# taz.de -- Cleane Drogenabhängige hilft Süchtigen: Sie kennt die Probleme | |
> Anette Hofmann war siebzehn Jahre lang heroinabhängig. Heute ist sie | |
> clean und hilft anderen als Therapeutin, mit den Drogen klarzukommen. | |
Bild: Dass der Großteil ihres Lebens von traumatischen Erlebnissen geprägt wa… | |
Manche in der Szene nennen sie „Goa-Mama“. Schnell ist klar, wieso. Es ist | |
mitten in der Nacht, Hinterzimmer einer Party, auf der vor allem Psytrance, | |
also sphärische elektronische Musik, gespielt wird. Ein ruhigerer Raum | |
zwar, aber von einem anderem Zimmer im Club dringt der Bass mit 160 | |
Schlägen pro Minute rüber. | |
Anette Hofmann steht an einem Drogen-Infostand. Mit ihren 54 Jahren ist sie | |
mit Abstand die Älteste hier – und die Nüchternste ist sie wohl auch. Sie | |
steht also da, lächelt, beantwortet Fragen, verteilt Materialien zum | |
möglichst sicheren Konsum von Drogen und strahlt eine Ruhe aus, die es in | |
dieser lauten Umgebung eigentlich nicht geben kann. | |
Dass der Großteil ihres Lebens alles andere als ruhig war, dass es geprägt | |
war von traumatischen Erlebnissen und schweren Krankheiten – all das würde | |
man nicht vermuten. Genauso wenig wie ihre jahrelange Heroinabhängigkeit. | |
Ein anderer Tag, ein anderer Ort, ein anderes Jahr. Hofmann sitzt auf einem | |
Sessel in ihrem schmalen Wohnzimmer in Berlin. Der Raum hat hippieskes | |
Flair: Tisch und Sessel sind aus Rattan, an der Wand hängt ein großes Tuch | |
mit lila-orangenem Mandala, und Buddha-Figuren stehen herum. Einzig der | |
Geruch von Räucherstäbchen fehlt, stattdessen liegt Zigarettenrauch in der | |
Luft. | |
Der stammt von Hofmann, die in einer weiten, orangefarbenen Pluderhose und | |
einem schwarzen Shirt auf dem Sessel sitzt und an ihrer Zigarette zieht. | |
„Klar“, sagt Hofmann auf die Frage, ob das denn gehe, rauchen, wenn man | |
clean sei. „Ich bin eine der wenigen Therapeutinnen, die zu ihrer Sucht | |
stehen.“ Und dann lacht sie, sehr herzlich, die Augen strahlen, den Kopf | |
kippt sie leicht zurück, sodass ihre dunkelbraunen langen Haare nach hinten | |
fallen. | |
## Wer zu ihr kommt, muss nicht clean sein | |
Anette Hofmann arbeitet als Sucht- und Traumatherapeutin. Selbstständig, | |
hier in ihrem Wohnzimmer, und angestellt bei einem Berliner Träger für | |
akzeptierende Drogenhilfe. Akzeptierend heißt: Wer zu ihr kommt, muss nicht | |
clean sein, um Hilfe zu bekommen. Und Hilfe bedeutet auch nicht | |
zwangsläufig, einen Entzug zu erwirken, sondern die Lebenssituation des | |
Menschen zu verbessern. Ob mit oder ohne Drogen. | |
Wie es ist, das Leben mit einer Drogensucht, das weiß Hofmann nur zu gut. | |
Sie hat erlebt, wie aus dem anfänglich spaßigen Konsum ein Verlangen wird, | |
durch das sich alles um das Beschaffen neuen Stoffs drehte. Sie weiß, wie | |
elend man sich in dem eigenen Körper fühlt, wenn die Wirkung nachlässt, der | |
nächste Schuss aber nicht greifbar ist. Sie kennt den Suchtdruck, der einen | |
lügen, stehlen, betrügen lässt. Und kennt das Gefühl, wenn Freund*innen | |
sterben, die sich eine Überdosis gesetzt haben. | |
„In gewisser Weise war ich ziemlich selbstzerstörerisch unterwegs“, sagt | |
Hofmann. Mehrfach hat sie versucht, mit dem Heroin aufzuhören. „Aber da war | |
immer diese dunkle Seite in mir, die sich wegmachen wollte. Ich fühlte mich | |
nur in Extremzuständen.“ „Wegmachen“, damit meint sie, sich betäuben zu | |
wollen. Hofmann hat so viel überlebt, sagt sie, was tödlich hätte enden | |
können, dass man es nur ein Wunder nennen kann, dass sie heute munter | |
lachend in ihrem bunten Wohnzimmer sitzt. | |
Da sind einige berauschte Autounfälle, einer davon so schwer, dass sie sich | |
drei Rippen brach, ihre Lunge riss und Blut hineinlief. Da sind die | |
Hepatitis-C-Erkrankung und einige Injektionen, die fast eine Überdosis | |
waren. Und da ist die vermeintliche drogeninduzierte Schizophrenie, wegen | |
der Hofmann erst in die geschlossene Psychiatrie kam. | |
## „Es war jeder Tag geil“ | |
Doch als sie ins Wachkoma fiel, wurde die richtige Diagnose gestellt: | |
Enzephalitis, eine durch einen Herpesvirus ausgelöste Gehirnentzündung. Sie | |
erwachte aus dem Koma, doch musste alles neu lernen. Sprechen, laufen – ein | |
Jahr dauerte das. Mit dem Heroin fing sie trotz allem immer wieder an. | |
Ungefähr 17 Jahre ging das so. | |
Wenn sie von all diesen krassen Sachen erzählt, klingt sie, als würde sie | |
von harmlosen Streichen an Lehrer*innen in der Schulzeit sprechen. Mal | |
grinst sie, mal lacht sie laut darüber. Ob sie nichts bereut? „Es war jeder | |
Tag geil“, antwortet sie. „Ob ich mit ’nem total irren Typen zusammen war | |
oder mir eine Überdosis gesetzt hab oder meiner Oma mit dem Auto | |
davongefahren bin. So im Nachhinein muss ich darüber schmunzeln.“ | |
Auf einmal senken sich ihre Wangen, ihr Blick wird ernst. „Doch, eine Sache | |
bereue ich“, sagt sie. „Dass ich meinem Opa, der jahrelang schwer in seinem | |
Kramerladen gearbeitet hat, 100 Mark aus dem Portemonnaie geklaut habe und | |
Zeug dafür gekauft hab. Da denke ich jetzt, das hätte es nicht gebraucht. | |
Aber die Sucht hatte mich damals genauso im Griff wie jeden Junkie.“ | |
Mit allen anderen Dingen hat sie ihren Frieden geschlossen. „Geil“ sagt sie | |
öfter, um Erlebnisse zu beschreiben: „War schon ’ne geile Zeit, hey.“ | |
Meistens hört man ihrem Dialekt an, dass sie im Berchtesgadener Land | |
aufgewachsen ist: „War schon a Wahnsinns-Zeit“. Auch „A Wahnsinn“ sagt … | |
oft. Was passt. Denn ihre Biografie zeigt, wie nah Wahnsinn und Sinn | |
beieinanderliegen, dass das eine wortwörtlich Teil des anderen ist. | |
„Mittlerweile denke ich schon, das hat alles einen Sinn gehabt. Es war | |
alles für was gut.“ | |
Denn es gibt nicht nur die Anette Hofmann, die sich selbst zerstören will, | |
die das Leben einer – so nennt sie es selbst – Junkiebraut führte. Sondern | |
auch die Anette Hofmann, die das Ziel hat, anderen Menschen zu helfen, die | |
gleichzeitig den starken Willen hat, das auch umzusetzen. Immer wieder riss | |
sie sich zusammen, schaffte trotz der schweren Sucht die Ausbildung zur | |
Krankenschwester. | |
„Ich weiß noch, wie ich gelernt habe und mir immer kleine Lines Heroin | |
gelegt und gezogen habe, damit die Entzugserscheinungen nicht so groß | |
wurden und ich mich konzentrieren konnte“, erzählt sie. Inzwischen | |
studierte sie Sozialpädagogik an der FU Berlin, machte verschiedenste | |
Ausbildungen für ihre Arbeit als Sucht- und Traumatherapeutin. | |
Trauma – das ist für Hofmann ein entscheidender Begriff. Lange hat es | |
gedauert, bis sie verstanden hat, dass hinter ihrer Sucht eine | |
Traumatisierung steht. „Klassischer Fall von Selbstmedikation“, sagt sie. | |
„Ich wusste nicht anders mit meinem Schmerz umzugehen.“ Ohne das Heroin, | |
sagt Hofmann, hätte sie sich wahrscheinlich das Leben genommen. | |
In vielen Therapiesitzungen hat sie die Verletzungen ausfindig gemacht: Ihr | |
Vater war alkoholkrank und jähzornig. Oft schlug er sie, ohne dass sie den | |
Grund dafür erkannte. Als sie sieben Jahre alt war, trennten sich ihre | |
Eltern. Doch auch der neue Freund ihrer Mutter hatte ein Alkoholproblem. | |
Zudem erlebte sie mehrfach sexualisierte Gewalt. „Trauma und Sucht liegen | |
oft nah beieinander“, sagt sie. | |
## „Dieses Buch war mein Auftrag“ | |
Mittlerweile ist sie seit 18 Jahren clean. Düstere Phasen hat sie trotzdem | |
noch. Umzüge sind zum Beispiel ein Trigger. Vor einigen Wochen stand einer | |
an. „Das hat mich einige Wochen in ein großes schwarzes Loch fallen | |
lassen.“ Mittlerweile hat sie aber gelernt, wie sie damit umgehen kann: | |
viel mit ihrem Hund Luna in der Natur spazieren gehen, gut essen, bewusst | |
atmen, jeden Teil ihres Körpers bewusst wahrnehmen. „Das bringt mich alles | |
wieder runter, wenn ich angespannt bin“, sagt sie. „Da brauche ich kein | |
Heroin mehr zu.“ | |
Und noch etwas hat ihr geholfen: ihre Autobiografie zu schreiben, „Schrei, | |
wenn du verstehst“. „Dieses Buch war mein Auftrag“, sagt sie. Sie wünscht | |
sich, dass es Menschen in ähnlichen Situationen hilft. Jetzt, wo das Buch | |
erschienen ist, hat sie schon das nächste Ziel: Wenn Hofmann 60 ist, will | |
sie zu der TV-Castingshow „The Voice Senior“. „Einmal auf dieser | |
Riesenbühne stehen und was singen. Das wäre so geil.“ | |
17 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Maike Brülls | |
## TAGS | |
Heroin | |
Sucht | |
Drogen | |
Drogenhilfe | |
Serie | |
Drogensucht | |
Drogen | |
Drogenpolitik | |
St. Pauli | |
Drogenkonsum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Substitutionsambulanz vor dem Aus: Drogenhilfe sucht neuen Vermieter | |
Die Substitutionsambulanz in Kreuzberg verliert ihre Räume – und ruft mit | |
einer Kundgebung um Hilfe. Ein erstes Angebot gibt es wohl bereits. | |
Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“: Im Hier und Gestern | |
Das Remake bringt den Mythos „Christiane F.“ zurück. Die Amazon-Serie | |
wabert erfolgreich zwischen Neuinterpretation und Werktreue. | |
ARD-Film „Die beste aller Welten“: Weder Sozialstudie noch Problemfilm | |
Adrian Goigingers Debüt über seine Kindheit mit der Sucht ist wahrhaftig | |
und zurückhaltend. Nichts wird dramatisiert oder beschönigt. | |
Aktueller Weltdrogenbericht der UN: Weltweit 585.000 Drogentote | |
Allein in den USA sind laut UN-Drogenbericht in einem Jahr rund 70.000 | |
Menschen an einer Überdosis gestorben. Kokain gibt es so viel wie nie | |
zuvor. | |
Gesundheitspolitik in Berlin: Drogen ab zum Test | |
Drug-Checking-Projekt soll laut Senat noch in diesem Jahr starten. Eine | |
„Bietergemeinschaft aus der Suchthilfe“ interessiere sich für die | |
Umsetzung. | |
Drogenberaterin über Handel auf St. Pauli: „Sie suchen sich andere Orte“ | |
Wenn Drogenhändler und Konsument*innen vertrieben werden, ziehen sie eben | |
weiter. Ein Gespräch über die Drogenszene und die Polizeipräsenz auf St. | |
Pauli. | |
Öffnungszeiten für den Drogenkonsum: Feierabend für den Druckraum | |
In Hannover werden zunehmend Drogen in Parkhäusern konsumiert. Die | |
Drogenhilfe schließt um 19 Uhr. Der Stadtrat entscheidet über längere | |
Öffnungszeiten. |