| # taz.de -- Kolumne Nachbarn: Das Haus meines Großvaters | |
| > Plötzlich befinde ich mich in Damaskus, mit einem Haus auf meinem | |
| > gekrümmten Rücken. Durch das Fenster sehe ich den Landwehrkanal. | |
| Bild: „Vergeblich suchte ich nach einer Möglichkeit, das Haus abzustellen.“ | |
| Mir kam das Haus eher klein vor: Es bestand aus drei Zimmern, mit | |
| Außenwänden aus weißem Stein; hätte es keine Dachziegel gehabt, hätte ich | |
| gesagt, es ist das Haus meines Großvaters in den Bergen von Latakia, in dem | |
| ich aufwuchs und meine Kindheit verbrachte. | |
| Plötzlich rückten die Ziegel in den Hintergrund und ich dachte, es könnte | |
| tatsächlich das Haus meines Großvaters sein. Ich ging auf das Haus zu und | |
| breitete meine Arme aus; doch als ich die Wände umarmen wollte, wurde das | |
| Haus immer kleiner und kleiner, bis es ganz in meine Arme passte. | |
| Geschwind und mühelos hob ich es mit bloßen Händen hoch, als wäre es mein | |
| kleines Kind. Unter dem Haus erblickte ich einen unendlichen Tunnel, durch | |
| den ein starker Wind blies. Ich sagte mir: Auf der anderen Seite des | |
| Tunnels muss es doch eine Öffnung zur anderen Welt geben. Ich dachte an das | |
| [1][Foto von dem schwarzen Loch]. Ja, das ist das, folgerte ich. Da | |
| fürchtete ich, das Haus würde, wenn ich es wieder hinstellte, von diesem | |
| schwarzen Loch verschluckt. | |
| Unvermittelt erschien eine fremde Person, die mich erstaunt anblickte. Ich | |
| schrie sie an: „Starr mich nicht so an. Hilf mir einfach, aber pass auf, | |
| dass das Haus nicht ins Loch fällt.“ | |
| ## Trümmer zu beiden Seiten des Weges | |
| Der Fremde kam tatsächlich zu mir und ich gab ihm das Haus, damit er es mir | |
| auf den Rücken laden konnte. Er tat es und verschwand genauso plötzlich, | |
| wie er erschienen war. | |
| Ich hatte das Haus gerade auf meinen Rücken geladen und wollte losgehen, | |
| als das Haus begann, immer größer und größer zu werden, so dass es meine | |
| Wirbelsäule um neunzig Grad krümmte. | |
| Plötzlich befand ich mich mitten in Damaskus, mit dem Haus auf meinem | |
| gekrümmten Rücken und bestieg den Berg Qasiyun. Dabei lief ich Wege, die | |
| mir vertraut, aber irgendwie auch unheimlich waren. Zu beiden Seiten der | |
| Wege sah ich nur die Trümmer zerstörter Häuser. [2][Wo sind die Menschen | |
| geblieben? Wohin sind sie gegangen?] Warum haben sie ihre Häuser nicht | |
| mitgenommen? Diese und viele andere Fragen blieben in der betretenen Stille | |
| unbeantwortet. | |
| Ich hörte nur meine Schritte und meine Atemzüge unter der schweren Last auf | |
| meinem Rücken und spürte starke Schmerzen in meinem Zwerchfell. Vergeblich | |
| suchte ich nach einer Möglichkeit, das Haus abzustellen. | |
| Ich stieg weiter den Berg hoch. Oben angekommen stellte ich das Haus ab und | |
| ging hinein. | |
| Ich begann aufzuräumen, und als ich zum Lüften das Fenster öffnete, sah ich | |
| auf einmal den Landwehrkanal. | |
| Es ist Montagmorgen in Berlin. Mein Lebenspartner und ich suchen eine | |
| Wohnung und haben heute einen Besichtigungstermin. Wir suchen schon seit | |
| fast einem Jahr; ich weiß nicht, wie viele Absagen wir bis heute erhalten | |
| haben. Ich weiß auch nicht, wie viele Albträume noch meinen Schlaf | |
| heimsuchen werden, wie oft ich noch das Haus meines Großvaters auf meinem | |
| Rücken tragen und mit dieser Last den Berg Qasiyun erklimmen muss, wie | |
| viele leer gefegte Straßen und Trümmer ich noch erblicken muss und wie | |
| viele Fragen noch unbeantwortet bleiben werden, bis wir endlich eine | |
| bescheidene Mietwohnung finden. | |
| Übersetzung: Mustafa Al-Slaiman | |
| 27 May 2019 | |
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