# taz.de -- Kolonial-Performance in Hamburg: Mit der Lehmrakete in die Zukunft | |
> Persönliche Perspektiven auf den Kolonialismus: Das Performance-Kollektiv | |
> Hajusom präsentiert „Azimut dekolonial“ auf Kampnagel. | |
Bild: Zerklüftete koloniale Landschaft: In diesem Labyrinth verliert man sich … | |
Nach zwei Stunden ist der ganze Boden übersät mit lehmigen Schuhabdrücken. | |
Ein Kreuz und Quer abgeschrittener Wege zieht sich so durch die | |
labyrinthisch verschachtelte Installation, die das Hamburger transnationale | |
Kunstprojekt [1][Hajusom] für sein aktuelles Stück „[2][Azimut dekolonial �… | |
ein Archiv performt]“ aufgebaut hat. Einige dieser Spuren stammen von den | |
16 Performer*innen, die meisten aber vom Publikum, das sich während des | |
Abends frei durch den szenischen Parcours in Halle K2 auf Kampnagel bewegt. | |
Verschachtelt war schon der Tunnel, durch den man zu Beginn in kleinen | |
Gruppen eingelassen wurde, vorbei an einer riesigen Rakete aus Lehm, von | |
deren Baustelle das durch den Raum getragene Spurenmaterial stammt. | |
In der Mitte einer Freifläche, um die herum sich ein schroffes | |
Tribünengebirge auftürmt, voller Höhlen und Klüfte, in denen sich mit | |
Treppen verbundene Spielstätten verstecken, stehen sich zwei Reihen von | |
Performer*innen gegenüber. In einem Kontratanz wechseln sie in immer neuen | |
Konstellationen Positionen und Perspektiven. | |
Es ist ein Tanz, der dem Abend eine Richtung gibt, denn immerzu geht es um | |
die Vielfalt von Positionen und Perspektiven – und die Möglichkeit, sie zu | |
wechseln, zu überlagern oder zu überschreiben. | |
## Zerklüftete Erinnerungen | |
Dann beginnt die Jüngste der Performer*innen – gerade mal neun Jahre alt | |
ist sie – vom gemeinsamen Auftrag zu erzählen: All die ungehörten | |
Geschichten zu Gehör zu bringen, all die Geschichten ans Licht zu bringen, | |
die „unter der Erde wachsen“ – weil sie von Toten handeln, von der Gewalt, | |
die ihnen durch den Kolonialismus angetan wurde; und von den durch | |
koloniale Strukturen geschlagenen individuellen und gesellschaftlichen | |
Wunden, deren Folgen die Hajusom-Performer*innen bis heute am eigenen Leib | |
spüren. Bis auf eine sind alle von ihnen in anderen Ländern aufgewachsen, | |
bevor sie als Geflüchtete oder auf anderen Wegen nach Deutschland gekommen | |
sind. | |
Überall geht es um Wege an diesem Abend, um die Verbindungen von | |
Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften, um die Möglichkeit, sich | |
gemeinsam zu orientieren. Denn auf einen Punkt bringen, das wird schnell | |
deutlich, lassen sich all die Perspektiven nicht, die hier in | |
verschiedenen, immer wiederholten kleinen Szenen, auf Fotos oder in der | |
Musik auftauchen. | |
„Die Wege“ – nichts anderes bedeutet auch der aus dem Arabischen kommende | |
titelgebende Begriff Azimut. In der Astronomie bezeichnet er einen nach | |
Himmelsrichtungen orientierten Horizontalwinkel und dient der Navigation. | |
Aber, das ist die zentrale Frage des Stücks: Sehen wir alle dieselben | |
Sterne? | |
## Wege durch den Kolonialismus | |
Entstanden ist das Projekt im Anschluss an die Performance „[3][Silmandé]“, | |
die sich vor zwei Jahren mit dem Klimawandel, der Macht und den | |
Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit dem Planeten, dessen Ressourcen und | |
Bewohner*innen auseinandergesetzt hat. Auch „Azimut“ nunh ist als offene | |
Frage formuliert: Wie schlägt sich der Kolonialismus in der eigenen und der | |
erzählten Geschichte nieder? Und auf welchen Wegen lässt sich eine neue | |
gemeinsame Zukunft finden, die aus der kolonialen Gewalt herausführt? | |
Auf verschiedenen Wegen haben sich die Performer*innen dafür in den | |
vergangenen Monaten auf die Suche nach ganz persönlichen Antworten begeben; | |
haben mit dem [4][Arbeitskreis „Hamburg postkolonial“] zusammengearbeitet | |
und in der Hajusom-eigenen Bibliothek recherchiert. Vor allem aber sind sie | |
in ihren Familien auf Spurensuche gegangen, haben in ihren eigenen | |
Erinnerungen gewühlt, sind zu Familienmitgliedern nach Burkina Faso, | |
Nigeria, Mali oder Chile gereist, haben Großeltern oder Nichten interviewt. | |
Auf der Grundlage dieser Erinnerungen haben sie schließlich den frei | |
begehbaren Szenen-Parcours mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten | |
entwickelt. | |
An einer Station geht es etwa mit aus Kakao angemischten Farben um die | |
(post-)koloniale Ökonomie und die bis heute wirksame rassistische | |
Hautfarbenlehre der europäischen Aufklärer, allen voran Kant und Hegel. | |
Auch an einer zweiten Station taucht die Kakaosoße auf: Ein Performer und | |
eine Performerin sitzen im Schoko-Bad und plaudern zu den Klängen einer | |
Band („Ich versteh’ kein Wort, aber es klingt so schön, was ihr singt!“) | |
über grenzenlosen Genuss, aber auch über Ausbeutung und Sexismus. | |
Es sind nur fragmentarische Schlaglichter auf eine komplexe koloniale | |
Situation: Da braucht es schon einen [5][Quantencomputer] fürs Handgelenk, | |
mit dem eine der Performer*innen all die Informationen sammelt: um die | |
unterschiedlichen Perspektiven und Wahrheiten über Zustände zu | |
verschränken. Tatsächlich beginnen all die Antwort-Fragmente sich immer | |
mehr zu einem Kaleidoskop aus Perspektiven und Geschichten zu überlagern, | |
beginnen Töne, Symbole und Satzfetzen miteinander zu resonieren. | |
Wie schon in „Silmandé“ setzt Hajusom auch in „Azimut“ ganz auf die Kr… | |
der Kooperation eines vielfältig gebrochenen Kollektivs. Und am Ende hebt | |
die Lehmrakete tatsächlich ab, angetrieben von der Macht der Erinnerungen | |
und Wünsche, die dieses hinreißend lebendige Archiv hier entwickelt hat: | |
eine transnationale Rakete auf dem Weg in eine offene Zukunft. Eine | |
Zukunft, in der Platz für alle ist – auch für die „Ausradierten“. | |
30 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hajusom.de | |
[2] https://www.hajusom.de/index.php?id=1639 | |
[3] /!5411510/ | |
[4] http://www.hamburg-postkolonial.de/ | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Quantencomputer | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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