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# taz.de -- Klimaproteste in Deutschland: So gut sortiert wie nie
> Die größte Schülerbewegung der Geschichte Fridays for Future verändert
> auch die radikale Linke: Sie ist einfühlsam geworden.
Bild: Blockade der Bahnstrecke zwischen den Kohlekraftwerken Neurath und Nieder…
Aachen/Viersen/Hochneukirch taz | Es ist Samstag, 13.09 Uhr, als es an
diesem Wochenende dann ausnahmsweise doch einmal unübersichtlich wird:
Hunderte Menschen biegen plötzlich auf einer Landstraße in
Nordrhein-Westfalen, zwischen Lützerath und Immerath, links ab ins freie
Feld. Alle rennen nun so schnell sie können – stolpern, aufstehen –, erst
über Sand, dann durch ein Kornfeld und einen Kartoffelacker, zur
Tagebaukante hin, in Garzweiler. Ein paar Dutzend Polizisten, wie verloren
in der Menge, versuchen zu fangen, was zu fangen ist, aber sie fangen nicht
viel. Diese Erstürmung dauert 16 Minuten.
Am Horizont, gleich da vorne, liegt der Tagebau Garzweiler, eines der
größten Braunkohlefördergebiete Europas, und schon rutschen die ersten
Besetzerinnen und Besetzer hinab. Sie schlittern einen sandigen, steilen
Abhang hinunter. Sie haben ihr Ziel erreicht.
So eine Hektik, so eine Bewegung: Sie ist zur Ausnahmesituation geworden in
einem Protestambiente, in dem fast jede Bewegung inzwischen wohlkalkuliert
ist. Über eintausend Menschen erstürmten am Wochenende den Tagebau in
Garzweiler, Hunderte blockierten über Stunden und Tage die nahe gelegenen
Schienengleise am Kohlekraftwerk Neurath und am rund 40 Kilometer
entfernten Hambacher Forst.
[1][Zehntausende gingen zuvor in Aachen] und Hochneukirch für ein rasches
Ende der Kohleförderung und eine effektivere Klimaschutzpolitik auf die
Straßen. Es waren wieder viele Bewegungsrekorde dabei, eine Neugeburt der
Anti-Kohle-Bewegung in Deutschland und vor allem: Ausdruck einer
Veränderung.
## Eine Wachstumsgelegenheit
Die radikale Umweltbewegung ist einfühlsam geworden über die Jahre,
erwachsen, etabliert und heute wohl so organisiert wie nie zuvor. Wäre
diese Bewegung ein Mensch, dann ein Elternteil. Hätte sie eine Küche, dann
eine saubere. Jetzt hat diese Bewegung Nachwuchs bekommen: Die Schülerinnen
sind da und die Schüler, die Kinder von Fridays for Future, die in weniger
als einem Jahr schafften, was radikale Kraftwerks- und Tagebaubesetzer seit
über zehn Jahren versuchen: dass ganz Deutschland über Klimawandel redet.
„Lio“ nennt sich der 18-jährige Junge mit Lockenkopf, der in einem
Zirkuszelt im Protestcamp Viersen, 20 Kilometer entfernt vom Tagebau
Garzweiler, so wirkt, als wachse er gerade einen ganzen Meter. Er steht
kerzengerade und nimmt seine Sache sehr ernst, als er jungen Schülerinnen
und Schülern wie ein Lehrer an einer Schautafel erklärt, wie sie gemeinsam
nach Aachen kommen am Freitag, zur großen Fridays-for-Future-Demonstration
und wie es sich anstellen lässt, dass das Zugticket für sie nur 9,20 Euro
kostet statt 18,70 Euro.
„Lio“ ist zum ersten Mal bei einer solch großen Sache dabei und man merkt
es ihm an. Links und rechts von ihm finden Protesteinführungen statt und
Strategiediskussionen. Das ist ja das Besondere hier: Radikale
Umweltschützer aus ganz Europa sind gekommen, aus Italien, Spanien,
Frankreich und Großbritannien, viele von ihnen langjährig erprobt in allen
möglichen Formen des zivilen Ungehorsams – aber dies ist jetzt ihre Chance:
Der Erfolg der jungen Schülerbewegung, die am Freitag in Aachen rund 40.000
Menschen auf die Straße brachte, ist auch für die kapitalismuskritische
Linke eine Wachstumsgelegenheit.
Es gibt einen Menschen, an dessen Sprache sich zeigen lässt, wie die einen
von den anderen profitieren und die anderen von den einen. Seine Name ist
Tadzio Müller, einst gehörte er zu den Anführern der europäischen
Klimaschutzbewegung, immer für einen Blockadeaufruf gut. 2009, bei
Protesten anlässlich des UN-Klimagipfels in Kopenhagen, wurde er deshalb
verhaftet. Zu den Lautsprechern und Strategen der Bewegung gehört er noch
immer.
Hochneukirch, 5.000 Einwohner, am Rande des Tagebaus Garzweiler,
Samstagmittag: Was anders geworden ist, wird sich hier heute um 13.17 Uhr
zeigen, als eine Demonstration von rund 8.000 Menschen der
Fridays-for-Future-Bewegung die Tagebaukante Garzweiler erreicht.
Bei Lützerath, sieben Kilometer entfernt, hat gerade die Erstürmung des
Tagebaus begonnen, aber hier ist noch alles ruhig. Ein Wasserwerfer der
Polizei steht an der Tagebaukante bereit und ein Räumpanzer. Tadzio Müller
fährt auf dem Lautsprecherwagen mit und heizt die Schüler an.
Doch als die Tausenden Menschen nun hier auf die Abbruchkante stoßen, sagt
er einen Satz, den er zuvor so wohl nicht gesagt hätte: „Bitte bleibt auf
dem Weg. Wir wollen nicht in die Grube hinein. Wir sind hier, um ein
symbolisches Zeichen zu setzen.“ Es ist ein wichtiger Satz, ein
strategischer und ein bisschen gelogen: Er markiert, dass die einst
linksradikale Klimabewegung beginnt, die Sprache der Schüler zu sprechen;
er markiert, dass nicht alle nun gleich zu Besetzern werden müssen.
Es dauert nicht lange, natürlich, bis Müllers Freunde schließlich doch in
die Grube stürmen, aber sie haben vorausschauend geplant: Sie laufen am
Ende der Demonstration, sodass sie die Schülerinnen und Schüler nicht
gefährden, sodass jede und jeder tun kann, was ihm selbst opportun
erscheint. So läuft das also, wenn die Großen auf die Kleinen aufpassen und
die Großen von den Kleinen lernen. So läuft das, wenn die Kleinen vorneweg
gehen. So läuft das, wenn die Kleinen groß geworden sind und den Marsch
anführen.
Ein gutes Jahrzehnt bereits reifte die einst sehr überschaubare
Klimabewegung in Deutschland zu diesem Moment heran. Erst waren es kleine
Klimacamps, oft besucht von nur ein paar Dutzend Teilnehmern, vor allem aus
antikapitalistischen Gruppen, die den Begriff der Klimagerechtigkeit in
Deutschland einführten. Gemeint war damit: daran zu denken, dass die
Emissionsquoten in Deutschland Auswirkungen vor allem auf die armen
Bevölkerungsteile am anderen Ende der Welt haben würden.
Nun ist diese Botschaft angekommen, spätestens wohl, seit ein YouTube-Star
namens Rezo es seinen Zuschauern neulich in einem Internetvideo zu erklären
versuchte. Mit dem Erwachsenwerden, mit dem Vordringen in die
gesellschaftliche Mitte hat sich auch die radikale Linke verändert. So
sortiert war sie noch nie. Selbst für die Polizei: berechenbar.
## So sauber und ordentlich
Es ist 9 Uhr, als an diesem Freitag Tausende Menschen in einem Protestcamp
in Viersen, unweit vom Tagebau Garzweiler, in einer langen Schlange stehen,
um sich Stullen mit Rote-Beete-Mus und veganem Nutella zu schmieren; es ist
9.30 Uhr, als sie schließlich zu Tausenden zu Fuß, bepackt mit Schlafsäcken
und Vorräten für die Nacht, zum Tagebau Garzweiler aufbrechen; und es ist
10.15 Uhr, als alle Frühstückstische von der freiwilligen Putzkolonne
wieder gereinigt und poliert sind, so sauber und ordentlich, als hätte hier
noch nie jemand gekrümelt.
Die Logistik der außerparlamentarischen Macht, sie hat eine Qualität
erreicht, die an die alten Zeiten erinnert, als 2007 in Heiligendamm
Zehntausende Menschen gegen den G8-Gipfel demonstrierten. Nur steriler ist
alles geworden, noch aufmerksamer, noch organisierter. Und die wirklich
militanten Gruppen reisen gar nicht mehr an.
Es ist eine Protestwelt, in der die Pressesprecher der Klimabewegung
Visitenkarten verteilen, in der Busse gechartert werden, wenn etwa der
Bahnhof in Viersen über Stunden von der Polizei geschlossen wird; es gibt
in dieser Welt einen Awareness-Tisch, auf dem eine Blume steht, ein
altrosafarbenes Löwenmäulchen, und wo jede und jeder einfach sagen kann,
was sie bewegt oder wie es ihm geht oder wonach ihr ist.
## Wirklich an alles gedacht
In dieser Welt wird während einer Gleisbesetzung unter freiem Himmel
diskutiert, ob auf den gemeinsam besetzten Schienen vor dem Kohlekraftwerk
Neurath ein Rauchverbot herrscht oder nicht. Oben, die Flugdrohne, die da
fliegt, fertigt ästhetische Filmaufnahmen für die ehrenamtlich tätige
Werbeabteilung des „Ende Gelände“-Protests und es gibt einen Mann, der an
diesem Wochenende mutterseelenallein und Kilometer entfernt von allen
anderen auf einer Wiese steht in der Nähe des Tagebaus Garzweiler, auf der,
theoretisch, Unterstützer der Bewegung parken könnten.
Er hält ein Pappschild in die Luft, auf das er ein „P“ geschrieben hat,
aber es parkt niemand bei ihm. Er hat sich eingetragen für den
Parkplatzdienst bei Keyenberg. Er tut es wohl für die gemeinsame Sache. Er
tut es in aller Ruhe.
Wirklich an alles haben sie hier gedacht, selbst die Gehwege zwischen den
Schlafzelten im Protestcamp sind ordentlich mit Flatterband abgezirkelt.
Gespenstisch, diese Organisationskraft, so als sollte alles fein
hergerichtet sein, wenn die Eltern vorbeikommen, die „Parents for Future“,
um zu schauen, ob es ihren Kindern gutgeht.
23 Jun 2019
## LINKS
[1] /Klimaproteste-im-Rheinland/!5604842
## AUTOREN
Martin Kaul
Katharina Schipkowski
## TAGS
Schulstreik
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Garzweiler
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