| # taz.de -- Kolumne ESC in Tel Aviv #6: Diese Stadt schluckt alle | |
| > Noch ist nicht viel los in Tel Aviv. Der Eurovision Song Contest bleibt | |
| > aber eine Goldmarke, die sich die Stadt viel kosten lässt. | |
| Bild: Beim Halbfinale sieht es gar nicht so leer aus, das Grand Final ist aber … | |
| Es war kein wirklich hartes Rennen um den Ort dieses ESC in Israel. Haifa | |
| hätte das Sammy-Ofer-Stadion zu bieten gehabt, einige Zehntausend zu | |
| verkaufende Plätze wären dies gewesen – aber die Arena von HaPoel und | |
| Maccabi Haifa wäre zu überdachen gewesen: Das war dann zu teuer. | |
| Jerusalem war schnell aus dem Rennen, weil die dortige Halle zwar größer | |
| als die in Tel Aviv ist, aber die Hauptstadt des Landes wäre zum üblichen | |
| freien „Sonntag“ der Woche, am Schabbath, wirklich zur stummen Stadt | |
| geworden. Man hätte dort keine Generalprobe am Freitagabend vor dem Finale | |
| veranstalten können: Die religiösen Kräfte Jerusalems signalisierten früh, | |
| dies nicht dulden zu wollen. Der Schabbath sei heilig und der Freitag für | |
| ein europäisches Ding nicht verhandelbar. | |
| Tel Aviv hatte somit alle Trümpfe auf der Hand: ein Messezentrum, [1][eine | |
| laxere Schabbath-Handhabung], Shuttle-Busse zum ESC-Ort werden | |
| gewährleistet und es gibt Hotelkapazitäten im Überfluss. In | |
| Goldgräberstimmung ging man also in der Stadt zu Werke. Und merkt nun, dass | |
| gar nicht Hunderttausende angeflogen kommen, sondern nur 15.000. Genaue | |
| Zahlen weiß man nicht, weil ESC-Tourist:innen auch gern an den Gastgeberort | |
| für ein Public Viewing fahren. Es müssen keine Hallentickets sein. | |
| Inzwischen merkt man auch, dass in die Metropole mit schönstem Stadtstrand | |
| des Mittelmeeres sowieso Hunderttausende kommen. Ob wegen Israel | |
| (Bildungstourist:innen), wegen der Partys (Hipster:innen) oder weil hier so | |
| schön die Sonne scheint. Es ist noch nicht brütend heiß im Mai und nicht | |
| mehr kühler Spätwinter. | |
| So fallen die Eurovisionsmühen zwar im Stadtbild auf, aber sie dominieren | |
| nicht. Am Strand sind seit Mittwoch morgen Sonnensegel in Orange aufgebaut, | |
| die vielleicht einem Leuchtmittelhersteller geschuldet sind oder einer | |
| Firma, die ein beliebtes Nachmittagsgetränk herstellt, Aperol: Hey, mit uns | |
| muss Sonnenbrand nicht sein. | |
| ## Tel Aviv ist auch eine Desillusion | |
| Und am Charles Clore Park – an der Naht zwischen dem neuen Tel Aviv und dem | |
| alten Jaffa – ist ein Eurovision-Village aufgebaut, ein Volkspark für alle, | |
| der ausgesprochen gern von Tel Aviver:innen besucht wird. Am | |
| Donnerstagabend ist dort zur Einstimmung vor dem zweiten Semifinale eine | |
| illustre Garde israelischer ESC-Künstler:innen auf der Bühne. Aber auch | |
| einige internationale ESC-Stars sind mit dabei: Loreen, Ann-Marie David und | |
| Carola – Siegerinnen der Jahre 2012, 1973 und 1991. | |
| Das Motto „Dare to dream“ („Sich trauen zu träumen“) scheint von vielen | |
| ESC-Tourist:innen freundlich genommen werden – und von den Einheimischen | |
| als Aufforderung, die Dinge zu nehmen, wie sie sind: als Feier des Abends, | |
| hier am Strand von Tel Aviv. Derweil versuchen die Veranstalter, die | |
| letzten Tickets für den Freitagabend zu verscheuern. Auch das Grand Final | |
| ist noch nicht ausverkauft: Strafe für die viel zu hohen Ticketpreise und | |
| für die Imagehavarie, als vor Wochen herauskam, dass Günstlinge der Tel | |
| Aviver Behörden und Sponsoren viele Tickets zu Vorzugspreisen bekamen. | |
| So oder so: Tel Aviv ist auch eine Desillusion. Ein ESC braucht eine große | |
| Stadt für die Partys, für das begleitende Shopping und als Raum für | |
| Sponsorenabsichten. Kleine Orte, an denen einst ein ESC stattfand – | |
| Harrogate, Millstreet, Luxemburg (ohnehin nicht mehr dabei), Lausanne oder | |
| Bergen – sind passé. Wie bei Olympischen Winterspielen braucht es | |
| Metropolen – die haben das Umfeld für den ganzen Bohei drumherum. Tel Aviv | |
| freut sich über diese Entwicklung, man profitiert von ihr, weil die Stadt | |
| als Marke bekannt wird. | |
| So wie Estland niemand kannte, ehe dort 2002 ein ESC ausgetragen wurde. | |
| Oder hatte jemand Kiew auf dem Schirm – nicht als Ort der Scharfschützen, | |
| sondern der Aufstände wider die postsowjetischen Regime? Der ESC bleibt | |
| eine Goldmarke, Tel Aviv lässt sich diese viel kosten. | |
| 16 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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