Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hilfe für Obdachlose: Räumen oder reden?
> In Berlin gibt es viele Notunterkünfte für Obdachlose. Trotzdem sind
> wieder Menschen erfroren. Wann darf man sie zwingen, Hilfe anzunehmen?
Bild: Ein Obdachloser schläft unter einer Unterführung am Berliner Bahnhof Zoo
Berlin taz | Er lag auf einer Bank, als sie ihn fand. An einem
Sonntagmorgen im Januar entdeckte die Passantin ihn auf ihrem Weg durch den
Volkspark Humboldthain im Berliner Stadtteil Wedding. Der obdachlose Mann,
Mitte 50, war tot, in der eisigen Nacht erfroren. Ein weiterer starb Ende
Januar auf dem Gelände eines ehemaligen Schwimmbads. Nach Angaben der
Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe sollen in diesem Winter
schon insgesamt elf obdachlose Menschen in Deutschland erfroren sein.
Dabei gab es etwa in Berlin noch nie so viel Hilfe für obdach- und
wohnungslose Menschen wie heute. Der Berliner Senat unterstützt bis zu 50
Träger der Wohnungslosenhilfe, im Winter öffnen Nachtcafés,
Notübernachtungen, Tagesstätten, Treffpunkte, Suppenküchen. Zwischen
Oktober und April fahren Kältebusse durch die Stadt, Tausende
Berliner*innen haben die Nummer in ihren Handys gespeichert. Zwei
U-Bahn-Stationen werden jede Nacht als Kältebahnhöfe offen gehalten. Noch
nie gab es so viele Plätze zum Übernachten. Und doch: Menschen sterben.
Warum werden auch heute, trotz zahlreicher Angebote, so viele Menschen
nicht erreicht? Wie wären sie zu erreichen? Oder hat Hilfe schlicht
Grenzen? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt zu den Orten, an
denen man Obdachlose trifft und Sozialarbeitende versuchen, sie
anzusprechen. Und sie führt in das Büro eines Bürgermeisters.
Seit Oktober 2016 ist Stephan von Dassel Bezirksbürgermeister von
Berlin-Mitte. Der Grünen-Politiker gilt beim Thema Obdachlosigkeit als
rigoros. Vor anderthalb Jahren ließ er ein Zeltlager im Berliner Tiergarten
räumen. Im Januar veröffentlichte die taz ein Video von der Räumung eines
Obdachlosencamps in der Nähe des Hauptbahnhofs: Eine Frau sitzt da auf
einer Bank, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auch die Knöchel
zusammengebunden. Plötzlich stülpen zwei Polizeibeamte von hinten ein
weißes Tuch wie einen Sack über den Kopf der Frau, die erschrickt, aber
sich nicht mehr wehren kann. Die Polizist*innen führen sie ab, die
Stadtreinigung entsorgt danach ihren Besitz.
Das Video sorgte für Empörung. „Es ist schon unerträglich, dass Mitte
räumen lässt, ohne den Menschen Hilfe anzubieten, aber der Umgang der
Polizei ist mindestens genauso unerträglich“, schrieb Sozialsenatorin Elke
Breitenbach von der Linken auf Twitter. Stephan von Dassel dagegen dankte
den Beamten „für ihr umsichtiges und engagiertes Handeln“. Die
„katastrophalen Zustände vor Ort“ seien Anlass für „zahlreiche
Bürgerbeschwerden“ gewesen.
Das Bild von der an Armen und Beinen fixierten Frau mit dem Tuch über dem
Kopf habe auch ihn bestürzt, sagte er damals. Er hoffe aber, dass das
„konsequente Handeln des Bezirksamts dazu beiträgt, dass obdachlose
Menschen die vorhandenen Hilfen annehmen“. Und er twitterte: „Niemand muss
in Berlin draußen schlafen, niemand muss hungern! Es ist nicht sozialer,
Menschen draußen in ihrem Elend zu lassen, als sie zur Hilfeannahme zu
nötigen.“
Wenige Tage später empfängt er in seinem Büro im zweiten Stock des
Rathauses Tiergarten. Von Dassel, Anfang 50, in einem schwarzen Pullover
und mit eulenaugenrundem Brillengestell, kommt direkt zur Sache: „Die
Wahrnehmbarkeit von Obdachlosigkeit nimmt in Berlin dramatisch zu.“
Welche Ursachen sieht er dafür? „Der angespannte Wohnungsmarkt ist
sicherlich ein Teil davon.“ Kündigungen seien einfacher durchzusetzen,
Wohnungen dagegen immer schwieriger zu finden. Insbesondere wenn die
Referenzen nicht die besten sind – „man kein regelmäßiges Einkommen hat
oder gerade aus dem Gefängnis kommt“. Zudem kämen mehr Obdachlose als
früher aus Ungarn, Polen und Tschechien nach Berlin.
Die EU-Freizügigkeit sieht vor, dass EU-Bürger*innen sich entscheiden
dürfen, in welchem Land sie arbeiten, dass sie aber auch bleiben können,
wenn sie zum Beispiel nicht erwerbstätig sind, aber über ausreichende
Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen. Oder auch, wenn sie
auf Arbeitssuche sind. In einigen Städten erkennen die Ausländerbehörden
die EU-Freizügigkeit immer häufiger ab, wenn die Arbeitssuche unrealistisch
erscheint. In Berlin dagegen sei der „Umgang mit der EU-Freizügigkeit von
Menschen, die keine Chance auf Arbeit haben, ungeklärt“.
Ein angespannter Wohnungsmarkt, der generelle Zuzug nach Berlin, der Zuzug
aus anderen EU-Ländern, die fehlende politische Handhabe, das alles seien
Gründe für die Zunahme von Obdachlosigkeit, sagt von Dassel. Und trotzdem
sind die Notunterkünfte nicht überfüllt, auch in kalten Nächten bleiben
viele Plätze leer.
Warum also nehmen Menschen die vorhandene Hilfe nicht in Anspruch? „So
unterschiedlich die Biografien von obdachlosen Menschen sind, so
unterschiedlich sind auch diese Gründe“, sagt der Bürgermeister. In den
Einrichtungen dürften die Menschen etwa keine Drogen konsumieren und ihren
Hund nicht mitnehmen.
„Aber das sind Probleme, die zu lösen wären“, sagt von Dassel und schenkt
sich eine Tasse Tee nach. „Andere Ursachen sitzen viel tiefer. Die
Statistiken sagen, drei Viertel der Menschen, die auf der Straße leben,
sind psychisch krank.“ Ein Beleg ist die „Seewolfstudie“, eine Studie üb…
die Bewohner*innen von Einrichtungen der Wohnungshilfe München. Sie legt
nahe: Psychische Krankheit und Obdachlosigkeit hängen miteinander zusammen.
Und das in beide Richtungen: Viele landen auf der Straße, weil sie
psychisch krank sind. Aber auch das Leben auf der Straße macht krank. 93
Prozent der Befragten sind in ihrem Leben schon einmal psychisch krank
gewesen. 74 Prozent brauchen den Ärzt*innen zufolge sogar aktuell eine
Behandlung.
Mehr als die Hälfte der Obdachlosen lebt mit einer oder mehreren
Persönlichkeitsstörungen. Sie verhalten sich oft antisozial, narzisstisch,
leiden unter starken emotionalen Schwankungen oder wirken auf andere Art
höchst egozentrisch. Auch wenn Suchterkrankungen die mit Abstand häufigste
Erkrankung unter den Wohnungslosen war, war sie nur bei knapp einem Drittel
der Befragten die Hauptdiagnose. Bei allen anderen kam sie erst später
dazu, oft wohl als Mittel der Betäubung anderer Schmerzen.
„Wir benötigen dringend einen niedrigschwelligen psychiatrischen Zugang zu
vielen Obdachlosen“, sagt von Dassel. Er kennt die Studie. Und er kennt
auch selbst solche Geschichten: die einer zierlichen schwarzen Frau etwa,
die davon überzeugt ist, eigentlich gar nicht schwarz, sondern verzaubert
worden zu sein. Zudem sei sie sicher, dass das Rathaus Tiergarten ihr Haus
sei, alle anderen es schleunigst verlassen müssten. Oder die Geschichte
einer Frau, die gerne Hilfe annehmen würde, aber sich von der CIA bedroht
fühlt, sobald sie ins Sozialamt geht.
Mit Menschen wie ihnen wünscht sich von Dassel einen anderen Umgang. „Die
Gesellschaft macht es sich zu leicht, wenn sie sagt, das sei der freie
Wille der Person, sie hat ein Recht auf ein solches Leben. Ich sage, wenn
man so krank ist, hat man keinen freien Willen. Dann ist man getrieben von
dem Wahn, den man im Kopf hat.“ Menschen sterben lassen zu müssen, obwohl
so viele Kälteplätze vorhanden seien wie nie, findet er paradox. Und
schmerzhaft. Dieses „lassen zu müssen“, es sagt schon eine Menge aus über
von Dassels Vorstellung, wie Kältetote zu verhindern wären. Der Politiker
will mehr Zwang, weniger Freiwilligkeit.
„Ich möchte bestimmt nicht in die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts zurück,
in der jeder, der ein bisschen anders ist, in eine Zwangsjacke gesteckt
wird. Aber ich möchte schon, dass wir da mutiger werden.“ Um zu handeln,
wenn ein Mensch im Begriff ist, zu erfrieren, das aber nicht mehr selbst
begreift. Demjenigen auch gegen seinen Willen und zur Not mit
Zwangsmaßnahmen helfen. „Das klingt schrecklich, aber wir müssen uns das
trauen.“ Um Leben zu retten und um die Menschen, wie von Dassel sagt, dann
am Wickel zu haben. Um sich weiter kümmern zu können.
## Regeln, die für alle gelten
Es sind die beiden Fragen, die ihn momentan am meisten umtreiben: Wie viel
freien Willen lässt man jemandem gegenüber sich selbst? Und: Was kann ich
zulassen, weil die Gesellschaft es aushält, wo aber muss man konsequent
sein, weil sie es nicht mehr aushalten muss?
Den Mann im Schillerpark, der mit Fäkalien wirft, müsse niemand aushalten.
Auch nicht das Camp im Tiergarten, für dessen Räumung er so hart kritisiert
wurde. „Da gab es Gewalt, Gewalt gegen Schwächere, gegen Frauen. Dann
braucht es auch ein klares Signal, dass wir das nicht zulassen.“ Und die
Frau im taz-Video? „Natürlich hätte es mehr gebracht, sie irgendwie anders
zu erreichen. Eine psychiatrische Begutachtung wäre sicherlich sinnvoll
gewesen. Genau da müssen wir besser werden.“
Zwang, wenn nötig, einen besseren psychiatrischen Zugang und konsequent
sein, wenn Regeln verletzt werden, die für alle andere Menschen gelten. Das
ist von Dassels Plan. Aber dieser Ansatz trennt ihn von den meisten
Sozialarbeitenden. „Die sagen zu mir, Räumung ist keine Lösung, und ich
sage: Stimmt, Nichträumen aber auch nicht.“ Ein Konflikt, der stärker als
anderswo im Berliner Bezirk Mitte köchelt.
Von Dassel gilt als besonders räumungsfreudig, auch wenn es um kleinere
Gruppen von Obdachlosen geht. Er sagt, im Jahr gebe es knapp 100 Einsätze,
die zum Ziel hätten, dass obdachlose Menschen ihre Lager auflösten oder das
wilde Campieren einstellten. Das seien nicht alles Räumungen, oft reiche
es, wenn Mitarbeitende des Ordnungsamts erscheinen. „Wir haben nun mal
nicht in jeder Situation Monate Zeit, und der öffentliche Raum muss für
alle nutzbar sein.“
Von Dassel sagt, würden die Streetworker mehr mit ihm kommunizieren, ihm
sagen, wenn sie an einer Person dran sind, die sie „in wenigen Wochen“ im
Hilfesystem hätten, dann würde er sie machen lassen. Solange andere
Menschen nicht gefährdet würden. Heute aber sei es so, dass die wenigsten
Hinweise von den Streetworkern kämen. Stattdessen würden Mitarbeitende des
Ordnungsamtes, der Polizei oder Bürger auf Obdachlose aufmerksam machen.
Die Streetworkerinnen Zuza Maczynska und Ana-Maria Ilisiu sind bereit für
ihre Schicht. Pullover über Pullover haben sie übereinandergezogen, Jacke
über Pullover, Jacke über Jacke. Mützen auf den kurzgeschnittenen Haaren,
gleich ziehen sie durch den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Sie
arbeiten für Gangway, einen Freien Träger. Maczynska und Ilisiu gehören zum
Team „Drop Out Xhain“, das mit erwachsenen Wohnungslosen arbeitet. Bevor
sie starten, überlegen sie, welche Orte sie anlaufen möchten und
entscheiden sich, an einer U-Bahn-Station anzufangen.
„Unser Konzept basiert auf Freiwilligkeit“, erzählt Zuza Maczynska auf dem
Weg dorthin. „Wir respektieren unsere Klienten und machen das, was sie uns
sagen. Das heißt, wir akzeptieren auch, wenn jemand auf der Straße bleiben
will. Helfen aber natürlich, wenn er da weg möchte.“ Ana-Maria Ilisiu
ergänzt: „Wir zwingen die Menschen zu nichts. Wir machen Angebote, zeigen,
welche Möglichkeiten es gibt.“
Wenn sie zu den Menschen gehen, verstehen sie sich als Gäste, und Gäste
schreiben ihrem Gastgeber nun mal nichts vor. Wenn es bitterkalt ist, dann
insistieren sie, fragen, ob die Obdachlosen ein Handy und die Nummer des
Kältebusses eingespeichert haben, sagen ihnen, wo sie übernachten und sich
aufwärmen können. Aber ob sie das dann wahrnehmen, entscheiden die Menschen
immer noch selbst.
Die Hilfe zur Selbsthilfe ist ein Kernelement der Sozialen Arbeit. Und
„akzeptierende Ansätze“ wie der, nach dem Gangway arbeitet, wurden
insbesondere nach den 1968ern populär, sind heute mehr die Regel denn die
Ausnahme. Dem stehen etwa Zuchthäuser in absolutistischen Gesellschaften
gegenüber.
Als die Streetworkerinnen an der U-Bahn-Station ankommen, ist es, als
hätten alle auf sie gewartet: Die Männer vor den Ticketautomaten, von denen
zwei zusammengehören und einer mit seinem lilafarbenen Einkaufstrolley
allein ist. Der Mann, der zwischen den beiden Bankautomaten bei den Treppen
sitzt und lethargisch ins Leere starrt.
Maczynska und die beiden Männer am Ticketautomaten kommen sofort ins
Gespräch, reden in schnellem Polnisch miteinander. Ilisiu widmet sich dem
dritten Mann, der jedem Menschen, der ein Ticket ziehen möchte, freundlich
signalisiert, ihm helfen zu wollen, dann aber nur eine einladende
Handbewegung macht, als stünde er vor einem Zirkuszelt und würde zur
Vorstellung bitten.
Ilisiu versucht, ihn auf Rumänisch anzusprechen, doch darauf reagiert er
nicht. Aus ihrem Rucksack zieht sie einen Flyer mit Anlaufstellen der
Berliner Kältehilfe. „Den haben wir jetzt auch auf Bulgarisch.“ Sie hält
dem Mann das Papier hin. Der aber schaut gar nicht darauf. Ilisiu schiebt
es ihm direkt vor die Augen und fragt. „Kannst du das lesen?“
## Vertrauen aufbauen dauert
Der Mann guckt an dem Papier vorbei und macht dann immer wieder die
gleiche, fahrige Bewegung. Er führt Daumen und Zeigefinger zum Mund, öffnet
und schließt die Lippen. Ilisiu imitiert die Geste, sagt: „Ja, wir können
dir zeigen, wo du essen kannst. Und auch schlafen?“ Sie legt ihren Kopf an
die gefalteten Hände. Er nickt wild. „Wir bringen dich sofort hin“, sagt
Ilisiu, setzt Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand abwechselnd
voreinander. Mit der linken Hand hält sie zwei Finger in die Höhe. Zwei
Minuten, dann ist auch die Kollegin so weit.
Der Mann will aber nicht warten. Macht immer wieder die gleichen
Bewegungen, will losstürmen, bis Ilisiu ihn kurz vor der Straße aufhält.
„Wir gehen sofort“, sagt sie mit Nachdruck, wiederholt die Gesten für
Gehen, Essen, Schlafen und Warten und blickt sich zu Maczynska um. Die gibt
den beiden polnischen Männern gerade Visitenkarten, sagt dann „Wir können
los“, doch jetzt will der Mann mit dem lilafarbenen Trolley nicht mehr.
Ist es besser, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, obwohl er doch nach Hilfe
verlangt hatte? „Es ist besser, später und morgen wiederzukommen, als ihn
jetzt zu überreden“, sagt Ilisiu. Und: „Vertrauen aufzubauen dauert lange.
Nicht Tage oder Wochen, sondern Monate, manchmal Jahre. Das dauert Herrn
von Dassel zu lange.“ Und was ist mit den Regeln, die von Dassel betont
hat, an die sich alle halten müssten? Ilisiu fragt zurück: „Welche Regeln
sind so wichtig, dass wir sie an alle Menschen gleichermaßen anlegen
müssen? Sollen wir an psychisch Kranke, Suchtkranke, wirklich die gleichen
Maßstäbe ansetzen wie an uns?“
Ilisiu kann viele Gründe nennen, warum manche Obdachlose auch bei
klirrender Kälte nicht in Notunterkünfte wollen. „Vielen ist es zu laut, zu
stressig, sie sagen, in den Einrichtungen sind sie schon beklaut worden,
hätten Läuse bekommen. Viele haben sich schlichtweg daran gewöhnt, für sich
zu sein. Sie wollen ihre Ruhe haben.“ An Ilisius linker Seite läuft jetzt
Kollegin Maczynska, sie sagt: „Es bräuchte mehr Angebote, wo Menschen
allein oder als Paar hineinkönnen, ihren Hund mitnehmen und ihre Drogen
konsumieren könnten.“
Und es bräuchte dringend mehr niedrigschwellige psychiatrische Angebote.
„Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen, die mit Menschen in ganz
schwierigen Situationen arbeiten können“, sagt Maczynska. „Die haben dann
keine Kapazitäten, um die Menschen aufzunehmen. Aber überall anders fliegen
sie raus, weil sie psychisch krank, suchtkrank, aggressiv sind – und nicht
immer eine Krankenversicherung haben.“ Die Krankenversicherung ist in
Deutschland Teil der Sozialleistungen. Um darauf Anspruch zu haben, müssen
EU-Bürger*innen eine Arbeit finden.
Ende 2016 hatte die Bundesregierung beschlossen, EU-Bürger*innen für fünf
Jahre von Hartz-IV-Leistungen und Sozialhilfe auszuschließen, wenn sie in
Deutschland noch nie gearbeitet haben. Bezirksbürgermeister Stephan von
Dassel sagt, dass Menschen, die in Deutschland keine Ansprüche haben,
irgendwann zurückmüssen. Und das dies für einige besser wäre. „Das ist
Quatsch“, sagt Ilisiu. „Sogar die, die nur nach Deutschland kommen, um zu
betteln, können von dem Geld die Schule ihrer Kinder in Rumänien bezahlen.
Sie werden bleiben.“
Als die Streetworkerinnen um eine Ecke biegen, kommt ihnen ein Mann
entgegen. Er schiebt einen voll beladenen Kinderwagen vor sich her, trägt
eine Perücke auf dem Kopf. „Willst du den mal ansprechen?“, fragt Maczynska
ihre Kollegin. Schon wissend, dass der Mann Rumäne ist. Während des
Gesprächs trinkt er immer mal wieder aus seiner Flasche Bier, gerade stehen
kann er nicht mehr. Dann fängt er an zu weinen, redet dabei weiter,
verschluckt sich, wie ein Kind nach einem Sturz. „Er sagt, er vermisst
seine Mutter“, übersetzt Ilisiu. Sie ruft die Polizei an, weil der Mann ein
Formular möchte, mit dem er eine Anzeige aufgeben kann, er sei beklaut
worden. Sie verabreden sich für den nächsten Tag.
„Die Soziale Arbeit hat ihre Grenzen“, sagt Maczynska. Das notorisch
fehlende Geld, die zu geringen Kapazitäten. Und: „Wir wissen natürlich
nicht, wie mit bestimmten psychischen Problemen umzugehen ist.“ In anderen
Ländern arbeiteten Sozialarbeitende, Psychotherapeuten und Psychologen in
den Einrichtungen zusammen. In Deutschland passiere viel zu wenig
interdisziplinär, sagt Ilisiu. Was wäre also mit Psychiatern und
Psychotherapeuten, die gemeinsam mit Sozialarbeitenden losziehen würden?
„Das wäre eine fantastische Idee“, sagt Maczynska. Es ist die Idee, die
auch Stephan von Dassel hat.
Findet man dann nicht vielleicht doch zusammen? Ilisiu sieht skeptisch aus.
Wenn von Dassel das denke, müsse er auch entsprechend handeln. Und was wäre
zum Beispiel mit dem Fäkalienwerfer vom Schillerpark? Und der Frage, ob die
Gesellschaft ihn aushalten muss? „Ich würde auf Aufklärung im Kiez setzen,
Verständnis einholen, alles, bevor dieser Mann mit Gewalt und Zwang
weggebracht werden müsste“, sagt Ilisiu. „Wir brauchen Solidarität, keine
Ausgrenzung.“
Die wenigsten Fälle sind eindeutig – wie auch der der Frau, die auf dem
Leopoldplatz im Wedding lebt. Egal, wen man dort fragt, jeder kennt sie.
Der junge Mann hinter der Theke der Leo-Apotheke, sagt „Ja, natürlich, sie
ist immer hier, läuft mit ihrer Decke die Straße auf und ab.“ Und die
wohnungslose Frau vor dem Netto-Eingang lallt: „Eine arme Person ist das.“
Dann schwenkt sie die Flasche Bier in ihrer Hand. „Läuft hier rum, hat was
Dickes über ihre Schultern geworfen. Ist nicht ganz da.“
Zu der Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe, die jeden Mittwochabend
am Leopoldplatz stattfindet, kommt die Frau nicht, aber auch die
Obdachlosen, die da sind, kennen sie. „Ja, klar“, sagt Uli, der eigentlich
anders heißt und trotz der Kälte nur eine dünne Sportjacke von Galatasaray
Istanbul trägt. „Die sehe ich oft. Aber mit ihr gesprochen habe ich noch
nie.“ Heute gibt es bei der Essensausgabe indisches Curry, Obstsalat,
Wurst- und Käsebrötchen, Zimtschnecken, Vanillequark, und weil nicht so
viele kommen wie sonst, darf sich jede*r mehr von allem nehmen. Uli stopft
fünf Päckchen Vanillequark in seine Woolworth-Tasche.
Auf seinem Heimweg geht Uli auch an dem Lager der Leopoldplatz-Frau vorbei.
Es sieht jetzt aus wie ein Bett, das am Morgen überstürzt verlassen wurde.
Übereinander geworfene Decken, Kissen mit tiefen Kopfabdrücken, daneben auf
dem Bürgersteig, wie sonst vielleicht auf einem Nachttisch, eine Schale mit
Clementinen, am anderen Ende des Bettes ein Kamel als Kuscheltier. Die Frau
ist nicht da, und sie kehrt in den kommenden Stunden auch nicht zurück.
Am nächsten Morgen, einem Freitag, ist Markt auf dem Leopoldplatz. Neben
einem kleinen Kaffeewagen sitzt die Frau im Schneidersitz, mit einem
offenen Schlafsack um die Schultern. Sie wünscht sich einen Kaffee, obwohl
ein halb gefüllter Becher vor ihr steht. Was sie hier macht? „Ich putze
Himmel und Erde“, sagt sie, so selbstverständlich, als hätte sie soeben
erzählt, sie sei von Beruf Friseurin. Sie klingt dabei ein bisschen genervt
und gestresst – so wie andere Menschen von ihrer anstrengenden Arbeit
erzählen. „Ja, ja, das ist schon ganz schön viel“, sagt sie seufzend.
Ihre braunen Haare stehen wirr vom Kopf ab, einige verfilzte Strähnen ragen
in die Luft. Sie ist so schmutzig, dass ihr Alter schwer zu schätzen ist,
sie könnte 40, aber auch 60 Jahre alt sein. Auf die Frage, wie sie heiße,
antwortet sie mit einem Wort, das wie „Marlies“ klingt, aber auch etwas
ganz anderes meinen könnte.
„Alles muss ich putzen, die ganzen Häuser, Burgen und Schlösser.“ Die Frau
lächelt viel, während sie spricht, und zeigt dabei ihren letzten,
eisbergförmigen Zahn, rechts unten. „Samstags, wenn hier Flohmarkt ist,
putze ich auch den Platz, aber das mache ich nur, weil ich die Leute so
mag.“ Ob sie sich denn vorstellen könne, auch einmal woanders zu leben, als
am Leopoldplatz. „Nein, nein, nein“, sagt sie, als wäre das nicht nötig.
„Ich bleibe hier.“
Wenn es aber doch wieder richtig kalt würde, könnte sie sich dann
vorstellen, auch mal, sei es nur für eine Nacht, in eine Unterkunft zu
gehen? „Nein, das geht ja nicht“, antwortet sie. „Früher wäre das
vielleicht mal gegangen, als die Häuser alle noch leer waren. Aber jetzt,
das sehe ich ja immer, steht so viel Kram drin, Möbel und Menschen, und da
ist kein Platz für mich.“ Und sie habe dafür ja auch überhaupt keine Zeit.
„Was ich alles putzen muss!“
Stephan von Dassel kennt die Frau seit Jahren. Schon als Sozialstadtrat
versuchte er, sie ins Hilfesystem zu bringen. „Zu einem zielführenden
Gespräch bin ich aber nie mit ihr gekommen.“ Die Frau habe ihm erzählt,
dass sie auf den Leopoldplatz aufpasse. Ihn nicht verlassen könne, weil er
sonst untergehen und alle Menschen sterben würden, nur ihretwegen. Hilfe
brauche sie keine.
Jetzt sagt die Frau: „Ich putze und habe alles im Blick. Dann ist alles
gut.“ Dass der Leopoldplatz untergehen würde, wiederholt sie an diesem Tag
nicht. Ihre Geschichten variieren. Was aber immer gleich bleibt: Sei es, um
zu putzen oder um die Menschen zu retten – den Leopoldplatz kann sie nicht
verlassen.
Ist das nun eine Frau, die eindeutig nicht mehr in der gleichen Welt lebt
wie die Menschen um sie herum? Die nicht mehr einschätzen kann, was ihr
freier Wille ist und was nicht? Wäre es richtig, diese Frau für ein paar
Wochen in die Psychiatrie zu bringen? Oder sie am Leopoldplatz zu lassen?
Wenn Menschen auf der Straße nicht mehr vernünftig ansprechbar sind, kann
der sozialpsychiatrische Dienst gerufen werden. Dessen Mitarbeiter*innen
beurteilen, ob die Person weiß, in welcher Situation sie sich befindet, ob
sie selbst entscheiden kann, wie stark sie gefährdet ist. Oder ob sie sie
mitnehmen müssen. Mal landet ein Mensch so für eine Woche im Krankenhaus,
mal für sechs Wochen in der Psychiatrie. Und danach wieder auf der Straße.
Oft passiert aber auch gar nichts.
Wie viel ihres Willens ist bei der Frau am Leopoldplatz frei, wie viel ist
im Wahn gefangen? Wie wäre das einzuschätzen, bei einem Kälteeinbruch, bei
minus 20 Grad? Von Dassel sagt: „Vielleicht bekommt sie einen Herzinfarkt,
wenn man sie vom Leopoldplatz wegholt. Vielleicht wird sie, wenn sie
bleibt, nicht 80, sondern nur 55. Ich wünsche mir ein anderes Leben für
sie.“ Auf die Frage, wie viel freien Willen jemanden gegenüber sich selbst
zuzumuten ist, hat von Dassel in diesem Fall keine Antwort gefunden. Auf
die andere Frage schon: „So jemanden hält die Gesellschaft aus.“
Auch Streetworkerin Ana-Maria Ilisiu hadert. Wie ihr helfen? „Dem Kältebus
Bescheid sagen, damit der sie im Auge behält. Zur Kleiderkammer fahren und
ihr wärmere Sachen besorgen. Immer wieder zu ihr gehen.“ Sie nicht sterben
lassen, sie vor allem aber zu nichts zwingen.
1 Mar 2019
## AUTOREN
Hanna Voß
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Obdachlosigkeit
Kältehilfe
Späti
Putzen
Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit
Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit in Hamburg
Lesestück Recherche und Reportage
Polen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Berlin und Spätis: Grüner sagt Spätis den Kampf an
Der Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) will gegen die
Sonntagsöffnungen der Spätis in Mitte vorgehen. Mehr Kontrollen geplant.
Anleitung zum Saubermachen: „Aufräumen, bevor man putzt“
Der Frühjahrsputz steht an. Viele kapitulieren schon beim Staubwischen.
Eine Reinigungsfachfrau gibt Profitipps, wie man seine Wohnung richtig
putzt.
Zeltstädte für Obdachlose in Berlin: Als Übergangslösung okay
Sozialsenatorin denkt an Zeltstädte für Obdachlose. Was daran gut ist: Man
sollte die Hilfe dorthin bringen, wo die Menschen sind.
Wohnungslose Jugendliche: Theater nach dem Essen
Kultur und praktische Hilfe gibt es bei der Kontakt- und Beratungsstelle
KuB für wohnungslose Jugendliche. Einfach nur mit Beratung sind sie kaum zu
erreichen.
Frauenhaus Tieckstraße: Ein Gesetz wird zweckentfremdet
Ein neues Wohnprojekt für obdachlose Frauen und Kinder soll jetzt Strafe
zahlen: weil es angeblich Wohnraum zweckentfremdet.
Halbherzig gegen Obdachlosigkeit: Hannover will keine Risiko-Mieter
Was mal als niedrigschwelliges Angebot für Menschen gedacht war, die durch
jedes Raster fallen, ist nun doch wieder an Bedingungen geknüpft.
Obdachlose in Hamburg: Neue Hilfe auf der Straße
Das stadteigene Unternehmen Fördern & Wohnen beschäftigt jetzt auch
Straßensozialarbeiter. Dadurch sollen mehr Obdachlose Beratung erhalten.
Die Härten des Strafvollzugs: Im Winter sind die Zellen voll
Die Abteilung Ersatzfreiheitsstrafen in Plötzensee gilt als eines der
härtesten Gefängnisse Berlins. Manche Insassen sind trotzdem absichtlich
hier.
Obdachlose aus Osteuropa in Deutschland: Der sogenannte Sog
Immer mehr Obdachlose aus Osteuropa zieht es nach Deutschland. Wie kann man
ihnen helfen? Beispiele aus Berlin, Köln und München.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.