# taz.de -- Hildegard Bentele und die EU-Wahl 2019: Wenn jede Stimme zählt | |
> Hildegard Bentele von der CDU ist die einzige Spitzenkandidatin, bei der | |
> das Berliner Ergebnis über den Erfolg bei der Europawahl entscheidet. | |
Bild: Ist geschlaucht und motiviert: Hildegard Bentele, Spitzenkandidatin der C… | |
Entschuldigung, ich habe mal eine Frage.“ Erwartungsvoll dreht sich | |
Hildegard Bentele der stark geschminkten Frau Anfang 60 zu, die am | |
CDU-Wahlkampfstand am Spandauer S-Bahnhof plötzlich vor ihr steht. Ja? Doch | |
mal jemand, der sich für die Europawahl interessiert? Und für sie als | |
CDU-Spitzenkandidatin? Eher nicht: „Können Sie mir sagen, wann der Bus zum | |
Brunsbütteler Damm abfährt?“ | |
Kann Bentele als Weddingerin nicht, aber dafür hat sie ja ihre Helfer von | |
der örtlichen Spandauer CDU dabei. Die wissen Bescheid, die Frau bedankt | |
sich herzlich bei Bentele, die in einer blauen Weste mit gelben | |
Europa-Sternen unterwegs ist. Vielleicht wieder eine Stimme gewonnen, auch | |
ohne Infoflugblatt – eine Stimme, die sie mehr brauchen kann als alle | |
anderen Spitzenkandidaten aus den Berliner Landesverbänden. | |
Es ist Mitte Mai, die vorletzte Woche vor der EU-Wahl am 26. Mai läuft. Es | |
gibt Politiker, die großspurig behaupten, es gebe für sie nichts Schöneres | |
als Wahlkampf. Bentele hingegen sagt: „Ich bin schon froh, wenn es vorüber | |
ist.“ Seit Januar habe sie jeden Abend Termine gehabt, seit Wochen ist ihr | |
Kalender voll mit Auftritten zur Europawahl. Spandau ist an diesem Morgen | |
ihre erste Station, am späteren Vormittag geht es in Kreuzberg weiter, am | |
Abend wartet die evangelische Kirchengemeinde in Frohnau auf sie. Ihre | |
beiden Kinder, vier und sechs Jahre alt, habe sie zuletzt ziemlich wenig | |
gesehen, sagt die 43-Jährige. | |
Das Besondere bei Europawahlen ist eigentlich, dass sich die Kandidaten der | |
größeren Parteien vorher ziemlich genau ausrechnen können, ob sich diese | |
Plackerei mit den vielen Terminen, langen Tagen und wenig Interesse an | |
Europa lohnen wird. Gabriele Bischoff etwa, die Spitzenkandidatin der | |
Berliner SPD, steht auf der bundesweiten Liste ihrer Partei auf Platz 9. | |
Das reicht selbst bei einem erwartet miesen SPD-Ergebnis am 26. Mai, um | |
sicher ins Europaparlament einzuziehen – 16 bis 17 der auf Deutschland | |
entfallenden 96 Sitze im EU-Parlament geben die jüngsten Umfragen her. | |
Gleiches gilt für die bestplatzierte Berliner Grünen-Kandidatin Hannah | |
Neumann auf Listenposition 5 und gleich drei weitere hiesige Grüne auf den | |
Plätzen 7, 8 und 12 – ihre Partei wird derzeit mit fast 20 Mandaten | |
gehandelten. Und bei der Linkspartei kann neben Spitzenkandidat Martin | |
Schirdewan auch die frühere Landespolitikerin Martina Michels auf | |
Listenplatz 5 von einem erneuten Einzug ins Europaparlament ausgehen. | |
Bloß Bentele weiß frühestens um halb acht am nächsten Sonntagabend, wenn | |
erste Berliner Ergebnisse vorliegen, ob sie drin ist, möglicherweise auch | |
erst Stunden später. Denn die CDU hat als einzige der großen Parteien keine | |
deutschlandweite Liste, mit der schon ab der ersten Prognose fast alles | |
klar ist – weil ja in Bayern die CSU als eigenständige Partei antritt. | |
Welcher Landesverband, wenn überhaupt, wie viele Sitze bekommt, entscheidet | |
sich im Vergleich des eigenen Ergebnisses mit den anderen. Bei den | |
vergangenen Wahlen hat es für die Berliner CDU – aktuell im Europaparlament | |
mit Joachim Zeller vertreten, dem Ex-Bürgermeister von Mitte – für einen | |
Sitz gereicht, aber das ist nicht festgeschrieben. | |
## Nicht die beste Ausgangslage | |
Während SPDler, Linksparteiler oder Grüne das Gefühl haben könnten: Unsere | |
paar Berliner Stimmen sind doch für die bundesweite Liste nebensächlich – | |
weniger als 4 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland leben in der | |
Hauptstadt –, liegt es an Bentele selbst, ihre Chancen zu steigern. Das ist | |
Druck und Motivation zugleich. Was es vielleicht auch braucht in solchen | |
Wochen und Monaten. Denn Spitzenkandidatin klingt zwar nach großem Team, | |
Assistenten und Rundumversorgung. Doch die Wirklichkeit ist anders. | |
Reichlich geschafft wirkt Bentele, als sie ein paar Tage vor dem Termin in | |
Spandau abends ins taz-Haus in der Friedrichstraße kommt. Venro, ein | |
Verband von Nichtregierungsorganisationen, hat dort zu einer | |
Podiumsdiskussion über Entwicklungshilfe eingeladen. Sie ist eine halbe | |
Stunde zu spät dran. Als sie schließlich neben den Kollegen von SPD, FDP, | |
Grünen und Linkspartei auf dem Podium sitzt, atmet sie tief durch. | |
Es hatte kein Parteifreund oder Profi-Chauffeur mit Wagen auf sie gewartet, | |
als sie direkt vorher eine ähnliche Veranstaltung bei der Industrie- und | |
Handelskammer verließ, und bei der taz war erst mal Parkplatzsuche | |
angesagt. Nicht die beste Ausgangslage, um sofort eine | |
entwicklungspolitische Frage der Moderatorin zu beantworten. Vor allem | |
nicht, wenn man wie Bentele eigentlich bildungspolitische Sprecherin der | |
CDU-Abgeordnetenhausfraktion ist, der sie seit 2011 angehört. Es klappt | |
dennoch – sie ist nämlich auch ausgebildete Diplomatin und deshalb im | |
Thema. | |
In Spandau ist Bentele zwar nicht wie im taz-Haus allein unterwegs, | |
faktisch aber doch Einzelkämpferin. Während sie mit ihren Flugblättern | |
Leute abzufangen versucht, die an der BVG-Haltestelle alle paar Minuten aus | |
dem Bus strömen, bildet das halbe Dutzend eher älterer örtlicher | |
Parteifreunde meist einen Kreis am orange-weißen CDU-Wahlkampfschirm – | |
zeitweise mit dem Rücken zur potenziellen Wählerschaft. Nur gelegentlich | |
löst sich mal jemand, um Infos zu Bentele und den CDU-Positionen zu | |
verteilen. | |
Anders die SPD, die inzwischen nur 15 Meter entfernt ihren Stand aufgebaut | |
hat, und für die zwei junge Parteimitglieder um die 20 immer wieder auf | |
Passanten zugehen – was allerdings grundsätzlich um diese Zeit eine mühsame | |
Sache ist. In der morgendlichen Rushhour lassen sich zwar viele Leute | |
antreffen, die aber selten in der Stimmung sind, stehen zu bleiben, sondern | |
im besten Fall nur schnell ein Flugblatt mitnehmen. Die meisten gehen ohne | |
Reaktion vorüber, selbst kurze Ansagen wie „CDU? Die wähl ich nicht“ oder | |
„Ja, gern“ sind selten. | |
Nur einmal bleibt wirklich jemand für ein politisches Gespräch bei Bentele | |
stehen. Seit rund 40 Jahren sei er Polizist, sagt der Mann mit der | |
Baseballkappe. Die CDU sei für ihn spätestens nicht mehr wählbar, seit ihr | |
Fraktionschef im Bundestag, Ralph Brinkhaus, Anfang März in einem | |
Spiegel-Interview sagte, er könne sich einen muslimischen Kanzler | |
vorstellen. Für ganz viele seiner Kollegen würde nur noch die AfD infrage | |
kommen. Bentele lässt er etwas ratlos zurück. „Was sollen wir denn noch | |
machen?“, fragt sie, ihr Berliner Fraktionschef Burkard Dregger sei doch | |
viel bei der Polizei und auch schon im Einsatz mit unterwegs gewesen, | |
stelle sich oft genug vor die Beamten. | |
Kreuzberg, ein paar Stunden später. Nicht gerade eine Hochburg der CDU. | |
Müde 7,7 Prozent der Stimmen holten die Christdemokraten hier bei der | |
Europawahl 2014. Und doch ist die Stimmung an der Bergmannstraße Ecke | |
Mehringdamm eine ganz andere als kurz zuvor in der CDU-Hochburg Spandau. | |
Ein halbes Dutzend jüngerer CDUler um die 30 und jünger erwartet Bentele | |
hier zusammen mit dem örtlichen Parteiurgestein Kurt Wansner. | |
## Frommer Wunsch und Sisyphusarbeit | |
Und die arbeiten sich dann anders als in Spandau wirklich mit Flugblättern | |
und Broschüren die Bürgersteige rauf und runter, vorbei auch an den viel | |
kritisierten Sitzgelegenheiten namens „Parklet“, die sich an diesem Morgen | |
eine ältere Besuchergruppe aus Brandenburg interessiert anschaut. Bentele | |
verteilt, fragt, lächelt – doch dass mal jemand etwas zu Europa und zur | |
Wahl wissen will, kommt hier genauso wenig vor wie in Spandau. | |
Europa und Brüssel in Berlin stärker zu verankern, hat sie sich | |
vorgenommen, wenn es zum Einzug ins Europaparlament reicht – es klingt nach | |
einer Mischung aus frommem Wunsch und Sisyphusarbeit. | |
Es ist auch die Woche vor dem CDU-Landesparteitag, an dem Kai Wegner Monika | |
Grütters an der Parteispitze ablöst. Bentele müsste eigentlich schlecht auf | |
Wegner zu sprechen sein, weil der parteiinterne Machtkampf in ihren | |
EU-Wahlkampf fiel. Doch Kritik ist von ihr nicht zu hören, Folgen will sie | |
nicht gespürt haben – „da hat mich im Wahlkampf keiner drauf angesprochen�… | |
In Umfragen ist eine Reaktion auf den Machtkampf hingegen abzulesen: Auf | |
Landesebene sackte der CDU-Rückhalt seit März von 20 auf 17 Prozent ab. Das | |
sind Stimmen, die Bentele am 26. Mai fehlen könnten. Damit das nicht | |
passiert, gibt es noch mehrfach Promiunterstützung. Einen Tag später wird | |
sie bei einem EU-Dialog mit CDU-Generalsekretär Paul Zimiak am Gasometer in | |
Schöneberg zusammensitzen. Eigentlich sollte auch Parteichefin | |
Kramp-Karrenbauer kommen, doch die sagte erkrankt ab. | |
Auf der Straße aber bleibt es mühsam, obwohl die Wahlbeteiligung wegen der | |
Brexit-Diskussion angeblich größer als 2014 sein wird. Noch einmal steht an | |
diesem Tag beim Flugblattverteilen plötzlich jemand mit einem Anliegen vor | |
Bentele, dieses Mal ein Mann schätzungsweise Mitte 30. Ja? „Hätten Sie | |
bitte eine Zigarette?“ | |
23 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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