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# taz.de -- Fotoausstellung in der Urania: Zwischen Himmel und Erde
> „Life in Cities“: Was als Retrospektive begann, ist durch den plötzlichen
> Tod des Fotografen Michael Wolf zum künstlerischen Nachruf geworden.
Bild: „Transparent City“, 2008
Den Eingang zu den Ausstellungsräumen zu finden erweist sich zunächst als
schwierig. Ein riesiger neonfarbener Pfeil auf schwarzem Grund weist auf
eine Tür: verschlossen. Also über die Treppe in den ersten Stock. An der
Bar des hauseigenen Restaurants lehnen lässig zwei Kellner, der Speisesaal
ist mäßig besucht. Die Ausstellung sei nur über den Fahrstuhl erreichbar,
und das auch nur vom Erdgeschoss aus, so die Auskunft. Also wieder runter
und dann hoch. Ob das nun eine kuratorische Lösung ist oder nur dem
verwinkelten Bau geschuldet, darüber lässt sich nur rätseln.
Einen besonderen Effekt hat es jedenfalls, wenn sich die Tür des Aufzugs
öffnet. Aus diesem kleinen, isolierten Käfig herauskommend, sieht man sich
Fotografien von eingepferchten Menschen gegenüber, ihre Gesichter werden
gegen beschlagene Scheiben gedrückt. Eine unrasierte Wange, platte Nasen,
geschlossene Augen – was wir sehen sind Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit,
eingekesselt in Tokios U-Bahnen.
Die absolute Verdichtung des städtischen Lebens, das ist es, was der
kürzlich verstorbene Fotograf Michael Wolf in seiner Serie „Tokyo
Compression“ einfängt. Beobachtend, geradezu voyeuristisch muten die
Aufnahmen an, denn obwohl einige der Porträtierten versuchen, sich dem Auge
des Betrachters zu entziehen, gibt es in der komprimierten Masse für den
Einzelnen kein Entkommen.
Der größte Raum der Ausstellung zeigt die wohl bekanntesten Fotografien des
Künstlers, die Reihe „Architecture of Density“. Darauf und auf diagonal im
Raum angeordneten Stellwänden abgebildet sind beeindruckende, durch die
fotografische Perspektive endlos wirkende Wohnkomplexe. Kein Himmel, keine
Erde, nur Fassade – die in Wolfs Wahlheimat Hongkong entstandenen Bilder
zeugen von der Besiedlungsdichte der Megacity. Durch ihre Farbgestaltung
wirken die Gebäude beinah surreal und abstrakt. Nur auf wenigen ist
menschliches Leben im Innern zu erahnen: Wäschestücke vor Fenstern, ein
rauchender Mann auf einem Balkon.
Als Voyeur in der transparenten Stadt
Im Kontrast dazu befinden sich auf den Stellwandrückseiten Fotografien
einer anderen Serie – „Transparent City“ –, die die ebenso monströsen,…
viel zugänglicher wirkenden Hochhäuser Chicagos zeigt. Gläserne
Gebäudekomplexe, in denen das Leben je nach Fokus für den Betrachter
einsehbar ist.
Auch hier wird Wolf zum Voyeur, vergrößert einzelne Akteure (fast) bis zur
Unkenntlichkeit und hängt sie gesondert neben die Häuseransichten, wie
kleine Fahndungsbilder. Ähnlich verfährt er in „Street View“ – einer
Fotoserie, die aus Screenshots des gleichnamigen Google-Onlinedienstes
entstanden ist. Auf den Straßen von Paris und New York werden Leute bei
alltäglichen Verrichtungen abgelichtet: beim Einkaufen, Fahrradfahren,
Flanieren, aber auch beim öffentlichen Urinieren – 1984 lässt grüßen!
Die Arbeiten Wolfs zeigen, wie sehr ihn das urbane (Zusammen-)Leben
fasziniert. Neben den fotografischen Eindrücken findet sich auch ein Teil
seiner „Bastard Chairs“-Sammlung in der Ausstellung. Provisorisch
gezimmerte Sitzgelegenheiten, wie sie an den verschiedensten Orten in
Chinas Großstädten auftauchen, stehen hier aufgereiht. Zwar ist das
Platznehmen auf den Fundstücken nicht erlaubt, aber dem Besucher stehen in
jedem Raum Sitzgelegenheiten zur Verfügung, die es ermöglichen, sich in
Ruhe der Betrachtung zu widmen.
Eine Sozialstudie auf 9 Quadratmetern
Für seine Arbeit „100 x 100“ wechselte der ehemalige Stern-Fotoreporter
Wolf die Perspektive vom Außen ins Innen. Auf insgesamt hundert Fotos sind
ebenso viele 9 Quadratmeter große Wohnzellen zu sehen, aufgenommen im Shek
Kip Mei Estate, der ersten Sozialwohnanlage Hongkongs. Die heute in großen
Teilen abgerissenen Wohnungen fotografierte Wolf mit einem
Weitwinkelobjektiv, um möglichst den gesamten Raum, inklusive seiner
Bewohner, festzuhalten.
Eine Art Sozialstudie ist das Ergebnis von „100 x 100“, interessant sind
vor allem die unterschiedlichen Weisen, den begrenzten Platz möglichst
effektiv zu nutzen. Um ein Gefühl für die Enge zu bekommen, hängen die
Fotografien in einem nachgebauten Raum im selben Maßstab.
Auch Michael Wolfs letzte Arbeiten sind ein Spiegel der Gesellschaft.
„Cheung Chau Sunrises“ – aufgenommen auf der gleichnamigen Insel
südwestlich von Hongkong. Was in der Kunst als Kitsch gelten mag, ist Wolfs
Reaktion auf den klaustrophobischen Alltag in der Megacity. Entschleunigung
durch Regelmäßigkeit, sozusagen. Denn ein Jahr lang stand er täglich um
halb sechs auf, um die aufgehende Sonne von seinem Dach aus zu
fotografieren.
Das Ergebnis ist beeindruckend, wenn auch nur in seiner Gänze. Einzeln
gesehen, sind die kleinformatigen Fotos nicht mehr als gelungene
Schnappschüsse. In ihrer Gesamtheit aber vermitteln sie eine Dynamik, die
den Stadtaufnahmen abgeht.
13 Jul 2019
## AUTOREN
Sophia Zessnik
## TAGS
zeitgenössische Fotografie
Megacity
Hongkong
Kunst
Bauhaus Jubiläum 2019
Deichtorhallen Hamburg
Fotografie
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