# taz.de -- Soziologe über Israel: „In Israel sagt man Euro-Vision“ | |
> Fühlen sich Israelis als Teil Europas? Welche Rolle spielen Events wie | |
> der ESC? Ein Gespräch mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider. | |
Bild: Wie wird in Israel der skeptische, oft kritische Blick Europas auf Israel… | |
taz: Herr Sznaider, Europa scheint Israel in diesen Tagen nah zu sein – | |
durch den Eurovision Song Contest, der in Tel Aviv stattfindet. | |
Natan Sznaider: Das ist aktuell im Stadtbild unübersehbar, ja. Und es geht | |
hier wirklich um den Namen: In Israel sagt man nicht ESC, vielmehr spricht | |
man von „Euro-Vision“. Und bei diesem Event handelt es sich tatsächlich um | |
eine Vision. Den meisten Israelis sind die Lieder ziemlich egal. | |
Hauptsache, „wir“ spielen mit und haben sogar eine gute Chance zu gewinnen. | |
[1][Schließlich gewannen „wir“ ja schon viermal], 1978, 1979, 1998 und | |
voriges Jahr. Europäische Wettbewerbe, ob das jetzt der ESC ist oder | |
Sportevents sind, wurden im Lauf der Zeit Teil einer nationalen Kultur des | |
Stolzes. Und dann kann man laut sagen: Israel ist ein europäisches Land. | |
In welchem Sinne? | |
Dass es mit den anderen „westlichen“ und „entwickelten“ Nationen mithal… | |
kann. Es ging und geht hier auch um internationale Anerkennung jenseits von | |
Krieg und Politik. Man gehört dazu. Das ist wichtig für die Israelis, und | |
dass die Party in diesem Jahr in Tel Aviv stattfindet, hilft auch, den | |
extraterritorialen Charakter der Stadt in Israel als Partytown zu | |
bestätigen. Dazu kommt noch, dass in diesen Tagen in Tel Aviv der | |
kulturelle Mainstream auf eine queere Kultur trifft, ohne dass das | |
großartig betont werden muss. | |
Nützen Kampagnen wie die der Boykottbewegung BDS den liberalen Kräften in | |
Israel? | |
Der BDS nützt – wenn dieser Begriff hier überhaupt passt – natürlich den | |
liberalen Kräften in Israel überhaupt nicht. [2][Wenn der BDS überhaupt | |
jemanden „nützt“], dann sind das die BDSler selbst. Ihre Aktivitäten | |
bestärken nur das Gefühl der israelischen Rechten, dass die ganze Welt | |
gegen uns sei. Ich verstehe auch, dass die Verwirklichung politischer | |
Normalität und Freiheit durch Juden, wie sie sich im täglichen Verhalten | |
Israels ausdrücken, für viele Juden und Nichtjuden zutiefst anstößig ist. | |
Der Konflikt zwischen Behauptungen, die ein normales Leben für die Juden | |
einfordern und denjenigen, die glauben, Juden müssten erhabener sein und | |
über der Politik stehen, ist Teil dieses Diskurses. Das ist auch, was | |
letzten Endes hinter der extremen Israelkritik des BDS steht. Abgesehen | |
davon sollte man den BDS-Effekt auch in seiner wahren Proportion sehen. BDS | |
ist völlig irrelevant, wie seine Kampagne zum ESC klar zeigt. | |
Wie steht Israel zu Europa? | |
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, denn sie geht davon aus, dass | |
es einen israelischen Blick auf Europa überhaupt gibt. Angenommen, Israel | |
stellt einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union – was wäre | |
die Antwort? Die Mitgliedschaft in der EU müsste zurückgestellt oder sogar | |
abgelehnt werden. Aus dem schlichten Grund, weil nach Auffassung der EU | |
Israel die Demokratiekriterien der EU nicht erfüllt. | |
Israel, das aus Europa stammt, liegt nicht in Europa, sondern zwischen | |
Europa, Asien und Afrika. | |
Das ist nicht nur geografisch bedingt, vielmehr liegt Israel in der Tat in- | |
und außerhalb Europas, Asiens und Afrikas. Das bedingt auch den Blick von | |
außen nach innen, aber auch umgekehrt von innen nach außen. [3][Der | |
Zionismus als staatstragende Idee] ist aber durch und durch europäisch, | |
nicht im Sinne des heutigen Mainstream-Europas der EU, sondern dem | |
ethnisch-nationalen Blick Osteuropas geschuldet. | |
Und das heißt? | |
Dass der Blick Israels auf Europa geteilt ist in einen Blick nach dem Osten | |
Europas hin, wo es politische Formationen gibt, die Israel sehr ähnlich | |
sind wie Polen und Ungarn, und einem Blick nach dem Westen Europas, der für | |
viele hier, die der kulturellen und wirtschaftlichen Elite angehören, als | |
Referenzpunkt dient. Die politische Elite blickt nach Warschau und | |
Budapest, während die kulturelle und wirtschaftliche Elite eher nach Paris, | |
London und Berlin schaut. | |
Wie wird in Israel der skeptische, oft kritische Blick Europas auf Israel | |
gesehen? | |
Der kritische Blick auf Israel ist einer, der aus dem Herzland der EU | |
stammt. Es ist der Blick eines liberalen Milieus, das schlecht mit | |
Besatzung und Ethnonationalismus umgehen kann und das sich der sogenannten | |
Zweistaatenlösung als Schlüssel für den Frieden in unserer Gegend hier | |
verpflichtet fühlt. Es gibt eine Gruppe in Israel, die Linken und | |
Liberalen, die den sogenannten kritischen Blick Europas auf Israel teilt, | |
der aber von einer Mehrheit der israelischen Bürger nicht mitgetragen wird. | |
Denn die Liberalen haben keine Antwort auf die Sicherheitsbedürfnisse der | |
Israelis. Ihr Israel der Nachkriegszeit, als das Land für die europäischen | |
Juden zur Heimat wurde, gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite sind | |
Israel gegenüber „unkritische“ europäische Regierungen derselben Kritik | |
innerhalb Europas ausgesetzt, sodass Israel politische Allianzen eingeht, | |
die diesen kritischen Blick Europas auf Israel nur noch weiter verstärken. | |
Sie meinen beispielsweise mit der Regierung Orbán. | |
Ja. Dazu kommt noch, dass viele Juden in Europa dachten, dass jüdische und | |
israelische Interessen deckungsgleich sind und sich nun an eine Situation | |
gewöhnen müssen, wo das nicht mehr der Fall zu sein scheint. | |
Ist es denn denkbar, dass Israel eines Tages Mitglied der Europäischen | |
Union werden möchte? | |
Möchten wohl schon, aber können und wollen wohl eher nicht. Der wichtigste | |
Aspekt Israels ist die Ausübung jüdischer Souveränität über sein | |
Territorium. Viele der Juden Europas leben jedoch in der Spannung zwischen | |
der Souveränität des Staates Israel, der sie sich mehr oder weniger | |
verpflichtet fühlen, und der gleichzeitigen europäischen Einschränkung der | |
Souveränität für die Nationalstaaten in der EU, die auch das Recht von | |
Minderheiten garantiert und letztendlich auch zur Flüchtlingswelle in | |
Europa geführt hat. | |
Israel beruht indes auf der Homogenität von Raum und Zeit, der Homogenität | |
von Raum und Bevölkerung und der Homogenität von Vergangenheit und Zukunft. | |
Das war auch das Credo des europäischen Nationalstaats, aus dem die EU | |
allerdings seit der Zeit nach 1945 herausfinden will. Die Folgen von 1945 | |
waren für Israel genau umgekehrt. Daher symbolisiert Israel das | |
Gegenprogramm der offiziellen Politik der EU. | |
17 May 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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