# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Lasst euch ein paar Eier wachsen | |
> Relotius, Strache und Kurz: Es war mal wieder Zeit zu Jammern und zu | |
> Greinen und angesichts der eigenen Dummheit mit dem Finger auf andere zu | |
> zeigen. | |
Bild: Geh bitte, I hob nur g'redt… | |
Ach, es war schon wieder eine Woche des Jammers. Um von hinten anzufangen: | |
[1][Judith Kerr ist tot]. Ja, sie war alt, 95 Jahre, und dem heiteren | |
Grundton nach zu schließen, der ihre Interviews durchzieht, waren es – | |
trotz allem, trotz Exils und des Selbstmords beider Eltern – nicht nur | |
schlechte 95 Jahre. | |
Traurig bin ich trotzdem. Kaum ein Buch, drei sind es eigentlich, hat mich | |
so geprägt wie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und die beiden | |
Folgeromane „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen�… | |
Weil sie mir die deutsche Geschichte greifbar und (nach-)fühlbar gemacht | |
haben und ich alles, was ich später, als ich älter wurde, über den | |
Nationalsozialismus, über Flucht, Vertreibung und Vernichtung gelesen habe, | |
mit diesem Mit-Fühlen ergänzen konnte. Ja, musste. Es wurde ein Anker im | |
Angesicht des Unbegreifbaren. Noch heute zitieren Freundinnen und ich das | |
„Rosa Kaninchen“, es ist ein Leuchtturm in unseren eigenen Geschichten. | |
Umso mehr haben mich die zwar beflissenen und freundlichen, aber irgendwie | |
blutarmen Nachrufe in vielen deutschen Medien befremdet. Es wird meist viel | |
zitiert und nacherzählt, aber eigene Bezüge zu Kerr, gar Berührtheit, habe | |
ich nicht entdeckt. Stattdessen tänzeln die meisten ziemlich hasenfüßig | |
durch ein paar steif formulierte Sätze. | |
Das ist natürlich kein journalistisches Verbrechen, man findet nicht zu | |
allem denselben Zugang. Vielleicht ist es mir überhaupt nur deshalb | |
aufgefallen, weil man ja immer ein bisschen davon ausgeht, dass alle | |
anderen die eigenen Helden genau so lieben wie man selbst. Genug gejammert, | |
das hätte Judith Kerr nämlich auch nicht getan. | |
Andere sind hingegen ziemlich gut im Jammern, das hat diese Woche mal | |
wieder gezeigt. Das grellste Greinen kam [2][natürlich aus Österreich], von | |
der FPÖ. Statt sich nach der Doppel-und Dreifach-Schmach – der eigenen | |
Korruptheit überführt werden, durch das Tapsen in eine lächerliche Falle | |
und das auch noch mit denkbar schlechter, weil bierseliger Haltungsnote – | |
für immer murmeltiergleich in eine Alpenhöhle zurückzuziehen, inszeniert | |
man sich hübsch als Opfer. Von wem? Weiß man nicht. Nur ÖVP-Kanzler Kurz | |
tut so, als wüsste er was, zumindest lässt keine Gelegenheit aus, mit dem | |
Finger auf den Lieblingsfeind zu zeigen und so antisemitische | |
Verschwörungstheorien zu verbreiten. Mehrmals [3][hat er betont, dass der | |
israelische PR-Berater Tal Silberstein hinter dem Video stecken könnte]. | |
Andere bemühten gleich den Mossad. Jung sein heißt eben auch nicht immer, | |
frisch im Kopf zu sein. | |
Denn die Sache ist doch: Mit diesem Opfer-Täter-Denken kommt man – jenseits | |
von straf- und völkerrechtlichen Fragen – im Leben nicht weit. Das nämlich | |
ist oft mordsungerecht. Genauso wie es kein Recht darauf gibt, geliebt zu | |
werden oder reiche Eltern zu haben, gibt’s auch keines darauf, dass [4][die | |
eigene Dummheit] unentdeckt bleibt. | |
Oder auch darauf, zur „größten und renommiertesten Kunstveranstaltung der | |
Welt“ (Banksy auf Instagram), der Biennale von Venedig, eingeladen zu | |
werden. Denn obwohl der Streetart-Künstler, der großen Wert auf seine | |
Anonymität legt, sich seit Jahren in den Metropolen dieser Welt austoben | |
kann und jedes Mäucherchen seine Leinwand ist, scheint er sich | |
ausgeschlossen zu fühlen. Dass vermutlich mehr Menschen seine Arbeit | |
kennen, als überhaupt je von der Biennale gehört haben, scheint ihm nicht | |
zu reichen. Drum hat er jetzt, wie ich dem Tagesspiegel entnahm, ein Video | |
von einer Guerrilla-Kunstaktion in Venedig gepostet. Ein | |
Kunst-Party-Crasher also. Das passt irgendwie in diese Zeit, in der ich oft | |
das Gefühl habe, Kunst schon gut finden zu müssen, damit sich niemand | |
verletzt oder zu kurz gekommen oder ausgeschlossen fühlt. Ganz gleich, wie | |
belanglos und langweilig sie ist. | |
Für Kunst hielten sie beim Spiegel und darüber hinaus auch die – | |
erstunkenen und erlogenen – Reportagen von Claas Relotius. In dem Fall | |
stimmte es sogar, Kunst sind sie, aber halt kein Journalismus. Am Freitag | |
hat das ehemals ehrwürdige Magazin [5][seinen Abschlussbericht zur Sache | |
veröffentlicht]. Radikal sollte aufgeklärt werden, wie Relotius’ Texte | |
ihren Weg ins Heft finden konnten. Aber auch da weht durch die Zeilen | |
leise: Wir wurden reingelegt. Buhu. | |
## Buhu | |
„Es wurden keine Hinweise darauf gefunden, dass jemand im Haus von den | |
Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war.“ Puh. So | |
ein Glück aber auch. Man habe sich „von Relotius einwickeln lassen“. Was | |
auch nur heißt: Dieser niederträchtige Typ hat uns eine Falle gestellt, was | |
können wir dafür? Leider ist es halt in manchen Situationen und Positionen | |
so, dass es wurscht ist, wie doof andere sind. Man muss selbst einfach | |
schlauer sein. | |
Ich frage mich nach dieser Woche: Wann lässt sich diese Welt endlich wieder | |
ein paar – genderneutrale – Eier wachsen? | |
27 May 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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