Shteyngart eigentlich vorhatte
mit diesem Roman. Aber viel legt nahe, dass der US-amerikanische Autor mit
der Schaffung seines Antihelden Barry Cohen eine satirische Absicht
verfolgte. Nur hielt die wohl nicht lange genug.
Dabei hätte es so schön werden können und fängt auch angemessen bissig an:
Der New Yorker Hedgefonds-Manager – also Multimillionär – Barry Cohen
steckt in einer Lebensklemme. Mit üblen Insidergeschäften hat er sich
beruflich diskreditiert, und auch privat steht nicht alles zum Besten.
Obwohl er verheiratet ist mit der wunderschönen, klugen Seema und ein
übertrieben luxuriöses Apartment in einem sehr hohen Hochhaus in Manhattan
bewohnt, fremdelt Barry Cohen mit dem Familienleben, seit bei dem kleinen
Sohn Autismus diagnostiziert wurde.
Nach einem Streit mit Seema packt er einen Koffer, in den er vor allem die
schönsten Exemplare seiner teuren Uhrensammlung steckt, und macht sich auf
die Reise mit dem Greyhound quer durch die USA, um seine alte Collegeliebe
zu suchen. Seine Frau nutzt derweil die Gelegenheit, um eine Affäre mit dem
Schriftsteller zu beginnen, der mit seiner Familie ein paar Stockwerke
weiter unten, in einem der günstigen 3-Millionen-Dollar-Apartments, lebt.
Da „Willkommen in Lake Success“ ein Roman aus der Feder von Gary Shteyngart
ist, ist es natürlich sehr gut erzählt, unterhaltsam und oft ziemlich
komisch. Außerdem enthält er tolle Dialoge sowie zahlreiche farbige,
lebendige Schilderungen von Land und Leuten. Nicht zuletzt ist die
Atmosphäre in den USA im Vorfeld der [1][Trump-Wahl 2017] recht
eindrücklich eingefangen – was vermutlich die überschwängliche Aufnahme des
Romans bei der US-Literaturkritik erklärt.
## Unangenehm, aber auch interessant
Womöglich sollte er auch so etwas wie eine Great American Novel werden.
[2][Jack Kerouacs Beatklassiker „On the Road“] lässt grüßen und wird
mehrfach erwähnt. Shteyngart ist ja nicht zuletzt ein Erzähler mit Begabung
zur Selbstironie. Die Frage ist nur: Wo ist dieses Selbst diesmal? Und bis
wohin geht die Ironie?
Der Verdacht drängt sich auf, dass beim Schreiben dieses Romans zu viel von
Shteyngarts höchsteigenem Ich auf der falschen Seite des Schreibtischs
gelandet ist und nun in Barry Cohen steckt. (Und das betrifft nicht nur den
Uhren-Tick, den der Autor mit seiner Figur auch realiter teilt.) Das macht
die Sache schwierig, denn es erschüttert den prekären Balanceakt, den man
ohnehin beim Lesen zu vollführen gezwungen ist.
Barry Cohen ist ein moralfreier, geldgeiler Typ. Da er uns als Ich-Erzähler
gegenübertritt, werden wir einerseits gezwungen, seine Perspektive
einzunehmen, uns also auf einer gewissen Ebene mit ihm zu identifizieren.
Das macht an sich nichts, denn moderne LeserInnen sind schizophren genug,
sich gleichzeitig innerlich distanzieren zu können.
Unangenehm, aber auch interessant wird es dann, wenn das im Laufe der Zeit
immer schwieriger wird, weil der Unsympath menschliche Wünsche und Regungen
hat, die gut nachvollziehbar sind – wie etwa sein inniger Wunsch, eine
väterliche Bindung zu einem Kind aufzubauen. (Blöd, dass ihm das mit dem
Kind seiner Exfreundin gelingt, aber nicht mit dem eigenen Sohn.) Aber
klar, auch Unsympathen haben Gefühle, und Barry Cohen wird damit als
komplexer, auch widersprüchlicher Charakter gezeigt.
## Triviale Männerfantasien und Sex-Helden
Mehr als unangenehm, literarisch überflüssig und unangemessen ist es
dagegen, wenn eine literarische Figur Fantasien ihres Autors ausleben muss
– vor allem solche sexueller Art. Von denen enthält dieser Roman
irritierend viele, was sich irgendwie extrem schlecht mit einer satirischen
Absicht verträgt.
Der Verdacht liegt nahe, dass es gerade diese trivialen Männerfantasien
sind, die den Autor zunehmend die innere Distanz zu seinem Antihelden (der
darüber dann doch zum Helden wird; denn zumindest sexuelle Probleme scheint
er rein gar nicht zu haben) verlieren lassen.
Wenn der Roman am Ende auf einer für Barry Cohen versöhnlichen Note endet,
hat das keineswegs die Wirkung einer bitteren Pointe (weil die Arschlöcher
aus der Welt der Finanzspekulation immer mit allem davonkommen), sondern
kommt daher wie ein echtes Happy End.
Das Extramerkwürdige dabei ist: Wenn man sich den Mann vorstellt, der am
Ende des Romans in seiner millionenschweren Villa sitzt, ganz allein eine
wertvolle Uhr repariert und dabei endlich so richtig glücklich ist – dann
steht einem beim Lesen hartnäckig ein Bild des Autors vor dem inneren Auge.
Und das fühlt sich ganz und gar verkehrt an.
8 Aug 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Roman
USA
Familie
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Roman
Jugendbuch
Adoption
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