# taz.de -- 25 Jahre nach Völkermord in Ruanda: Herr Zozo lächelt wieder | |
> Ruanda ist heute nicht mehr das Land, das es vor dem Völkermord war. Aber | |
> es bleibt ein Ort der sehr straffen sozialen Kontrolle. | |
Bild: In der Gedenkstätte in Kigali hängen Fotos von während des Genozids Er… | |
Es war im September 1994. Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda war gerade | |
ein paar Monate her, die Rebellen der „Ruandischen Patriotischen Front“ | |
(RPF), die das Völkermordregime verjagten, waren erst vor zwei Monaten in | |
Kigali einmarschiert. Ruandas Hauptstadt bot ein Bild der Trauer und der | |
Verwüstung. | |
In den Amtsgebäuden war kaum eine Fensterscheibe noch intakt. Strom gab es | |
nicht. Ab und zu war irgendwo Gewehrfeuer zu hören, tags wie nachts: man | |
erschoss die Straßenhunde, die gefährlich geworden waren, nachdem sie | |
monatelang von Menschenfleisch gelebt hatten. Fauliger Leichengestank hing | |
über den Wohnvierteln, aufgestiegen aus den Latrinen, wo man bei den | |
Massakern die Toten hineingeworfen hatte. An der Einfahrt in die Stadt | |
durchsuchten RPF-Soldaten die wenigen Autos nach Waffen. | |
1.074.017 Tote des Völkermordes ab April 1994 zählte später Ruandas neue | |
Regierung, 934.218 davon namentlich identifiziert. Über zwei Millionen | |
Menschen waren im Juli 1994 als Flüchtlinge in Nachbarländer gezogen, | |
mitgenommen von den Tätern des Völkermordes und der einstigen Regierung und | |
Armee auf der Flucht vor der RPF. Sie sammelten sich in unruhigen | |
Flüchtlingslagern direkt an der Grenze. Im Land selbst stand im September | |
1994 das Schwerste noch bevor: die unsichtbaren Wunden der Witwen und | |
Waisen zu behandeln. | |
25 Jahre später ist Kigali nicht mehr wiederzuerkennen. Aus einer | |
schläfrigen Provinzstadt ist eine wuselige Hauptstadt geworden, voller | |
Hochhäuser und ultramoderner Malls. Aus dem Hotel „Diplomates“, 1994 | |
Amtssitz der Völkermordregierung, bevor sie floh, ist der | |
Fünf-Sterne-Palast „Serena“ geworden, unweit davon erhebt sich das | |
nagelneue „Marriott“ mit einer Lobby von der Größe einer Flughafenhalle. | |
Das ultraneue Kigali Convention Centre mit dem Radisson Blu im | |
Regierungsviertel dient als internationaler Konferenzort. | |
Im Viertel Kiyovu, „in der Stadt“, wie man früher sagte, schwimmen | |
Touristen im Pool des berühmten Hotels Mille Collines, einst das wichtigste | |
der Stadt und heute fast heimelig im Vergleich zu den neu entstandenen | |
Luxuspalästen, und wissen nicht, dass der Pool 1994 als Trinkwasserspeicher | |
für vor den Hutu-Milizen geflohene Tutsi diente. | |
## Spuren der Vergangenheit so gut wie unsichtbar | |
Der einstige Chefpage des Mille Collines, Monsieur Zozo nannte er sich und | |
galt als „Botschafter“ des Hotels, hat ein neues Leben gefunden. Zwei Jahre | |
vor dem Völkermord schlich er sich verängstigt ins Hotelzimmer und | |
berichtete mit gesenkter Stimme und der Furcht, entdeckt zu werden, von der | |
Angst und dem Terror draußen, der bereits zu spüren war. | |
Es war die Zeit, als die Todesschwadronen des Schwagers von Präsident | |
Juvénal Habyarimana und Präfekts der Provinz Ruhengeri, Protais | |
Zigiranyirazo, Schrecken verbreiteten und alle ihn nur „Monsieur Z“ | |
nannten, weil schon sein Name Angst machte. Im Völkermord verlor Zozo | |
schließĺich seine Ehefrau. Heute, immer noch tadellos in Anzug und | |
Krawatte, strahlt er über das späte Wiedersehen über das ganze Gesicht und | |
erzählt: Er ist jetzt im Ruhestand, hat eine neue Familie und eine eigene | |
Reiseagentur. „Zozo Travels“. | |
Es ist eine neue Ära, und die Spuren der Vergangenheit sind so gut wie | |
unsichtbar. Früher gehörten die Kirchen zu Kigalis markantesten Gebäuden. | |
Heute sind es die Luxushotels. Die berüchtigte katholische Kirche | |
Saint-Famille im Stadtzentrum, einst ein imposanter roter Ziegelbau, | |
erscheint heute im Vergleich fast mickrig. | |
Man findet in Kigali schon noch ein paar Spuren von 1994, ganz abgesehen | |
von den Völkermordgedenkstätten. Der Militärstützpunkt Camp Kigali zeugt | |
mit seinen Einschusslöchern immer noch vom Mord an zehn belgischen | |
UN-Soldaten zu Beginn der Massaker, was zum weitgehenden Abzug der UNO aus | |
Ruanda mitten im Völkermord führte. Aber das Parlamentsgebäude, einst von | |
Geschossen zerstört und lange ein sichtbares Mahnmal an der Straße zum | |
Flughafen, ist hinter modernen Gebäuden verschwunden. | |
Kigali ist gewachsen, von 300.000 auf 745.000 Einwohner, dominiert vom | |
neuen bunkerartigen Gelände des Verteidigungsministeriums auf einem Hügel. | |
Kilometerweit erstrecken sich neue Wohnviertel hinaus über die Hügel, eine | |
Folge von Landflucht und der Massenrückkehr der Flüchtlinge – von den einst | |
zwei Millionen Hutu-Flüchtlingen von 1994 sind nur noch 100.000 außerhalb | |
des Landes. Neue Wohn- und Bürogebäude und Industriegelände wurden gebaut, | |
viele der ehemaligen Bewohner mit ihren Lehmhütten mit Wellblechdächern an | |
den Stadtrand verdrängt. | |
Die menschliche Landschaft ist nicht mehr dieselbe. Früher, bis 1994, | |
sprach man von Hutu, Tutsi und Twa als ethnischen Identitäten, | |
festgeschrieben auf den Personalausweisen, was die [1][systematische Jagd | |
auf Tutsi während des Völkermordes] einfach machte. Unter der neuen | |
RPF-Regierung wurden diese Begrifflichkeiten amtlich abgeschafft. | |
Umgangssprachlich hielten neue Kategorien Einzug: „Sopecya“, die | |
Tutsi-Überlebenden; „Dubai“, die aus der Diaspora zurückgekehrten | |
Tutsi-Exilanten; „Tingi Tingi“, die aus dem Kongo zurückkehrenden | |
Hutu-Flüchtlinge. Auch das ist längst obsolet. Fast 60 Prozent der heutigen | |
Bevölkerung Ruandas wurde überhaupt erst nach dem Völkermord geboren. | |
Sich als Hutu oder Tutsi zu bezeichnen, das wird unter den Jungen nicht | |
gern gesehen. Es hat gedauert – erst seit 2010 verzeichnet die Polizei | |
einen signifikanten Rückgang der selbst unter Schulkindern zuvor noch | |
häufigen Angriffe von Hutu auf Tutsi-Überlebende –, aber es ist heute die | |
Realität. | |
## Zahl der Völkermordhäftlinge schrumpft | |
Weder die Gebäude noch die Menschen machen es in Kigali leicht, sich | |
zurechtzufinden. Was wurde aus Savimbi, dem Taxifahrer vom Mille Collines, | |
der wegen seines Bartes mit dem Namen des damaligen angolanischen | |
Rebellenführers angeredet wurde? Liegt er in einem Massengrab? Ist er in | |
Haft? Lebt er im Kongo? Keiner weiß es. Auch nicht sein alter Kollege | |
Silas, einer der Hutu-Flüchtlinge von 1994 und längst zurückgekehrt. | |
Silas hat Mühe, sich zwischen den vielen neuen Hotels von Kigali | |
zurechtzufinden. Die Alten fahren Taxi, die Jungen fahren eher | |
Motorradtaxis und haben ihre eigenen Orientierungspunkte, wie die Zentrale | |
der Telefongesellschaft MTN. Für sie ist der Völkermord, bei dem es noch | |
gar keine Handys in Ruanda gab, heute schon alte Vorgeschichte. Sie joggen | |
auf Straßen, wo 1994 Machete und Sturmgewehr herrschten und man seines | |
Lebens nicht mehr sicher sein konnte. | |
In diesem neuen Kigali sind auch viele Dinge verschwunden, die das | |
Stadtbild noch jahrelang nach dem Völkermord prägten. Die „Maibobo“ | |
(Straßenkinder), die sich wie Rudel an den Ecken sammelten, nachts in den | |
menschenleeren Geschäftsstraßen auf Pappkartons schliefen, Klebstoff | |
schnüffelten und vom Stehlen überlebten, sind seit Jahren nicht mehr zu | |
sehen. | |
Ebenso wenig die Häftlinge in flamingofarbenen Uniformen, wegen Beteiligung | |
am Völkermord in Haft und immer wieder gruppenweise zu gemeinnütziger | |
Arbeit vor allem auf dem Bau eingeteilt. Die Zahl der Völkermordhäftlinge | |
schrumpft jedes Jahr. | |
Das berühmte Zentralgefängnis von Kigali mit der Jahreszahl seiner | |
Entstehung unter den belgischen Herrschaft „1930“ über der Pforte, wird nur | |
noch als Museum genutzt, ebenso Habyarimanas alter Präsidentenpalast, wo | |
Touristen Fotos vom Wrack seines Flugzeuges machen können, mit dem er am | |
Abend des 6. April 1994 beim Anflug auf Kigali abgeschossen wurde – der | |
Startschuss zum Völkermord. | |
Das sind die wenigen Erinnerungen an eine Zeit, an die niemand gern | |
zurückdenkt: die Ära des Habyarimana-Einparteienstaates bis 1990, als | |
Kritik am Regime verboten war und höchstens im leisen Zwiegespräch geäußert | |
wurde, da überall im Rahmen des Systems „Nyumba Kumi“ (Zehn Häuser) jemand | |
sämtliche Aktivitäten beobachtete und der Staatssicherheit Bericht | |
erstattete. | |
Und heute? Ruanda verändert sich rasant, seine Wirtschaft wächst, das Land | |
gilt als Stabilitätsanker in der Region. Und für viele Ruander ist die | |
Zeit gekommen, wo RPF-Führer und Staatschef Paul Kagame die Zügel durchaus | |
etwas lockern könnte, ein wenig mehr Meinungsvielfalt zulassen sollte. Aber | |
Kritik an der harten Hand des Regimes wird nur geäußert, wenn kein Dritter | |
zuhört. Nur wenige trauen sich, öffentlich offen zu reden, aus Angst vor | |
möglichen Konsequenzen. | |
[2][Ruanda ist heute nicht mehr das Land von vor 25 Jahren], aber es bleibt | |
ein Land der sehr straffen sozialen Kontrolle – auch, weil Redefreiheit | |
Freiheit für die Dämonen der Vergangenheit mit sich bringen könnte. | |
Aus dem Französischen übersetzt von Dominic Johnson. | |
9 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
François Misser | |
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