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# taz.de -- Ungarns Akademie der Wissenschaften: Die stumme Provinz
> Der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde radikal Budget gekürzt.
> Das soll ihre Integrität und Glaubwürdigkeit untergraben.
Bild: Viktor Orbáns Fidesz-Partei stand einst für eine gute Zukunft
Wer in Ungarn lebt, sieht sich fortwährend staatlicher Gewalt ausgesetzt.
Es gibt keine Fragen, keine Diskussion. Stattdessen Vorgaben, permanente
Machtdemonstration, Erpressung. Mentalität und Praxis des Totalitarismus
treten in allen Belangen der Staatsführung offen zutage. Viktor Orbáns
Staatsverständnis gebiert albtraumhafte Szenen nach einem düsteren
Drehbuch.
Bei der Umsetzung ihres Totalitarismus werden er und seine Leute nicht von
der Mitgliedschaft Ungarns in der Europäischen Union aufgehalten, höchstens
von dem Umstand, dass die ungarische Wirtschaft in erster Linie von der
deutschen Autoindustrie am Leben gehalten wird. Und weil das Land
geografisch und geschichtlich ziemlich nahe an Deutschland liegt, liefe es
im Fall der allzu offenen Diktatur Gefahr, für das deutsche Kapital
unannehmbar zu werden.
Orbán agiert nach äußerst primitivem Muster, wie ein Boxer im Ring, doch
ohne Fairness. Dadurch, dass die Wirklichkeit außerhalb Ungarns heute
hartnäckig komplex ist, ist seine Gewalt erheblich unberechenbarer als vor
1989.
Jüngstes Beispiel für die Machtdemonstration und Erpressung: Der
angesehensten und traditionsreichsten staatlichen Institution, dem
Forschungsinstitut Ungarische Akademie der Wissenschaften, hat die
Regierung [1][die gesetzlich festgeschriebene staatliche Unterstützung
entzogen]. Das ist ein offenkundiger Gesetzesbruch. Doch wer würde sich
trauen, einen Prozess gegen die Regierung anzustrengen?
Orbáns Partei kontrolliert die Staatsanwaltschaft, größtenteils die
Gerichte und hat den überwiegenden Teil der Presse in der Hand. Die für
Forschung und Innovation vorgesehenen beträchtlichen Zuschüsse aus der
Europäischen Union will man nicht länger der unabhängigen Akademie zukommen
lassen, sondern ab sofort eigens gegründeten, quasi regierungseigenen
Institutionen. Auf diese Weise lässt sich das Geld besser veruntreuen.
Was mit den Forschungsinstituten der Akademie geschehen wird, weiß niemand,
denn die Regierung hat zugelangt, ohne ein neues Konzept auf den Tisch
gelegt zu haben.
Die Mitarbeiter der Akademie versuchen zum Teil, ihre Arbeit irgendwie
fortzusetzen, zum Teil sind sie ins Ausland geflüchtet. Für
Forschungsmittel und andere Anschaffungen gibt es kein Geld mehr,
vielleicht bleibt morgen schon die Stromrechnung unbezahlt, keiner weiß,
was ihm am nächsten Tag blüht. Von außen betrachtet stellt sich die Frage,
weshalb sich die Betroffenen nicht erheben – kraft ihrer moralischen
Überlegenheit.
## In der Falle stecken
Warum sie sich damit begnügen, bei trübseligen Demonstrationen über die
üblen Dinge, die ihnen der Staat antut, zu klagen. Warum es sich auch all
diejenigen gefallen lassen, die dergleichen schon vor 1989 haben
durchmachen müssen; wenn sie sich nach dem Zusammenbruch überhaupt über
etwas im Klaren waren, dann doch darüber, dass sie es nie wieder erleben
wollten. Warum leisten sie keinen Widerstand?
[2][Die Lebenserwartung öffentlicher Einrichtungen] ist normalerweise höher
als die eines politischen Systems. Ihnen wird ein überparteilicher Wert
zugestanden, kaum jemand wünscht sich ihr Ende. Wer eine öffentliche
Einrichtung leitet wie die Ungarische Wissenschaftsakademie, ein Museum,
ein Symphonieorchester, eine Universität oder bloß Mitarbeiter einer
solchen Einrichtung ist, ist aus Loyalitätsgründen im Allgemeinen
angehalten, seine Worte und Handlungen anders abzuwägen, als wäre er allein
seinem persönlichen Gewissen gegenüber verantwortlich. Wovor aber sonst
sollten wir uns letztlich verantworten?
Ein Kennzeichen des Totalitarismus ist doch, dass man allenthalben in einer
Falle steckt, aus der es keinen Ausweg gibt. Wenn sich aber die Grenzen des
persönlichen Gewissens relativieren lassen, wenn man auf strenge Kriterien
für sein Handeln verzichtet, öffnet man da nicht Tür und Tor für die
Kollaboration? Natürlich kann man von niemandem erwarten, stets nach den
strengsten Prinzipien des Gewissens zu handeln. … der werfe den ersten
Stein. Erinnern wir uns an die alten Worte.
Bleiben wir bei diesem Extrem und greifen wir die Geschichte von Swjatoslaw
Richter auf, die diese Situation in der Falle in tausendfacher
Vergrößerung, in unerträglicher Schärfe zeigt: 1938 ließ Stalin Richters
Bruder hinrichten. Und nachdem er 1941 auch seinen Vater liquidierte, weil
er ihn für einen Spion der Deutschen hielt, lud er Richter ein, bei sich
Klavier zu spielen. Und Richter ging hin, weil er, wenn er am Leben bleiben
wollte, nichts anderes tun konnte, und spielte für den Mörder seines
Bruders und Vaters Klavier.
„Die Wirklichkeit des funktionalen Menschen ist eine Pseudowirklichkeit,
ein das Leben ersetzendes Leben, eine ihn selbst ersetzende Funktion. Zwar
ist sein Leben meistens ein tragisches Vergehen oder ein tragischer Irrtum,
jedoch ohne die notwendigen tragischen Folgen; oder eine tragische Folge
ohne das notwendige tragische Vorgeschehen, da die Folgen nicht durch die
Eigengesetzlichkeit von Charakter und Handlung auferlegt wurden, sondern
durch das – für den Einzelnen immer absurde – Bedürfnis nach Ausgewogenhe…
der gesellschaftlichen Organisation“, schrieb Imre Kertész in seinem
„Galeerentagebuch“.
Das deckt sich mit meinen Erfahrungen heute. Und Kertész lässt auch keine
Hintertür zu: „Das Leben ist entweder Demonstration oder Kollaboration“,
heißt es in „Ich, ein anderer“.
## Der Teufel steckt im Detail
Vom Gewicht dieser Sätze wird die Zeit beinahe erdrückt. Jeder weiß, was
das, was Kertész Kollaboration nennt, während des letzten großen Kriegs in
Frankreich, Deutschland, Polen, Norwegen, der Ukraine, Ungarn und so weiter
bedeutet hat. Und man weiß, was sie im tristen Alltag unter den
kommunistischen Diktaturen bewirkte. Kertész sah den Grund für die
Kollaboration im schizophrenen Widerspruch zwischen dem Gewissen und den
vom Staat zur freien Auswahl offerierten Normen, die einerseits Vorteile,
andererseits Ausgrenzung, Drohung, Lebensgefahr bedeuteten.
Reicht aber diese Definition für das Verständnis der feinen Unterschiede
aus? Müssen wir überhaupt noch die Nuancen beachten, bevor wir urteilen?
Dürfen wir überhaupt auf die Waffe des Urteilens verzichten und hoffen,
dass wir dann vor der Relativierung der Fehler, der Schande, gar vor der
Schuld geschützt sind?
Als Schriftsteller interessiere ich mich im Wesentlichen für nichts anderes
als die feinen Unterschiede; wobei es natürlich darauf ankommt, was die
Lage gerade verspricht: wenn man vor dem Hinrichtungskommando steht, werden
Nuancen, wird Feinmotorik weniger wichtig. Der Teufel steckt im Detail,
heißt es. Im Detail stecken aber auch die Engel, und das würde bedeuten,
dass uns das noch so klare Fazit über die Lage vor nichts schützt.
Ich spreche hier von der programmatischen Zerstörung der maßgeblichen
geistigen Räume. Zwar wird die Zerstörung auch auf anderen Feldern mit
gnadenloser Emsigkeit vorangetrieben. Aber die Vernichtung geistiger Güter
ist die Sternstunde der Tyrannei in Ungarn, die Garantie, total zu
herrschen. Die Hoffnung, es würde sich schon irgendwie ändern, ist
Selbsttäuschung.
Ich unterhalte mich mit einem Freund. Er ist Mitglied der
Universitätsleitung, etwas älter als ich, seine hohe Position verdankt er
den enormen Leistungen, die er seit vielen Jahren tagtäglich erbringt. Er
sitzt in der Falle, erklärt er. Wie der Akademie der Wissenschaften wurde
auch den wichtigsten Universitäten das im Gesetz festgeschriebene Budget
brutal gekürzt, so dass nun die Entlassung mehrerer hundert Lehrkräfte
ansteht, eine Maßnahme, deren einziges Ziel Erniedrigung ist, und dass
niemand sich unschuldig fühle.
Denn die eine Möglichkeit der Universität wäre, gegen den Gesetzesbruch
öffentlich zu protestieren, sich mit der Akademie zu solidarisieren und die
Entlassungspapiere auszufüllen, was dem universitären Kollaps gleichkommt,
die andere, dass man schweigt, sich mit niemandem solidarisiert und
versucht, durch die Hintertür zum Minister zu gelangen und aus ihm
herauszukitzeln, um welchen Preis das gesetzlich zustehende
Überlebensbudget doch noch bewilligt würde. Ohne Zweifel wird der Freund
dieser Variante zustimmen.
## Mehr braucht die Macht nicht
Etwas anderes kann er nicht tun, auch wenn er sich darüber im Klaren ist,
dass dies moralisch gesehen völlig falsch ist. Oder nicht? Während sich
nämlich in der einen Waagschale das Prinzip der Solidarität, der
Überlebenskampf der ungarischen Wissenschaften und so weiter befinden, so
denkt er, liegt in der anderen der Existenzverlust mehrerer hundert
Menschen, mehrerer hundert Familien und der Universität selbst.
Dem Freund geht es elend, ihm dreht sich der Magen, er durchlebt schlaflose
Nächte. Ihm ist klar, was hierzulande Exekutive ist, er hat keine
Illusionen. Es gibt eine ganze Menge Leute in ähnlicher Lage. Ein Großteil
von ihnen war seinerzeit über die [3][Gründung von Orbáns Fidesz-Partei
froh], sie waren begeisterte Anhänger, weil Fidesz für eine gute Zukunft
stand. Das ist lange her, mit der Zeit wich die Begeisterung der
Enttäuschung und der Empörung, und heute ist klar, dass Orbán und sein Clan
vom Machtwahn besessen sind und nichts anderes im Sinn haben, als das Land
zu plündern, die Menschen zu täuschen, die Demokratie zu zerstören – im
Grunde ist das schon vollzogen.
Alle, die sich nicht devot Orbáns Kurs ergeben haben, wissen um die
Hemmungslosigkeit der machthabenden Clique. Und sie kennen den
unüberwindbaren Abgrund zwischen ihrem Gewissen, ihrer Überzeugung und der
zwangsweisen Annahme des Unannehmbaren. Sie leiden unter diesen
Bedingungen, die sie jedoch praktisch handhaben, wohl wissend, dass sie
nichts ändern können.
Wir fragen uns, was alles bei dem alltäglichen Geschiebe und den
alltäglichen Entgleisungen verloren geht. Man verliert seine
Zuverlässigkeit, seine unbedingte Glaubwürdigkeit sich selbst gegenüber.
Mehr braucht die Macht nicht. Ihr genügt es, wenn dem Menschen Integrität
und Kredibilität wegbrechen, er sich ethisch fremd wird. Plötzlich und für
immer. Die Freiheit ist dahin, da ja ihr Unterpfand die persönliche
Glaubwürdigkeit wäre. Was danach kommt, gehört schon zu den verschiedenen
Stationen stummen Leidens.
Wenn dem funktionalen Menschen wenigstens noch die Leidensfähigkeit
geblieben ist, dann ist vielleicht nicht alles verloren. Was Ungarn angeht,
fällt es mir schwer, mich mit seinem Zerfall abzufinden. Auch dann, wenn es
bei all seinem Getöne nichts weiter ist als eine schweigende Provinz, die
sich selbst vergisst, um sich ein Leben vorzulügen. Ungarn ist heute stumm
und bedrohlich.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
12 May 2019
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## AUTOREN
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