# taz.de -- Wohnungslose Jugendliche: Theater nach dem Essen | |
> Kultur und praktische Hilfe gibt es bei der Kontakt- und Beratungsstelle | |
> KuB für wohnungslose Jugendliche. Einfach nur mit Beratung sind sie kaum | |
> zu erreichen. | |
Bild: Einblick in einen Raum des Übernachtungsangebots „Sleep-in“ der KuB | |
Lea* kommt eine Stunde zu spät zur Theaterprobe und will erst mal was | |
essen. Micha steht auf der Bühne, hat den Text nicht gelernt und klagt über | |
Kopfschmerzen. Erik, laut Regisseurin ein schauspielerisches Genie, ist da, | |
schläft allerdings nach kurzer Zeit auf dem Sofa ein. Und Marie läuft | |
wütend aus dem Raum, weil sie sich übergangen fühlt. | |
„Ich muss wahnsinnig flexibel sein“, sagt Margareta Riefenthaler. Seit über | |
zwanzig Jahren studiert sie in der [1][Kontakt- und Beratungsstelle KuB] | |
mit jugendlichen Wohnungslosen Theaterstücke ein. Im aktuellen Stück, das | |
die Theaterleiterin selbst geschrieben hat, geht es um das Mädchen Luci: | |
Ein Junge aus ihrem Freundeskreis hat verletzende Bilder von ihr ins Netz | |
gestellt. | |
Ob die, die gerade die Szene proben, bei der Aufführung da sein werden, | |
kann Riefenthaler nicht mit Sicherheit sagen. Die Zeichen in ihrer | |
Anwesenheitsliste neben den rund 30 Namen sehen aus wie Mondsymbole: ein | |
Vollmond für „War da und hat mitgearbeitet“, ein Halbmond für „War anfa… | |
da, ist aber zwischendrin gegangen“, ein Neumond für „War da, hat aber | |
nicht mitgemacht.“ | |
## Selbstvertrauen gewinnen | |
Zusammen mit ihrer Assistentin ringt Riefenthaler in der Probe um jeden | |
Satz. Fordert hier mehr Betonung, dort mehr Lautstärke ein. „Die | |
Jugendlichen gewinnen durch die Proben auch mehr Selbstvertrauen“, sagt | |
sie. Wieder und wieder gehen sie die Szene durch, Riefenthalers Assistentin | |
schreibt mit, wenn die Jugendlichen eigene Formulierungen finden. Nach fünf | |
Durchgängen seufzt Micha resigniert auf. „Passt auf, gleich ändert sie | |
wieder was.“ Ihn plagen immer noch die Kopfschmerzen. Wie abgesprochen | |
verschwinden die Jugendlichen nach der ersten Szene erst mal in die | |
Raucherpause. | |
An drei Nachmittagen in der Woche ist Theaterprobe in der KuB am | |
Kreuzberger Südstern. Es gibt dort noch mehr Angebote: ein Tonstudio und | |
Mal-, Zeichen- oder Töpferkurse, aber auch ein warmes Essen, eine | |
Kleiderkammer und die Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Regelmäßig kommen | |
eine Kinderärztin und eine Tierärztin. Diese Angebote dienten auch dazu, | |
die KuB für die Jugendlichen interessant zu machen, sagt Leiter Robert | |
Hall. „Nur mit Beratung kriegen wir sie nicht. Die meisten Jugendlichen | |
sind ihr ganzes Leben lang von Sozialarbeiter*innen beraten worden, und es | |
hat ihnen nicht weitergeholfen.“ | |
Die Einrichtung wolle ein „vertrauensvoller und zuverlässiger Baustein im | |
Netzwerk der Jugendlichen“ sein, daher sei das Angebot so niedrigschwellig | |
wie möglich. Und allen, die neben den Freizeitangeboten und der praktischen | |
Hilfe auch eine Beratung wünschten, könnten die Mitarbeiter*innen | |
Unterstützung anbieten oder sie weitervermitteln. | |
Vor einem halben Jahr ist die KuB von der Fasanenstraße am Zoo in die | |
Müllenhoffstraße im Graefekiez zwischen Kottbusser Damm und Südstern | |
umgezogen. Das habe ihre Arbeit nicht verändert oder eingeschränkt, die | |
Jugendlichen nähmen den neuen Ort gut an, sagt Leiter Hall. Nur mit der | |
Nachbarschaft müssten sie noch warm werden. Besser gesagt: die | |
Nachbarschaft mit der KuB. Es habe Beschwerden gegeben, Nachbarn hätten die | |
Jugendlichen verdächtigt, Fahrräder zu klauen, oder sie hätten sich am Lärm | |
der relativ häufigen nächtlichen Notarzt-Einsätze und sogar am Licht aus | |
den Fenstern der Einrichtung gestört, so Hall. Deshalb soll das neue | |
Theaterstück auch im Kiez gezeigt werden, um die Akzeptanz des Umfelds zu | |
stärken. | |
Am Bahnhof Zoo ist die KuB weiterhin aktiv: Mehrmals in der Woche stehen | |
hier, am Alexanderplatz und an der Warschauer Brücke Sozialarbeiter*innen | |
mit ihrem Bus und einer Notversorgung. Seit 25 Jahren zu denselben Zeiten | |
an denselben Orten. Dadurch hätten sie sich Vertrauen erarbeitet, sagt | |
Sozialarbeiterin Anna Baer, die seit 22 Jahren für die KuB arbeitet. Für | |
Jugendliche sei das Leben auf der Straße in dieser Zeit um einiges härter | |
geworden. „Sie wollen heute nicht mehr erkannt werden, sie wollen nicht, | |
dass andere sehen, dass sie auf der Straße sind“, sagt sie. Früher hätten | |
sie sich wie Punks gekleidet, in Gruppen zusammengesessen und gezeigt, dass | |
sie nicht dazugehören wollen. | |
„Heute haben wir mehr sehr junge Jugendliche als vor 15, 20 Jahren, die | |
auch länger auf der Straße bleiben und mehr und härtere Drogen | |
konsumieren“, sagt Baer. Psychische Auffälligkeiten hätten stark | |
zugenommen, sei es durch Drogenkonsum oder verschlechterte Versorgung. | |
Ihrer Beobachtung nach habe sich auch das Hilfsnetz ausgedünnt. „Heute | |
dauert es Monate, bis wir jemanden, der von der Straße weg will, vermittelt | |
haben.“ | |
Jugendhilfeeinrichtungen hätten oft keine Plätze oder wollten keine | |
Jugendlichen aufnehmen, die Drogen nehmen oder sich an keinerlei Regeln | |
halten wollen, so Baer. „Wir haben Jugendliche, die haben fünf, sechs | |
Einrichtungen hinter sich und sogar in der Psychiatrie inzwischen | |
Hausverbot. Ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass das geht.“ Spätestens | |
aber, wenn sie das erste Mal auf der Straße richtig krank werden, wollten | |
viele „einfach ein Bett, in dem sie liegen können und jemanden, der ihnen | |
einen Tee bringt“. | |
## Mit den Tieren zum Sleep-in | |
In der KuB gelten nur drei Grundsätze: keine Gewalt, kein Drogenhandel, | |
keine Waffen. „Regeln und Verbote haben sie woanders genug. Wir wollen | |
ihnen zeigen: Wir nehmen dich so, wie du bist“, sagt die Sozialarbeiterin. | |
Die Jugendlichen können zwölf Nächte pro Monat im Sleep-in der KuB | |
übernachten, auch mit ihren Tieren. In Doppelzimmern mit einfachen Betten, | |
aber ohne Regale oder andere Abstellmöglichkeiten. Denn morgens müssen alle | |
die Einrichtung wieder verlassen. | |
Lea hat inzwischen ihren Teller leergegessen und stellt sich für ihre Szene | |
in die hinterste Ecke der als Bühne benutzten Hälfte des Aufenthaltsraumes. | |
Sie spielt eine der Freundinnen von Hauptfigur Luci. Theaterleiterin | |
Riefenthaler bemüht sich, sie hervorzulocken, fordert sie auf, aus sich | |
herauszukommen und lauter zu sprechen. „Ich kann das nicht so laut“, sagt | |
Lea genervt nach der dritten Korrektur. „Genau so, wie du jetzt wütend auf | |
mich bist, spiel auch die Rolle! Dann versteht dich das Publikum auch sehr | |
gut“, beharrt Riefenthaler. Es dauert dann noch mehrere Durchgänge. Doch am | |
Ende steht Lea nicht mehr ganz so weit hinten und erreicht mit ihren Sätzen | |
den ganzen Raum. | |
* Die Namen aller Jugendlichen sind zu ihrem Schutz geändert | |
4 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kub-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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