# taz.de -- Eine Seele von Mensch: „Mein Leben lang hart gearbeitet“ | |
> Ihre Änderungsschneiderei hat Kultstatus im Schöneberg Kiez. Nun schließt | |
> die 76-Jährige ihren Laden. Marica Grosinic geht zurück nach Kroatien. | |
Bild: Weil die Schneiderin Marica Grosinic nach vielen Jahren ihr Geschäft in … | |
taz: Frau Grosinic, in zwei Wochen schließen Sie Ihre Änderungsschneiderei. | |
Wissen Ihre Kunden Bescheid? | |
Marica Grosinic: Die meisten sind inzwischen informiert. Ich habe ein | |
Schild an die Tür gehängt, dass alle Sachen bis zum 26. April abgeholt | |
werden müssen – wegen Geschäftsschließung. | |
Was passiert mit den Kleidungsstücken, die übrig bleiben? | |
Was noch gut ist, gebe ich dem Roten Kreuz. Den Rest schmeiße ich in den | |
Müll. | |
Wie reagieren die Kunden? | |
Sie sind traurig. | |
Und wie geht es Ihnen damit? | |
Ich bin auch traurig, manchmal sehr. (kämpft mit den Tränen) Aber ich freue | |
mich auch, dass ich zurück nach Hause gehe. | |
Nach Hause, wo ist das? | |
Kroatien, Zagreb. | |
Wie lange haben Sie in Deutschland gelebt? | |
Ja, fast 50 Jahre! Ich bin 1971 alleine nach Berlin gekommen. Mein Mann ist | |
fünf Jahre später mit einem Touristenvisum nachgekommen. Er war Schneider, | |
wie ich. Unsere Tochter ist in Kroatien geblieben. Das war hart. Sehr hart. | |
(wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen) | |
Ihre Tochter war ein Jahr alt, als Sie nach Berlin gegangen sind. Warum | |
haben Sie sie nicht mitgenommen? | |
Als ich nach Deutschland gegangen bin, habe ich nicht gedacht, dass ich so | |
lange hier bleibe. Vielleicht fünf, sechs Jahre habe ich gedacht, dann gehe | |
ich wieder zurück. | |
Wo war Ihre Tochter in dieser Zeit? | |
Bei meiner Schwester in Kroatien. Sie hatte drei kleine Kinder, ein | |
bisschen älter als meine Tochter. Sie haben zusammengelebt wie Bruder und | |
Schwester. | |
Und später, warum haben Sie das Kind da nicht nachgeholt? | |
Als meine Tochter zehn Jahre alt war, wollten wir, dass sie zu uns zieht. | |
Aber sie wollte lieber in Kroatien bei der Familie meiner Schwester | |
bleiben. Es ist schön da. In den Ferien haben wir sie oft gesehen. Sie hat | |
uns in Berlin besucht oder wir sind hingefahren. Manchmal haben wir noch | |
nachgefragt, aber sie hat gesagt: nach Deutschland gehe ich nicht. Niemals. | |
Mein Mann und ich beschlossen dann, dass wir noch ein bisschen in | |
Deutschland bleiben, und haben aber gleichzeitig angefangen, in Kroatien | |
ein Einfamilienhaus zu bauen. Aber das hat gedauert – wir hatten ja nicht | |
viel Geld. Dann ist mein Mann krank geworden und konnte nicht mehr | |
arbeiten. Als er dann starb – er hatte Krebs –, musste ich alles alleine | |
bezahlen. Das Haus und den Unterhalt für meine Tochter. | |
Wie konnten Sie sich das leisten? | |
Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Die DeTeWe… | |
… die Deutschen Telephonwerke… | |
… die hatten 1971 Leute gesucht. Über die Arbeitsvermittlung war ich nach | |
Berlin gekommen. Zuerst habe ich Telefone montiert, aber auch andere | |
Arbeiten gemacht – alles am Fließband. Dann wurde die Abteilung geschlossen | |
und ich habe wieder in meinem alten Beruf gearbeitet. Nähen habe ich immer | |
geliebt. Später haben mein Mann und ich uns als Änderungsschneider | |
selbstständig gemacht. In Kroatien hatte ich Textiltechnikerin gelernt und | |
dort schon zehn Jahre in einer Fabrik gearbeitet. Erst hatten wir einen | |
Laden in der Maaßenstraße in Schöneberg. Nach dem Tod meines Mannes bin ich | |
dann zweimal mit dem Geschäft umgezogen. Den Laden hier in der | |
Winterfeldtstraße 1 hatte ich 16 Jahre lang. | |
Waren Sie mal kurz davor, alles hinzuschmeißen? | |
Oh ja, oftmals. Die Zeit nach dem Tod meines Mannes war sehr schwierig. | |
Dann hatte ich einen schweren Unfall, einen schlimmen Beinbruch. Ich bin | |
lange an Krücken gegangen, jahrelang konnte ich nicht richtig laufen. Da | |
habe ich gekämpft. Aber die Kunden haben mir Mut gemacht. Sie standen mit | |
guten Ratschlägen zur Seite und haben mir auch mal finanziell geholfen. Ich | |
habe viele gute Menschen aus unterschiedlichen Nationen kennen gelernt. Das | |
hat mir Energie gegeben. Deshalb bin ich in Berlin geblieben. | |
Haben Sie das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen? | |
Ja! Wo gehöre ich hin? | |
Was sagt Ihnen Ihr Herz? | |
Beides. Kroatien ist mein Zuhause, aber ein Teil von mir gehört auch | |
hierher – nach Berlin. Eigentlich ist das sogar der größere Teil: so viele | |
Jahre, wie ich schon hier bin. | |
Sie sind 76. Warum hören Sie gerade jetzt auf? | |
Der Mietvertrag läuft aus. Ich hätte verlängern können, aber ich will nicht | |
mehr. | |
Sollte die Miete für den Laden erhöht werden? | |
Ja, aber das wäre nicht viel gewesen. Einmal muss Schluss sein. Aber das | |
tut weh! Die Kunden sind meine Familie. | |
Werden Sie in Zagreb in dem Haus leben, das Sie dort gebaut haben? | |
Ja, ich habe dort ein Schlafzimmer. Ich werde mit meiner Tochter, meinem | |
Schwiegersohn und meinen zwei Enkelkindern zusammenleben. Meine Tochter | |
drängelt schon lange, dass ich endlich kommen soll. | |
Wovon werden Sie leben? | |
Ich habe eine Rente, das ist zwar nicht so viel, aber ich lebe ja bei | |
meiner Tochter. Ich bin kein Mensch, der Millionen braucht. (lacht) Ich bin | |
zufrieden mit dem, was ich habe. | |
Hat Ihnen Ihre Tochter mal Vorwürfe gemacht, nach dem Motto: Du warst nicht | |
für mich da? | |
Nein, überhaupt nicht. Sie ist ja heute auch schon fast 50 Jahre alt. Sie | |
auch Textiltechnikerin wie ich. Aber es gibt keine Textilfabriken mehr. | |
Alle schließen und wandern nach Asien ab. | |
Haben Sie Ihr Reiseticket nach Kroatien schon gekauft? | |
Nein! Bis Ende April muss ich den Laden auflösen, danach meine Wohnung im | |
Wedding – immer langsam. | |
Wie oft waren Sie in den letzten Jahren zu Hause? | |
Zuletzt nur noch einmal im Jahr – zu Weihnachten – früher auch mal im | |
Sommer. Meine Tochter ist öfter gekommen mit ihrem Mann und den Kindern. | |
Und die Enkelkinder waren auch schon alleine hier. | |
Worauf freuen Sie sich am meisten? | |
Dass ich nicht mehr alleine für alles verantwortlich bin. Das ist eine | |
Last. Ich muss immer organisieren, an alles denken, die Rechnungen | |
bezahlen, Nähgarn und Waren besorgen. Jeden Tag von morgens bis abends | |
arbeiten. Früher hat mir das nichts ausgemacht und ich habe auch gerne neue | |
Sachen genäht. Später habe ich mich aufs Reparieren und Flicken | |
konzentriert. Aber auch das fällt mir immer schwerer. | |
Sagen Sie zu den Kunden auch mal, dieses Kleidungsstück ist so kaputt, das | |
nehme ich nicht an? | |
Ich nehme alles an, auch Sachen, wo es sich eigentlich nicht mehr lohnt und | |
ich denke, das ist mir eigentlich zu viel Arbeit. Zum Teil ist es sehr | |
schwierig, die Sachen wieder so schön zu machen, dass man sie weiter tragen | |
kann. Wenn ich es dann doch mache, sagen die Kunden oft: Du bist die Beste. | |
(lacht) | |
Ihre Preise seien viel zu niedrig, heißt es. | |
Mir ist aufgefallen, dass die Leute immer weniger Geld haben: Es gibt viele | |
Arme hier und ich liebe diese Menschen. Man kann nicht alles in Rechnung | |
stellen. Ich bin froh, wenn die Leute zufrieden sind, und habe nie | |
Reklamationen. Manchmal kommen aber auch neue Kunden und sagen, ich sei zu | |
teuer. Ich antworte dann: Tut mir leid, aber Sie können nicht ein | |
Kleidungsstück für 14 Euro kaufen und es dann für zwei Euro reparieren | |
lassen. Das geht nicht, ich muss ja auch leben. Sie sind dann nicht böse. | |
Ihr Geschäft grenzt ans Rotlichtviertel. Bekommen Sie davon etwas mit? | |
Früher hatte ich viele Prostituierte als Kundschaft. Da drüben auf der | |
anderen Seite der Winterfeldstraße haben sie gestanden. ‚Oh Mama‘ haben sie | |
immer zu mir gesagt. Jetzt stehen sie in der Bülowstraße. Ich habe viel | |
erlebt in Berlin. Viele gute Sachen, manchmal auch schlechte. | |
Was haben die vielen Marienbilder in Ihrem Laden zu bedeuten? | |
Ohne Gott geht es nicht. Früher habe ich nicht so stark geglaubt. Jetzt | |
frage ich mich, was ist passiert mit dieser Welt? Ich gehe regelmäßig in | |
die Kirche, auch manchmal abends nach der Arbeit. | |
Die Frage, in Deutschland zu bleiben oder zurückzugehen, beschäftigt viele | |
Migranten, wenn sie alt werden. | |
Ich kenne viele, die hier bleiben. Ihre Kinder sind hier geboren. Sie sind | |
Rentner und bleiben da, wo ihre Kinder sind. Oder sie sind ein halbes Jahr | |
dort und sechs Monate hier. Wenn meine Tochter hier leben würde, würde ich | |
auch hier bleiben, sicher. Aber alleine? Trotzdem kenne ich das Leben in | |
Kroatien nur noch vom Urlaub. Meine Freunde von früher sind auch schon | |
gestorben oder weggezogen. | |
Und wer tritt hier an Ihre Stelle? | |
Das weiß ich nicht. Je näher der Abschied kommt, umso mehr muss ich weinen. | |
Und die Kunden auch: Sie bringen mir Blumen mit und Schokolade. Ich muss | |
nach Hause und noch ein bisschen leben, versuche ich mich zu trösten. Aber | |
das fällt mir so schwer! | |
17 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Berlin-Schöneberg | |
Kroatien | |
Verdrängung | |
Handwerk | |
Abschied | |
Gewerbesteuer | |
Brennpunktschulen | |
Verdrängung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zu Besuch in einer Brennpunktschule: Wer hat hier ein Problem? | |
Die Spreewald-Grundschule in Schöneberg geriet wegen angeblicher | |
„Gewaltexzesse“ in die Schlagzeilen. Jetzt soll alles besser werden. | |
Mietenwahnsinn in Berlin: Schwarm gegen Gentrifizierung | |
Die Menge macht’s: Der queere Sonntags-Club im Prenzlauer Berg geht mit | |
Crowdfunding gegen eine Mieterhöhung von 1.000 Euro an. | |
Kneipenkollektiv droht Rauswurf: Bald vorbei mit Meuterei | |
2019 ist das Jahr der bedrohten linken Räume in Berlin. Nach dem Syndikat | |
und der Potse droht nun dem Kneipenkollektiv Meuterei der Rauswurf. |