Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Psychosoziales Netzwerk: „Nadelöhr in Versorgung erweitern“
> Simone Penka von TransVer unterstützt Geflüchtete, Menschen mit
> Migrationsgeschichte und Fachkräfte auf der Suche nach Hilfe bei
> psychischen Problemen.
Bild: Simone Penka, Mitgründerin von TransVer
taz: Frau Penka, stellt das deutsche Gesundheitssystem Menschen mit einer
Migrations- oder Fluchtgeschichte, die Hilfe bei psychischen Problemen
brauchen, vor besondere Probleme?
Simone Penka: Im psychosozialen Bereich stellt das Gesundheitssystem auch
viele andere Menschen vor Probleme. Welcher Facharzt, welche Stelle ist
zuständig, wie ist der Weg dorthin? Viele denken heutzutage automatisch an
Psychiater oder Psychotherapeuten. Es gibt aber noch viele andere Angebote,
zum Beispiel Eingliederungshilfen – das sind Leistungen über das Sozialamt
– die bei psychischen Erkrankungen förderlich sein können. Überforderung
und Unkenntnis betreffen oft Menschen mit geringerem Bildungshintergrund,
Ältere und eben auch Menschen mit Migrationsgeschichte. Daher hielten wir
es für sinnvoll, eine Anlaufstelle zu haben, die das Nadelöhr in die
psychische Versorgung erweitert, aber auch Fachkräfte unterstützt und
sensibilisiert.
Wie geht TransVer dabei vor?
Wir bieten Menschen mit Migrationsgeschichte die Vermittlung in
psychosoziale Einrichtungen an. Wir machen Vorschläge und versuchen, Orte
zu finden, wo sie Behandlung oder Versorgung bekommen. Das ist vor allem
dann schwierig, wenn Betroffene geringe Deutschkenntnisse haben. Da der
Prozess sehr komplex ist, ist es wichtig, das Versorgungssystem zu kennen
und entsprechende Erfahrung zu haben. Man kann dann auch kreativ nach Orten
suchen, wo Menschen gut aufgehoben sind. Zudem wollen wir über Angebote für
Fachkräfte dazu beitragen, deren Unsicherheiten zu beseitigen. Wir wollen
sie dazu motivieren, auch mal mit Sprachmittler*innen oder teils mit Händen
und Füßen zu arbeiten. Und drittens haben wir eine Datenbank, bei der
Fachkräfte gezielt nachschauen können, in welcher Einrichtung es welche
Sprachkompetenzen gibt und wo gezielt hin vermittelt werden kann.
An zwei bis drei Tagen pro Woche beraten Sie und Ihr Team Menschen mit
psychischen Problemen, die Migrationsgeschichte haben oder flüchten
mussten. Wie sieht die Beratung aus?
In einem Erstgespräch schauen wir, wer uns gegenübersitzt. Oft werden
Menschen von Fachkräften aus Unterkünften, Jobcentern oder der Schule zu
uns geschickt, häufig mit dem Hinweis, dass eine Psychotherapie notwendig
sei. Aber wir lassen die Menschen erst einmal von ihrer Lebenssituation und
ihren Problemen erzählen und vermitteln dann bedarfs- und
ressourcenangemessen.
Tauchen bestimmte psychische Erkrankungen unter Geflüchteten häufiger auf?
Ja. Posttraumatische Belastungsstörungen treten bei Geflüchteten
vergleichsweise häufiger auf in Folge von traumatisierenden Erfahrungen.
Solche Erfahrungen haben viele Geflüchtete gemacht, aber nicht bei allen
führen sie zwingend zu einer psychischen Erkrankung. Es gibt auch Menschen,
die schon in ihrem Herkunftsland unter einer psychischen Erkrankung litten
und die in Deutschland weiterer Behandlung bedürfen. Bei TransVer stellen
sich auch viele Personen mit affektiven Erkrankungen wie etwa Depressionen
vor. Häufig sind diese Folge der schwierigen Erfahrungen und unklaren
Lebenssituation in Deutschland.
Spielt dabei auch der Aufenthaltsstatus der Betroffenen eine Rolle?
In der jüngeren Forschung wird das bestätigt. Auch bei uns zeichnet sich
ab, dass Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus deutlich depressiver
sind und häufiger Suizidgedanken haben als die mit einem gesicherten
Aufenthalt. Ähnlich ist es bei denen, die geringere oder keine deutsche
Sprachkompetenz haben. Es ist schwierig, teilzuhaben, wenn die Sprache
fehlt. Es ist aber ein Kreislauf: Wenn man zum Beispiel eine Depression
hat, ist es wiederum sehr schwer, eine neue Sprache zu lernen.
Wie lange dauert eine Beratungsperiode normalerweise?
Der überwiegende Teil der Beratungen dauert kürzer als einen Monat mit drei
persönlichen Gesprächen. Andere kommen länger als ein halbes Jahr hierher,
bis sie weitervermittelt sind. Diese Wartezeit überbrücken wir dann teils
mit unterstützenden Gesprächen. Wir sind aber keine Sondereinrichtung für
Migrant*innen und Geflüchtete, sondern wollen Menschen ins psychosoziale
Regelversorgungssystem bringen – und es umgekehrt für diese Gruppen
zugänglicher machen. Gerade Berlin hat so viele qualitativ hochwertige
Angebote. Eigentlich ist es ein Muss, dass diese Angebote für alle Menschen
geöffnet sind.
Bei TransVer betreuen Sie Menschen aus über 50 Herkunftsländern mit mehr
als 50 verschiedenen Muttersprachen. Wie machen Sie das?
Dienstags haben wir feste Farsi-Mittler*innen, donnerstags feste
Arabisch-Mittler*innen vor Ort. Einer unserer Kollegen spricht Türkisch,
ein anderer spricht Polnisch. Bei kurdischsprachigen Hilfesuchenden und
vielen anderen Sprachen vereinbaren wir einen Termin mit
Sprachmittler*innen.
Sie bieten auch Trainings für Fachkräfte an. Warum?
Der Kenntnisstand unter Fachkräften ist sehr unterschiedlich. Nach 2015
wurden zum Beispiel viele Quereinsteiger eingestellt, deren Kompetenz vor
allem in ihrer nicht-deutschen Muttersprache gesehen wird. Deren fachliche
Qualifikationen sind aber sehr unterschiedlich. Das ist eine große
Zielgruppe, die viele Fortbildungsangebote in Anspruch nimmt. Wichtig ist
uns, keinen kulturalisierenden Ansatz zu verfolgen. Stattdessen streben wir
Selbstreflexion als Schlüsselkompetenz für alle Fachkräfte an.
Wie meinen Sie das?
Viele Fachkräfte denken, dass kulturelle Differenzen die größte
Herausforderung in der Begegnung mit Hilfesuchenden mit
Migrationsgeschichte sind. Eine junge Workshop-Teilnehmerin meinte neulich,
sie habe das Gefühl, ihrer Klientin aus Afghanistan nicht gerecht zu
werden, weil sie ihren kulturellen Hintergrund nicht kennt. Wenn man aber
einzig Kulturunterschiede fokussiert, gibt es so wenig Verbindendes.
Darüber, dass auch psychisch Kranke sehr divers sind, macht man sich oft
keine Gedanken – weil man immer über die „Kultur“ nachdenkt. Wenn Sie
jemand im Ausland fragen würde, was die deutsche Kultur ist – würden Sie
das Gleiche sagen wie ich? Ich glaube: nein. Es wirkt immer so einfach,
nach der „syrischen Kultur“ oder der „türkischen Kultur“ zu fragen. Ab…
was ist das eigentlich? Es gibt so viele unterschiedliche Lebenswelten
innerhalb der Länder.
Was raten Sie stattdessen?
Vielleicht hat man ja viel mehr Gemeinsamkeiten, als man wahrnimmt. Einen
Bildungshintergrund oder eine Geschichte, die sich ähnelt. Man kann Fragen
stellen. Das macht man doch auch bei vermeintlich ähnlichem Hintergrund.
Wenn ich jemanden frage, wie es bei ihr oder ihm zu Hause gewesen ist,
signalisiert das Interesse und ermöglicht eine erste Begegnung, die in der
psychosozialen Arbeit so wichtig ist.
Bis Ende 2019 fördert die Lotto-Stiftung Ihr Projekt. Bei der
Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung haben Sie
bereits einen Antrag auf Weiterfinanzierung gestellt – doch bisher ohne
Antwort. Was können Sie aber tun, wenn bis Ende des Jahres keine
Rückmeldung kommt?
Durch die Mittel der Lotto Stiftung Berlin konnten wir in kurzer Zeit
Kontakte aus- und aufbauen. So entstand ein psychosoziales Netzwerk in
Berlin, von dem Berliner Fachkräfte und auch psychisch Belastete
profitieren – und das weiterbestehen sollte. Es wäre mehr als bedauerlich,
wenn nach dem erfolgreichen Einstieg keine weitere Perspektive entstünde.
Wir sind mit großem Enthusiasmus gestartet und haben das Haus, in dem wir
arbeiten, selbst renoviert. Es steckt sehr viel Herzblut in allem. Wir
hoffen, dass das Land Berlin diesen großen Wert erkennt. Wenn wir weiter
geöffnet sein sollten, wollen wir für die gesamte Berliner Bevölkerung ab
18 Jahren zugänglich sein. Für viele Stellen in Berlin, für Betroffene und
Angehörige ist unsere Arbeit eine unglaublich große Entlastung. Wir tragen
dazu bei, die psychosoziale Regelversorgung für alle Menschen in Berlin zu
öffnen.
23 Apr 2019
## AUTOREN
Anima Müller
## TAGS
Psychische Erkrankungen
Beratungsstelle
Geflüchtete
Migrationshintergrund
Bremen
Muslime in Deutschland
Die Linke Berlin
Hostel
Bildungschancen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Psychotherapeutin über Migrant*innen: „Ich will diese Menschen sichtbar mach…
Saher Khanaqa-Kükelhahn hört als Psychotherapeutin viele Geschichten von
Migration. 28 von ihnen schildert sie in ihrem Buch „Mein Ich – mein
Zuhause“.
Junge Muslima in Deutschland: Lasst uns an einem „Wir“ arbeiten!
Als junge muslimische Frau in Deutschland erfährt man oft, dass man nicht
wirklich dazugehört. Es ist an der Zeit, die Gesellschaft differenzierter
zu denken.
Kommentar Solidarische Stadt: Versprecht nicht zu viel
Die Linke träumt von einem städtischen Ausweis für alle. Rot-Rot-Grün hat
in dieser Hinsicht schon einige Erwartungen geweckt. Erfüllt sind keine.
Hostelbetreiber unter Verdacht: Aus der Notlage Geld machen
Landeskriminalamt ermittelt: Aus der Wohnungsnot von Geflüchteten und
Obdachlosen wird durch Abrechnungsbetrug Profit geschlagen.
Mangelhafter Unterricht für Geflüchtete: Recht auf Schule
In niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen soll es bald richtigen
Unterricht geben. Den Grünen und der FDP geht das nicht weit genug.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.