# taz.de -- Campusroman „Missouri“: Schwebe, Stella, schwebe! | |
> Sprechakte und übernatürliche Fähigkeiten: Gregor Hens hat ein Buch mit | |
> Theorieeinschüben geschrieben. Es ist auch eine Liebesgeschichte. | |
Bild: „Missouri“ ist kein Romeo-und-Julia-Roman – aber eine Liebesgeschic… | |
Er dachte, er hätte es hinter sich gelassen, den ganzen alten „Krempel, den | |
ich schon vor Jahren wie Sperrmüll an den Bordstein gestellt hatte, | |
zusammen mit der Jungfrauengeburt und der Transsubstantiation“. Aber die | |
neun Jahre in einem katholischen Internat hatten bei Karl, dem Erzähler und | |
Helden aus Gregor Hens Roman „Missouri“, offenbar doch Spuren hinterlassen. | |
Als er seine Schülerin und Freundin Stella über den Boden schweben sieht, | |
beginnt er an seinen aufgeklärten Überzeugungen zu zweifeln. Zumal andere, | |
unter ihnen Stellas Eltern, ihre übernatürlichen Fähigkeiten nicht infrage | |
stellen. | |
Wir schreiben das Jahr 1989. Es ist Sommer, bald würde die Mauer fallen. | |
Karl, 23 Jahre alt, war vor seiner unglücklichen Kindheit im Internat und | |
der „deutschen Schaurigkeit“ geflohen. „Waldsterben“ war das Wort, das | |
diese Stimmung am besten für ihn ausdrückte. In den USA schien alles | |
anders, heller. In der kleinen Provinzstadt Columbia, Missouri, beginnt er | |
an der Universität Deutsch zu unterrichten. Gleich in seinem ersten Kurs | |
sitzt sie, Stella. Die beiden werden ein Paar. Und das, obwohl der Dekan | |
gedroht hatte, jeden Dozenten sofort rauszuschmeißen, der sich mit einer | |
Studentin oder einem Studenten einlässt. | |
Aber „Missouri“ ist kein Romeo-und-Julia-Roman. Der Dekan redet Karl zwar | |
ins Gewissen, entlässt ihn aber nicht. Und es ist auch keine | |
„Lolita“-Geschichte, auch wenn Stellas Mutter Janet noch jung und attraktiv | |
ist und Karl zu verführen versucht. Am ehesten ist es ein Campus-Roman, | |
durchsetzt von den Theorien, die zu dieser Zeit an amerikanischen | |
Universitäten diskutiert wurden. Theorien, mit denen Karl sich auch die | |
schwebende Stella zu erklären versucht. | |
So zum Beispiel in einem Gespräch mit Lawrence, einem Philosophieprofessor, | |
mit dem sich Karl anfreundet. Lawrence bezieht sich auf Ludwig Wittgenstein | |
und die Sprechakttheorie J. L. Austins: „Wir haben die Sprache, also | |
schaffen wir die Welt. … Schwebe! Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Das | |
sind Sprechakte, die nicht nur etwas bedeuten, sondern auch etwas | |
bewirken.“ | |
Gespräche in Berkeley | |
Auch eine Theorie des literarischen Erzählens dient dem Versuch der | |
Aufklärung von Stellas übernatürlichen Fähigkeiten. Lawrence hatte Karl | |
einem Sprachwissenschaftler an der Universität von Berkeley empfohlen. Der | |
bat ihn gleich um einen Aufsatz. „Es ging um Deixis, Sinn und Bedeutung von | |
Wörtern wie hier, du oder gestern, Wörtern also, deren Bedeutung sich | |
ändern, je nachdem, wer sie verwendet, in welchem Kontext dies geschieht, | |
zu welchem Zeitpunkt und so weiter.“ | |
Ein Gespräch in Berkeley dreht sich dann um ein Beispiel aus der Literatur: | |
„Es war jetzt dunkel. Wie kann das sein“, sagt Karl. „Wie kann man „jet… | |
und die Vergangenheitsform zusammen verwenden.“ Und kommt zu dem Schluss, | |
dass das „mit der Logik der Tempora“ nichts zu tun hat. „Autor und Leser | |
haben eine Vereinbarung: Du machst mir nichts vor, und ich lese es, als | |
wäre es passiert. … Die fiktive Welt ist eine alternative Welt, eine Art | |
Gegenwelt. Wir können gar nicht genug kriegen von diesen Gegenwelten.“ | |
Letztlich aber kann keine dieser Theorien die übernatürlichen Kräfte | |
Stellas erklären. Denn auch im Sinne einer literarischen Vereinbarung | |
zwischen Autor und Leser wird nicht klar, weshalb Gregor Hens diesen | |
Einfall hatte. Und die zahlreichen anderen Figuren, die Karl in dieser | |
Phase seines Lebens kennenlernt, haben nur einen funktionalen Charakter. | |
Sie sind für ihn als Erfahrung wichtig oder treten als Stichwortgeber für | |
die unterschiedlichen Theorien auf. | |
Trotzdem: „Missouri“ ist ein gut zu lesender Campus-Roman, bei dem man sich | |
besonders dann nicht langweilt, wenn man sich für die verhandelten Theorien | |
interessiert. Man erfährt einiges über das akademische Leben in den USA und | |
über die Stimmung der Zeit um die Wende herum. Und es ist natürlich auch | |
ein Liebesroman. | |
27 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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