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# taz.de -- Erzählband der Dichterin Ann Cotten: Wer das liest, ist doof
> Literarischer Hochleistungssport: Das neue Buch von Ann Cotten strotzt
> vor intellektueller Kraft. Aber kann es auch richtig laufen?
Bild: Gefriertrocknung spielt eine Rolle. Im Bild ein gefriergetrocknetes Eis. …
In einem manifestartigen Essay aus dem Jahr 2007 hat die Dichterin Ann
Cotten einen kurzen Abschnitt darüber geschrieben, was sie „unter dem
großen Bereich dessen, was mangels Verstehen als Unsinn etikettiert wird“
versteht. Als Beispiel dafür dient ihr ein Text von Florian Voss über
Hansjörg Zauner, ein 2017 verstorbener experimenteller Dichter und
bildender Künstler.
Dessen dichterische Arbeit charakterisiert sie so: „Fest steht, dass mit
ihnen [Zauners Texten] eine Überfülle an Bildern von einer Buntheit und
Heterogenität auf die Lesende eintrifft, dass das, was gemeinhin
Interpretation oder Verständnis genannt wird, ganz schnell unmöglich wird.
Keine Hypothesen darüber, was diese Texte aussagen sollen, sind möglich,
auch kann man nicht, wie man es gern tut, Figuren, Stimmen, Handlungen,
Emotionen herauslesen. Dabei ist nichts Hermetisches an ihnen, sondern
alles liegt offen da.“
Cottens Essay „Etwas mehr. Über die Prämissen und den Sinn von dem, was wir
mit Wörtern anzustellen imstande sind“ erschien im gleichen Jahr wie ihr
Debüt „Fremdwörterbuchsonette“. Als sie diesen Anpfiff losließ, war sie
erst 25 Jahre alt, es kann also gut sein, dass sich ihre Position
mittlerweile geändert hat, der Text ist auch nicht mehr an seinem
ursprünglichen Veröffentlichungsort zu finden ([1][lyrikkritik.de]),
sondern nur noch im Online-Archiv Wayback Machine.
## Von der Poetik begeistert
Eine Durchsicht der Cotten-Rezeption, die sowohl in Preisreden, Rezensionen
oder wissenschaftlichen Beiträgen vorliegt, sowie ein Durchgang durch ihre
seit 2007 veröffentlichten Gedichte und Erzählbände legt jedoch nahe, dass
sowohl ihr Publikum als auch sie selbst nachhaltig von der Poetik
begeistert sind, die sie an Zauner begeistert, vor allem aber selbst
ausführt.
Die neueste Installation in diesem Sinne ist der Band „Lyophilia“, der von
Suhrkamp in der Gattung „Erzählungen“ vertrieben wird. Auch hier kann man
nicht, wie man es gern tut, Figuren, Stimmen, Handlungen, Emotionen
herauslesen, auch wenn auf 460 Seiten enorme Betriebsamkeit herrscht. Der
Ankündigung des Verlages war beispielsweise zu entnehmen: „In Proteus wird
der ewigjugendliche Protagonist zusammen mit seiner Geliebten, einer
slowenischen Erfolgspolitikerin mit zwei Kindern, in ein Paralleluniversum
exportiert, in dem jede Überlegung Realität wird.“
Auch nach mehrfacher Lektüre ist mir die Sache mit dem Export unklar
geblieben, auch wenn zugegebenermaßen häufig von „Paralleluniversum“ die
Rede war. Figuren namens Ganja, Proteus, Space Cowboy, Depp oder Lore
Ipsium (Beruf: Bibliothekarin) hingegen fielen mir durchaus auf, auch dass
sie in Bands unterwegs waren, sowohl mit der Geografie Wiens als auch
Berlins vertraut waren und sich – sofern sie keine Kinder waren – für
Sexualität interessierten.
## Einsprengsel in Kanji
Zeitreisen (mittels Lyophilisation, soll heißen: Gefriertrocknung) und
interplanetarer Austausch sind jedoch ein wiederkehrendes Thema des Bandes,
wie auch das Verhältnis von Sprache und Schrift, das sich in den in der
japanischen Kanji-Schrift gesetzten Einsprengseln ausdrückt, in den auch in
vorangegangenen Cotten-Büchern erprobten Experimenten mit
Dialekttranskription aus dem Wienerischen, oder eben Fremdwörtern.
In ihrem Essay von 2007 spricht Cotten von Gedichten, vielleicht insgesamt
von Texten als Versuchsobjekten, die vor allem die Aufgabe haben, die gut
eingeübte, quasi totalitäre Fixierung auf Dechiffrierung, Verstehen und
Deuten von Texten zu durchbrechen. Diese Idee ist fresh seit Friedrich
Schlegels Athenäum-Aufsatz von 1800 „Über die Unverständlichkeit“, dessen
Refrain alle guten Postmodernen fehlerfrei absingen können, auch wenn man
sie um 3 Uhr nachts aus tiefem Schlaf oder besoffen aus der Kneipe holt.
Beliebt ist das Lob der Unverständlichkeit vor allem deshalb, weil es die
Idee enthält, dass diejenigen, welche Unverständlich beherrschen, im Besitz
einer reinen Sprache sind. Diese unterliegt nicht mehr der Illusion, stets
Bedeutung erzeugen zu können oder müssen, und hat sich somit sowohl aus
den Niederungen des Kampfes mit dem alltäglichen „Und dann ich so und er
so“ als auch dem herkömmlichen „Diese Rose muss wohl Liebe meinen“
befreit.
## Ironisierung von Gegenwartsliteratur
Cotten geht dieses Projekt in Form von Bricolage an, was an der Oberfläche
von „Lyophilia“ am deutlichsten in ihrer Entscheidung sichtbar wird, ein
polnisches Gendering zu verwenden, das sich auch in Texten der Lyrikerin
Monika Rinck findet. Cotten erklärt, dass „alle für alle Geschlechter
nötigen Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende“ kommen. Es
treten also „Greisenni“, „Teilnehmernnnie“, „Betrachterni“,
„Oberunterösterreichernnnie“ und so weiter auf.
Ihre Aufenthaltsorte sind sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft, was
sich beispielsweise dadurch ausdrückt, dass Bitcoins als allgemeine Währung
in Form von schon längst vergangener Zukunft vorkommen. Möglicherweise
handelt es sich hier um eine abgefeimte Ironisierung von einer
Gegenwartsliteratur, die sich möglichst zeitgenössisch anbiedert.
Vielleicht fordert der Text aber auch nur die Rezensentin heraus, aus einem
anderen Teil des Buches zu zitieren, in dem es heißt: „Ich versuche wie
Super Mario oder Penthesilea in die Meta-Ebene hoch zu klimmen.“
## Schlegels romantische Ironie
Der Köder ist ausgeworfen, und eventuell wird sich die kommende
Kleist-Philologie für diesen Satz begeistern. Gut sichtbar ist aber vor
allem der Köder, möglicherweise auch wiederum die Ironisierung des Köders.
Diese (Text-)Figur, die in dem vor Anspielungen und Zitaten (John Donne, H.
G. Wells, Willam James und viele andere) strotzenden Text ständig
wiederkehrt, mag die einer wiederum an Schlegel geschulten romantischen
Ironie sein, in der sich die Sprache letztlich immer wieder auf sich
zurückzieht und keiner Bedeutung endgültig zugeordnet werden kann.
Bei Cotten wird dieses Spiel allerdings nur als Haltung erkennbar, mit der
sie vor allem ihre eigene Sprache beobachtet (selbstverständlich kann es
keine Figurenrede oder Charakterisierung von Personen, schon gar nicht
durch Dialog geben): „Daher also die kindliche Diskussionsfreude. Jeder
Satz ist ein Palast.“
Das führt zu Problemen, die der Text selbst thematisiert: „Und wie es bei
Palästen ist, verliert man bald den Überblick im Versuch, die Regale
zuzuschneiden.“ Dieser Palast ähnelt allerdings vor allem Takeshis Castle,
in dem Cotten einem ständig neue Aufgaben stellt, irgendwas zwischen
Gehirnjogging und Flaschendrehen. Ganz lustig, aber als Pose auf die Dauer
etwas ermüdend.
Diese zu beschreiben und als Buch zu verkaufen ist schwer genug, und so ist
es verständlich, dass sich Cottens Verlag Suhrkamp darauf verlegt hat, die
Selbstbeschreibung der Dichterin zu verwenden, die offenbar in den letzten
Jahren davon sprach, an „Science-Fiction auf Hegelbasis“ zu arbeiten.
Während diese Äußerung mit dem Verweis versehen wurde, dass das etwas
großspurig sei, wiederholte sich damit doch wieder nur die Salamitaktik der
Autorin, das ganze Arsenal der cerebralen Pornografie vollständig
auszuschöpfen: Uni-Oberseminar (Hegel) trifft auf Nerd-Oberseminar (Science
Fiction).
## Draufgeschaffte Bildung
Es bleibt jedoch beim Gestus der Ankündigung: Hier geht es um
Hochleistungssport, bei dem Trottel und das Unterhaltungsliteratur-Publikum
nicht mithalten können; gleichzeitig ist der Text Einladung an all
diejenigen, die nun endlich ihre hart draufgeschafften Bildungserlebnisse
zur Anwendung bringen können. Und das ist ja auch schon passiert. In seiner
umfangreichen Studie zur Gegenwartsliteratur „Poetisch Denken“ hat der
Literaturwissenschaftler und Kritiker Christian Metz ausgehend von Cottens
Gedicht „Gedanken kubital“ ein gelehrtes Kapitel über „Denkraumpoesie
geschrieben“, genau genommen entwickelt er eine ganze Poetik ausgehend von
ihrer Verwendung von „kubital“.
Gegen die Einladung zum Hochleistungssport ist nichts einzuwenden, ich
trauere auch nicht darum, niemals bei den Olympischen Spielen im Eistanz
mitmachen zu können (na gut, ein bisschen vielleicht). Wenig anfangen kann
ich allerdings mit dem überdeutlichen Anspruch des Buches, als ein Test auf
literarischen Konservatismus aufzutreten, der den beliebten
Poesiealbumscherz variiert: Wer das liest (und abgefahren findet), ist
nicht doof (zumindest nicht verknöchert und heimlich doch nach süffigen
Romanen gierend).
Wer das Buch liest und doof findet, hat aber vielleicht andere Probleme mit
dem diesem Text, der vor intellektueller Kraft und Einfallsreichtum einfach
nicht richtig laufen kann. So viele schöne Versuchsobjekte, so wenig
Forschungsfragen, für die sie nutzen könnten. Ein Problem von „Lyophilia“
könnte zum Beispiel darin bestehen, dass Bücher, die ihr Publikum derartig
testen wollen, eine allzu klare Vorstellung davon haben, wer die Doofen und
wer die Schlauen sind und sich selbst gewiss scheinen, niemals in die
falsche Kategorie zu fallen.
## Die doofen Schlauen
Es ist unklar, ob die Dichterin Ann Cotten, in dieser Sicherheit selbst
immer mal wieder erschüttert wurde. 2007 gab sie an von Dingen zu sprechen,
„die wir alle längst wissen müssten, was aber leider nicht allgemein der
Fall ist“, wozu beispielsweise eine gute Kenntnis von Musils Romanen oder
die Erkenntnis, „dass wir die Sprache kaum jemals unemotional verstehen
oder verwenden“, gehören sollten. Ihre Texte deuten nicht auf Zweifel
hinsichtlich der eigenen Zugehörigkeit entlang der doof/schlau-Binarität
hin.
Der Effekt ist durchaus auch positiv, denn Cottens Literatur verfügt über
eine beneidenswerte Selbstsicherheit darin, die Leserin zu nötigen, sich
ihrem Modus anzupassen oder sogar anzuverwandeln. Diesem Diktat ist die
Kritik bislang weitestgehend begeistert gefolgt. Mir war das nicht möglich.
5 May 2019
## LINKS
[1] https://www.lyrikkritik.de/
## AUTOREN
Hanna Engelmeier
## TAGS
Gegenwartsliteratur
Suhrkamp
Avantgarde
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Literatur
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