| # taz.de -- Ungarns Akademie der Wissenschaften: Akademische Autonomie am Ende | |
| > Die Mitarbeiter der Ungarischen Wissenschaftsakademie fürchten um ihre | |
| > Jobs. Viktor Orbán versucht die Institution unter Kontrolle zu bekommen. | |
| Bild: Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften demonstrieren in Budapest geg… | |
| Budapest taz | Das Forschungszentrum der Humanwissenschaften ist in einem | |
| imposanten, neuen Bürohaus im neunten Bezirk von Budapest untergebracht. Es | |
| ist gerade Mittagspause an diesem frühen Märztag, junge Forscher rauchen | |
| vor dem Eingang, andere schließen ihre Fahrräder an und eilen zur Kantine. | |
| Auch der schlanke, weißhaarige Politologe mit dem grauen Bart, Zoltán Gábor | |
| Szűcs, stellt sich dort in die Schlange an. | |
| Er ist erst 40, wirkt aber deutlich älter, denn seit Anfang Januar schläft | |
| er kaum noch. Er arbeitet nämlich für eine der fünfzehn | |
| Forschungseinrichtungen der [1][Ungarischen Akademie der Wissenschaften,] | |
| die seit Januar unter Berufung auf eine geplante Umstrukturierung keine | |
| Fördergelder mehr bekommen. Seitdem ist der sonst schüchterne Zoltán | |
| Sprecher der Facebook-Gruppe der akademischen Mitarbeiter: ein Forum von | |
| Hunderten Akademikern, die um ihre Zukunft bangen und auf ihre Lage | |
| aufmerksam machen wollen. | |
| Szűcs bestellt sich eine Suppe und einen riesigen Nachtisch mit viel | |
| Schokolade und Schlagsahne und stellt kopfschüttelnd fest, dass er ständig | |
| Süßigkeiten essen muss, seitdem der Stress mit der Akademie angefangen hat. | |
| Ihn bekümmert einiges: Er hat einen dreijährigen Sohn, zahlt eine | |
| Wohnungshypothek ab und hat außer seiner Forschungstätigkeit keinen anderen | |
| Job. Wie lange er diesen noch hat, ist zurzeit völlig ungewiss. | |
| Ähnlich geht es den rund 5.000 Mitarbeitern, die zum Forschungsnetzwerk aus | |
| fast allen wissenschaftlichen Bereichen gehören. Ihrem Präsidium wurde im | |
| Juni 2018 mitgeteilt, dass etwa 70 Prozent des jährlichen Budgets, rund 90 | |
| Millionen Euro, dem neuen „Innovations- und Technologieministerium“ | |
| unterstellt werden. Künftig soll also Viktor Orbáns treuer | |
| Technologieminister [2][László Palkovics] bestimmen, wie die Fördergelder | |
| verteilt werden – für Szűcs ist dies das Ende der akademischen Autonomie. | |
| Der Grund der jetzigen Umstrukturierung könnte mit dem Ende der aktuellen | |
| EU Subventionsperiode zusammenhängen. In der nächsten Subventionsperiode ab | |
| 2021 soll die EU vor allem Forschung und Innovation fördern. Um diese | |
| Gelder neu verteilen zu können, baut die Regierung ein eigenes Netz | |
| regierungstreuer Denkfabriken und Forschungsinstitutionen aus. | |
| ## Absurde Situation | |
| Die geplante Umstrukturierung ähnelt einer Machtdemonstration, deren | |
| Details allerdings undurchdacht sind und zu absurden Situationen führen. In | |
| einem der betroffenen Forschungszentren befindet sich ein | |
| Versuchskernkraftwerk, das seit Januar auch keine Betriebskosten wie für | |
| Elektrizität oder Sicherheitsvorkehrungen bekomme, erzählt Szűcs. Bis Ende | |
| März soll das Forschungszentrum sich nun erstmals um diese Finanzierung | |
| bewerben. | |
| Auch Literaturforscherin Sarolta Deczki gehört zum „Forum der Akademischen | |
| Mitarbeiter“ und ist bei Facebook sehr aktiv. Die 42-jährige Forscherin mit | |
| einem Doktortitel in Philosophie trägt ein kariertes Hemd und Leggins und | |
| redet unverblümt. Dreizehn Jahre ihres Lebens habe sie in die Forschung | |
| investiert und verdiene, wie Szűcs, bescheidene 570 Euro. Von diesem Geld | |
| könne man keine Reserven für Rente, Krankheiten oder gegen existentielle | |
| Unsicherheit bilden, fügt sie entnervt hinzu. „Viele Akademiker sehen sich | |
| jetzt gezwungen, verzweifelt nach einem anderen Job zu suchen.“ | |
| Viktor Orbán hat bereits seinen [3][Herrschaftsanspruch auf Bereiche wie | |
| Kultur, Theater,] Universitäten und [4][Medien] ausgedehnt und unter seine | |
| Kontrolle gebracht. Da fehlt ihm noch eine der letzten Bastionen | |
| demokratischen Widerstands, die größte Wissenschaftseinrichtung des Landes, | |
| die Ungarische Akademie der Wissenschaften. | |
| Das Facebook-Forum organisierte Mitte Februar als Mahnruf eine | |
| Menschenkette rund um die Akademie. Auch Zoltán Gábor Szűcs und Sarolta | |
| Deczki waren dabei, letztere wurde in den Nachrichten zitiert: „Ich sage | |
| seit Jahren, wenn es so weitergeht, werde ich eines Tages in Berlin | |
| kellnern!“ | |
| Und das ist gar nicht so weit hergeholt, denn Wissenschaftlerinnen, die | |
| sich wie Deczki mit feministischer Literatur beschäftigen sind der | |
| rechtskonservativen Regierung ein Dorn im Auge. Zeitgleich mit der | |
| Neuaufteilung des Akademie-Budgets veröffentlichte die regierungsnahe | |
| Zeitschrift Figyelő eine schwarze Liste mit Namen von Forschern, die zu | |
| Themen wie Rechte von Homosexuellen, Einwanderung oder Gender publizieren. | |
| ## Feind der Ungarn | |
| „Wer traditionelle patriarchale Rollen infrage stellt, gilt als Feind der | |
| Familie und Feind der Ungarn“, beteuert Deczki. „Dass wir die wichtige | |
| Frage der Rolle der Frau in der literarischen Kanonbildung untersuchen, das | |
| passt nicht ins Regierungskonzept, laut dem die Frau in die Küche gehört.“ | |
| Ob die Ungarische Akademie der Wissenschaften und ihr Forschungsnetzwerk | |
| den ideologischen Kampf und die Zentralisierungswelle überleben, oder der | |
| schleichenden Umstellung der Finanzstruktur zum Opfer fallen, bleibt | |
| vorerst offen. Fest steht: Mit solch einer Unsicherheit kann keine | |
| Forschung langfristig geplant werden und erfolgreich sein. | |
| In einem offenen Schreiben warnen die Mitarbeiter des Netzwerks Anfang | |
| Februar, ihr Problem sei von europäischer Bedeutung. Zum ersten Mal könnte | |
| ein EU-Mitgliedstaat offen das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit verletzen. | |
| Auch [5][deutsche Forschungsorganisationen] unterstützen das Anliegen der | |
| Akademie mit Solidaritätsbekundungen. [6][Ulf Brunnbauer, Direktor des | |
| Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS)] | |
| befürchtet in einer Stellungnahme, dass es im Sinne der von Orbán | |
| gepredigten „illiberalen Demokratie“ nicht um eine Reform der Akademie | |
| gehe, sondern um die Unterbindung unabhängiger Forschung. „Es ist eine | |
| traurige Ironie, dass eine rechtskonservative Regierung zu dem | |
| Wissenschaftsmodell des Stalinismus zurückkehren will.“ | |
| Das Präsidium der Akademie leistete bis Anfang März konsequent Widerstand | |
| und forderte eine Förderungsgarantie für alle Forschungseinrichtungen. | |
| Dennoch: Laut einer dubiosen Vereinbarung zwischen Technologieministers | |
| Palkovics und László Lovász, dem Präsidenten der Ungarischen Akademie der | |
| Wissenschaften vom 8. März ist zu befürchten, dass diese zu einem | |
| ungünstigen Kompromiss gezwungen wird. Für Szűcs, Deczki und die anderen | |
| jungen Forscher bleiben die Nächte jedenfalls erst einmal sehr unruhig. | |
| 14 Mar 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://mta.hu/english | |
| [2] /Bildung-in-Ungarn/!5393671 | |
| [3] /Ungarns-Umbau-der-Kultur/!5051404 | |
| [4] /Pressefreiheit-in-Ungarn/!5498821 | |
| [5] https://www.leopoldina.org/presse-1/pressemitteilungen/pressemitteilung/pre… | |
| [6] https://www.ios-regensburg.de/personen/mitarbeiterinnen/ulf-brunnbauer.html | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Frenyo | |
| ## TAGS | |
| Ungarn | |
| Akademie der Wissenschaften | |
| Viktor Orbán | |
| Wissenschaftsfreiheit | |
| Autonomie | |
| Ungarn | |
| europawahl Kultur | |
| Ungarn | |
| Gender Studies | |
| Ungarn | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wissenschaftsskandal in Ungarn: Wen man so Forscher nennt | |
| Ein rassistischer Orientalist leitet nun das neue Akademie-Forschungsnetz | |
| in Ungarn. Muslime möchte er am liebsten „in Schweinehäute einpacken.“ | |
| Ungarns Akademie der Wissenschaften: Die stumme Provinz | |
| Der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde radikal Budget gekürzt. | |
| Das soll ihre Integrität und Glaubwürdigkeit untergraben. | |
| Protest gegen Ungarns Regierung: Tausende demonstrieren in Budapest | |
| Auch im Jahr 2019 reißt in Ungarn der Protest gegen ein neues | |
| Überstundengesetz nicht ab. Korruption und Medienmanipulation werden | |
| ebenfalls kritisiert. | |
| Professorin über Gender-Studies-Verbote: „Ein Angriff auf die Demokratie“ | |
| Das Studienfach Gender Studies gerät europaweit immer stärker in die | |
| Kritik. In Ungarn ließ Viktor Orbán es dieses Jahr verbieten. | |
| Hochschulgesetz in Ungarn: Aus für Soros-Universität | |
| Jahrelang hat die ungarische Regierung die von dem US-Milliardär gegründete | |
| Hochschule gegängelt. Jetzt zieht die Uni nach Wien. |