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# taz.de -- Die Wahrheit: Legende am Ende der Welt
> Arno Schmidts Jünger geschockt: Das Gasthaus Bangemann in Bargfeld, die
> Saufzentrale aller Schmidtianer, ist geschlossen!
Bild: Antike Ansicht des Gasthauses Bangemann in Bargfeld
Nun dachte ich immer, dem bibliophilen Österreicher ginge es mit Arno
Schmidt wie mir mit Heimito von Doderer. Man hat nichts gelesen, aber den
Namen und den Rang kennt man schon – und an guten Tagen fällt einem sogar
noch die „Strudlhofstiege“ ein. Aber es ist ja alles viel schlimmer. Der
gemeine Homo Austriacus hat noch nie etwas von Arno Schmidt gehört, nicht
einmal der Germanist. Ich kann das sogar statistisch erhärten. Beide mir
bekannten Literaturwissenschaftler, aus Wien und Innsbruck, hatten null
Checkung. Das sind 100 Prozent.
So richtig böse sein kann ich ihnen dennoch nicht. Mein Heimatdorf liegt
Luftlinie zwanzig Kilometer von Schmidts Heidedomizil Bargfeld entfernt,
und ich habe auch ein Vierteljahrhundert gebraucht, ihn zu entdecken. Ein
belesener Braunschweiger Linguistikprofessor charterte am Ende des
Semesters einen Bus und machte mit dem Hauptseminar eine Pilgerfahrt nach
Bargfeld, und als mir die Dorfnamen immer bekannter vorkamen, wurde mir
einiges klar: Mein Deutschlehrer hatte versagt. Von dem Ex-Nazi war nichts
anderes zu erwarten gewesen. Er hatte einen Granatsplitter im Körper – und
der „wanderte“.
Ich wusste also von „Seelandschaft mit Pocahontas“ so wenig wie von der
„Strudlhofstiege“, und schon gar nicht, dass der Autor dieser wohl
schönsten Liebesgeschichte der Nachkriegsliteratur quasi in der
Nachbarschaft wohnte. Zum Glück für Arno Schmidt. Wahrscheinlich hätte ich
mich irgendwann aufs Bonanza-Rad gesetzt und bei ihm nachgefragt, ob man
„davon“ leben könne.
All das erzähle ich jenem befreundeten Germanisten aus Wien, und er schlägt
stracks vor, die Exkursion nach Bargfeld zu wiederholen. Ein paar
Kolleginnen schließen sich an, und schon geht es los bei Nieselregen und
einem Himmel, der gleich über der Straßenlaterne beginnt. Echtes
Schmidtwetter.
## Arschbomben vom Dreier
„Hänigsen 2 km“ steht auf einem Schild. Im hiesigen Freibad, erkläre ich
meinen Mitfahrern, soll Arno Schmidt seine gefürchteten Arschbomben vom
Dreier gemacht haben. Wir halten schließlich vor dem Haus der Stiftung, und
die ausgelassene Stimmung meiner Begleiter bekommt einen ersten Dämpfer.
„Das habe ich mir aber anders vorgestellt“, mault die Jungakademikerin, als
sie den roten Klinkerbau in Augenschein nimmt. „Böll, Kunert, Lenz,
meinetwegen, aber Schmidt? Nööö!“
Als uns Susanne Fischer, die ebenso fröhliche wie auskunftsfreudige Chefin,
durch den Garten zum graugestrichenen Holzhäuschen führt, kommt die gute
Laune allerdings zurück. Ja, das ist die malerisch vermuffte Einsiedelei,
in die so ein Kauz gehört. Die winzigen Räume, das kleinbürgerliche, betont
antimondäne Mobiliar, das schon zu Schmidts Lebzeiten komplett aus der Mode
war. Der Puppenküchenherd mit den zwei Kochplatten, mehr brauchten Arno und
Alice nie. Dass ihm in dieser Umgebung so viele Witze eingefallen sind,
erstaunt einen beinahe.
Die mit alten Schinken vollgestellte Bibliothek duftet angemessen nach
Literaturhistorie. Farbige Paperbacks fehlen ganz, dafür stehen Schmidts
Favoriten Wieland, Moritz, Gutzkow, Karl May, Lafontaine an Ort und Stelle.
Aber dann zieht Frau Fischer mit einem feinen Lächeln „Die Wahrheit über
Arnold Hau“ von Robert Gernhardt, F. W. Bernstein und F. K. Waechter aus
dem Regal. „Das freut mich immer“, sagt sie. Anstreichungen sind leider
nicht drin. Ob er das gelesen hat? Jedenfalls hat er es nicht
weggeschmissen.
Die Germanistenbande fragt Frau Fischer ein Loch in den Bauch, und sie
schüttelt ihr enzyklopädisches Wissen aus dem Ärmel, ohne aufzutrumpfen,
mit der freundlichen Gelassenheit einer Kindergärtnerin.
Schließlich wird es Zeit für Bangemann. Bargfelds zweiter Wallfahrtsort.
Jürgen Bangemanns Spelunke war Poststelle, Bürgermeisterei,
soziokulturelles Zentrum – und Seelsorge des Dorfs. Hier fanden sich einst
im Mai 1970 fünf Schmidt-Süchtlinge zusammen, die Jörg-Drews-Connection, um
bei Malteserkreuz und Wittinger Pils das Erscheinen von „Zettels Traum“ zu
zelebrieren. Bangemann wurde nolens volens zum Nestor der
Schmidt-Philologie, als er der lustigen, aber immer noch nicht vollends
behämmerten Truppe einen „kleinen Heidelikör“ aufschwatzte. Der „Ratzep…
brach dann alle Dämme, und die Furious Five gründeten das folgenreiche
„Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat“.
Das war nur der Anfang. Im Jahr darauf hatte sich die Zahl der
Syndikalisten bereits vervierfacht. Jetzt wurden sie komplett
größenwahnsinnig. „Warum nicht ein Zentralorgan für unseren
Kleingartenverein herausgeben?“, rief Jörg Drews mit stinkendem
Aquavit-Atem. „Titelvorschlag: Bargfelder Bote. Hiermit angenommen.“
## Permanenter Belagerungszustand
Gleichzeitig, nur 150 Meter entfernt, wähnte sich das Ehepaar Schmidt in
permanentem Belagerungszustand. „2 bärtige Kerle wollen übers Tor, hängen
mit’m Oberkörper drüber“, warnte Arno Schmidt entsetzt seine Alice. Gerade
hatte sich nämlich Spiegel-Reporter Gunar Ortlepp mit seinem Fotografen
aufgemacht zur totalen Investigativrecherche. In den Folgenächten lungerten
von Bangemanns Heidelikör befeuerte Stalker unterm Schlafzimmer ihres
Orakels. „Schmiiiiidt!“
Ihnen und all den anderen Hundertschaften abgewimmelter Fans und Addicts
späterer Jahre bot Bangemann stets eine Heimstatt, um sich die Kante zu
geben. Nur allzu Frustrierte musste er manchmal bremsen. „Trinkt nicht so
viel, werdet ihr nur besoffen von!“ Ich selbst saß hier mit meinem Seminar
vor einer gewaltigen Wurstplattenschweinerei und immer neuen Wittingern.
Und als sich unser Professor behaglich eine Pfeife ansteckte, nickte
Bangemann nur wohlgefällig. „Damit der Husten in Gang kommt.“
Bangemanns Auskunftsbereitschaft kannte ohnehin keine Grenzen. Einmal
überfiel ihn eine junge Schmidtianerin mit vor Erwartung tremolierender
Stimme. „Und Sie haben Arno Schmidt noch gekannt?“ Er sah kurz auf und
antwortete erschöpfend. „Joooooo.“ Die Legende ist schon oft erzählt
worden. Von mal zu mal wird die Reihe der Os länger.
Aber was trägt uns heute der Buschfunk zu? Dem Bangemann sei die Frau
weggelaufen. Danach habe er keine rechte Lust mehr gehabt zu arbeiten,
worauf seine Kneipe bald schon pleitegegangen sei. Wir geben nichts auf den
Dorfklatsch und überzeugen uns lieber selbst. Es stimmt tatsächlich, die
Lichter sind erloschen, die Türen verriegelt. Bangemann, die Tankstelle der
Schmidt-Forschung, hat dichtgemacht. Die Götter weinen Aquavit.
15 Apr 2019
## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Arno Schmidt
Bargfeld
Bangemann
Umweltschutz
Heavy Metal
Öffentlicher Nahverkehr
Göttingen
Heavy Metal
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