| # taz.de -- Bundesligaaufstieg von Union Berlin: Ostklub im Oberhaus | |
| > Union Berlin erwehrt sich der Angriffe des VfB Stuttgart im | |
| > Relegations-Rückspiel und steigt in die erste Liga auf. Köpenick | |
| > versinkt im Wahnsinn. | |
| Bild: Im Stadion an der alten Försterei wurde am Montag gefeiert | |
| Berlin taz | Die letzte S-Bahn von Köpenick in die Stadt – wie der | |
| Köpenicker den Berliner Rest nennt – fuhr um 0.40 Uhr. Warum sollte sie | |
| auch später fahren? Die Bahn ist kein Wettspielbetrieb, wo sie mit dem | |
| Aufstieg des 1. FC Union rechneten. Da geht’s ihr wie so vielen außerhalb | |
| von Köpenick, auch Fußballexperten. Weitergefeiert wurde trotzdem – von | |
| Tausenden. An der Union-Tanke zum Beispiel, dem Bierbudentreff gleich neben | |
| dem S-Bahnhof, von wo aus die Gesänge noch lange durch die Nacht hallten: | |
| „Erste Liga, wir kommen!“ Die Blicke der trunkenen Fans sanken da langsam | |
| ins Trübe, die Gedanken ebenso. | |
| Logisch, denn bei klarem Verstand war nicht zu begreifen, was da ein paar | |
| Stunden zuvor passiert war. Der 1. FC Union hat den Aufstieg in die erste | |
| Bundesliga geschafft. Als 56. Verein insgesamt, einer unter vielen also. | |
| Aber das erste Mal in seiner eigenen Geschichte, was vielen Unionern so | |
| irreal schien, dass sie es oft nur mit dem Mauerfallwort quittieren | |
| konnten: Wahnsinn! Immer wieder fiel es an diesem Abend im tiefen Osten | |
| Berlins, weil es das Unfassbare auf den Punkt brachte. | |
| Tatsächlich hatte Union mit einem 0:0 das 2:2 aus dem Hinspiel in Stuttgart | |
| zum Gesamtsieg in der Relegation verbunden, was ergebnistechnisch nicht so | |
| spektakulär klingt, in Wahrheit aber ein kleines Wunder ist – vor allem für | |
| die Köpenicker selbst. Vor Spielbeginn, lange bevor Nina Hagens Unionhymne | |
| im Stadion An der Alten Försterei erklang, flirrte immer wieder diese | |
| uniontypische Mischung aus Euphorie und Skepsis durch die Luft. „Mich kann | |
| nichts erschüttern“, sagte einer, der schon 1984 bei den legendären | |
| verlorenen DDR-Oberliga-Relegationsspielen von Union gegen Chemie Leipzig | |
| dabei war und bei diversen Nichtaufstiegsdramen nach der Wende. Natürlich | |
| konnte er in dieses Spiel nicht mit jener Unbedarftheit gehen wie die nur | |
| von Zweitligaerfahrungen geprägten jungen Fans. „Klar bin ich kribbelig“, | |
| so Thomas, „aber wir werden sehen.“ | |
| Die unglaubliche Spannung, die über dem weiten Stadionareal lag, entlud | |
| sich das erste Mal zweieinhalb Stunden vor Anpfiff, als der Mannschaftsbus | |
| der Eisernen vorfuhr und von den Ultras mit einem Feuerwerk begrüßt wurde. | |
| Ob das die Union-Spieler eher beflügeln oder unter noch größeren | |
| Erwartungsdruck setzen würde? Gegen Mitternacht wusste man: Die | |
| Pyrobegrüßung war der Beginn einer einmaligen Show, die Köpenick noch nicht | |
| gesehen hatte. | |
| Die 22.000 Zuschauer, von denen einige auf dem Schwarzmarkt Tickets für | |
| über 400 Euro gekauft hatten, verwandelten die Alte Försterei in eine | |
| rot-weiße, geschlossene Anstalt, die auf die Stuttgarter Fans einfach nur | |
| irre wirken musste. Clips auf der Videowand zeigten Bilder legendärer | |
| Union-Spiele der jüngeren Vergangenheit wie das verlorene DFB-Pokalfinale | |
| 2001 oder das Siegtor im Derby gegen Hertha BSC. Selbst die Bandenwerbung | |
| war mit subversivem Inhalt bestückt: „Im Unterhaus spielen, im Penthouse | |
| wohnen – Eigentumswohnungen in Stuttgart“. | |
| Dazu der Gesang aus 20.000 Kehlen: „Die Zeit ist nun gekommen / ihr werdet | |
| alle sehn / der 1. FC Union wird nun endlich oben stehn.“ Der Weg dahin auf | |
| dem Platz war mehr Kampf als Spiel, die Union-Mannschaft schien nur auf den | |
| hinteren Halbsatz ihres Trainers Urs Fischer hören zu wollen, von wegen: | |
| „Die Ausgangslage von 0:0 ist gut, aber wir wollen gewinnen und selber Tore | |
| schießen, denn ein Tor bekommst du meistens.“ | |
| Bereits in der neunten Minute war es soweit, ein Freistoß der Stuttgarter | |
| landete im Tor. Er wurde jedoch wegen Abseits (zu Recht) aberkannt – nach | |
| Videobeweis, dem ersten in Unions Vereinsgeschichte. Sollte das historische | |
| Glück etwa tatsächlich mal auf Seiten der Unioner sein? Wäre es nicht so | |
| bitter für den Schwabenblock, er hätte sich an der Ironie erfreuen können, | |
| die sein eigenes Fantransparent verbreitete: „Videobeweis abschaffen!“. | |
| Er kam dann tatsächlich nicht mehr zum Einsatz, was nicht verhinderte, dass | |
| das Spiel in der zweiten Halbzeit in fast epische Dramatik mündete. Die | |
| Berliner kämpften und spielten nun auch, hatten zwei Pfostenschüsse, und | |
| stemmten sich einem wohl tödlichen Gegentor der zunehmend verzweifelter | |
| wirkenden Stuttgarter entgegen. Nach dem Schlusspfiff der Zusammenbruch, | |
| hier aus Enttäuschung, da vor Glück. Der Platz ein Wimmelbild der Freude, | |
| wie es hierzulande vielleicht nur noch der Fußball malen kann. Bierduschen, | |
| Selfieorgien, fröhlich sein und singen – das übliche Fußballpartytum. | |
| Im Fernsehinterview sagt ein fassungsloser Dirk Zingler, der 2004 in der | |
| vierten Liga Präsident des Vereins wurde: „Die Menschen hier haben es | |
| einfach verdient, deshalb bin ich so glücklich.“ Das erste Mal seit 1977 | |
| gibt es nun zwei Berliner Klubs in der Bundesliga. Die kann sich freuen auf | |
| diesen wahrlich nicht normalen Verein. Und auf dessen Schweizer Trainer, | |
| der auch in der größten Biertrunkenheit ringsum seine Trockenheit behält | |
| und auf die Traditionsfrage „Wie fühlen Sie sich?“ antwortet: „Einfach | |
| geil. Tut mir leid für die Wortwahl.“ | |
| 28 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Gunnar Leue | |
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