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# taz.de -- Kommentar Hongkong und China: Grüße aus der renitenten Stadt
> Hongkongs Autonomieformel „Ein Land, zwei Systeme“ lässt viele
> Interpretationen zu. In der Praxis ist sie eine flexible Mogelpackung.
Bild: Von der KP Chinas alleingelassen? Ach was, Carrie Lam spricht alles genau…
Bevor sich Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam am Dienstag erstmals
persönlich vor der Presse [1][für ihren Umgang mit dem Auslieferungsgesetz
entschuldigte], entdeckten die Fotografen eine Packung Papiertaschentücher
auf Lams Rednerpult. Die wurden sogleich fotografiert. Würde Lam wieder in
Tränen ausbrechen? Bei ihrem letzten TV-Auftritt hatte sie ein paar Tränen
verdrückt. Die wurden ihr von vielen als Krokodilstränen ausgelegt.
Bis zu zwei Millionen Menschen demonstrierten [2][nur wenige Tage darauf]
gegen Lam und ihr Auslieferungsgesetz. Das sieht die Übergabe mutmaßlicher
Straftäter an Chinas politische Willkürjustiz vor. Viele fürchten zu Recht,
dies könne auch Peking-Kritiker betreffen und damit Hongkongs Autonomie
aushebeln. Erst kurz vor der Massendemo hatte Lam das Gesetz auf Eis
gelegt, nur reichte das den Demonstranten längst nicht mehr.
Lam scheiterte aber nicht nur an ihrer eigenen Politik und Arroganz,
sondern auch an den Widersprüchen ihres Jobprofils. Als Hongkongs
Regierungschefin soll sie den Menschen in der früheren Kronkolonie das
Gefühl geben, sie sei eine von ihnen und ihr Sprachrohr gegenüber der
Regierung in Peking.
Doch dort sieht man es genau andersherum und betrachtet Lam als Pekings
Vollstreckerin in Hongkong. Die kommunistische Regierung behält sich das
entscheidende Wort bei der Auswahl des Regierungsoberhauptes der Stadt vor.
Deren Bewohnern wurde nach der Formel „ein Land, zwei Systeme“ für 50 Jahre
Selbstverwaltung und Autonomie versprochen.
## Nicht direkt gewählt
Aus Sicht vieler Hongkonger agierten Lam und ihre bisher vier männlichen
Vorgänger vor allem als Erfüllungsgehilfen der chinesischen Regierung und
nicht als InteressenvertreterInnen der auf ihre Autonomie bedachten Stadt.
Zieht die Bevölkerung dann mit Massenprotesten die Notbremse, wie 2003
gegen das Sicherheitsgesetz und wie jetzt gegen das Auslieferungsgesetz,
wandelt sich Lams Job plötzlich von Pekings Statthalterin zu Pekings
Prellbock.
Sie ist gescheitert und sollte zurücktreten. Doch Chinas Regierung versucht
sich hinter ihr und der [3][versprochenen Autonomie der Stadt] zu
verstecken. Dabei untergräbt Peking die Autonomie immer wieder selbst.
Lam hat nur das gemacht, was Chinas Regierung ihr angetragen hat, wie die
meisten Honkonger glauben. Oder, so Lams Darstellung, was sie selbst
dachte, was richtig sei. Und was sie wohl dachte, aber nicht sagt, was
Peking von ihr erwartet hatte und sie dann in vorauseilendem Gehorsam
umzusetzen versuchte. Die Ursache dafür ist, dass Hongkongs Regierungschefs
nicht direkt von der Bevölkerung gewählt werden, sondern von einem
Peking-loyalen Gremium. Wäre Hongkongs Regierungschefin dagegen der
Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig und würde von dieser direkt
gewählt, hätte Lam den ersten Massenprotest von bis zu einer Million
Menschen zunächst nicht einfach ignorieren können.
## Inspiration für das Festland?
Lam schien diesen Fehler erst zu merken, als konservative Geschäftsleute
nervös wurden. Die sind nicht unbedingt Freunde der Demokratie, weshalb die
ersten ihr Kapital ausgerechnet ins autoritär regierte Singapur verlagern.
Aber auch sie wollen eben nicht der Gefahr ausgesetzt sein, womöglich eines
Tages vor einem Richter auf dem chinesischen Festland zu stehen.
Und sie spüren, dass Lam Hongkongs Wirtschaft gefährdet. Über ihr schwebt
die Drohung eines Antrags aus beiden Fraktionen im US-Kongress, Hongkongs
Zollpräferenzen aufzuheben. Bisher war die Stadt von bestimmten US-Zöllen
wie Donald Trumps Strafzöllen gegen China ausgenommen, weil sie ein eigenes
Rechts- und Wirtschaftssystem hat. Würde dies durch das Auslieferungsgesetz
aufgeweicht, droht Hongkong seine Privilegien zu verlieren.
Das wäre für die Stadt und die Zentralregierung ein großes Problem.
Letztere hat derzeit kein Interesse daran, dass mit Hongkong im Konflikt
mit Trump eine neue Front entsteht. Zugleich will Chinas KP die Stadt aber
unter ihre Kontrolle bekommen und verhindern, dass Hongkongs
Demokratiebewegung zur Inspiration für das Festland wird.
## „Ein Land“
Hongkongs Autonomieformel „ein Land, zwei Systeme“ meinte vor allem die
Wirtschaft und bürgerliche Freiheiten. Demokratie gab es dort auch damals
nicht. Als sich Großbritannien und China 1984 auf die Rückgabe der Stadt
einigten, galten Hongkonger als unpolitisch. Das hat sich geändert – wegen
Chinas Politik. Jeder Versuch Pekings, die Autonomie auszuhöhlen und
Freiheitsrechte zu beschneiden, hat Hongkongs Bevölkerung politisiert. 2014
musste die Regenschirmbewegung beim Kampf um die Direktwahl des
Regierungschefs noch eine herbe Niederlage einstecken.
Aber jetzt haben sehr viele Hongkonger das Gefühl, unbedingt ihre Autonomie
verteidigen zu müssen, weil es die letzte Chance sein könnte. Junge
Hongkonger scheinen sogar bereit, notfalls dafür einen hohen Preis zu
zahlen. Chinas autoritäre Führung hat damit jetzt ein echtes Problem.
Carrie Lam mag sich nach außen hin als alleinverantwortlich und autonom
darstellen. Das nimmt ihr in Hongkong niemand ab: Lam ist Regierungschefin
von Pekings Gnaden. Jeden Schritt hat sie abgestimmt.
Das Auslieferungsgesetz dürfte jetzt gestorben sein, auch wenn Lam es nicht
offiziell beerdigt. Sie ist nur noch gesichtswahrend im Amt. In Peking
dürfte man sich jetzt Gedanken machen, wie man die renitente Stadt künftig
stärker kontrollieren kann. Peking dürfte weiter „ein Land“ zuungunsten v…
„zwei Systeme“ zu stärken versuchen.
Autonomie ist nicht für 50 Jahre statisch. Beide Seiten hatten gehofft, die
andere würde sich der eigenen annähern. Doch viele Hongkonger wurden von
China eher abgeschreckt, erst 1989 mit dem Tiananmen-Massaker und jetzt
seit der neuen autoritären Phase unter Xi Jinping. Der Machtkonflikt wird
sich deshalb zuspitzen. Zum einen, weil Peking jetzt erst recht nicht
nachgeben will. Zum anderen, weil Hongkongs Bevölkerung gespürt hat, wie
mächtig sie ist, wenn sie zusammensteht.
20 Jun 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Sven Hansen
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