# taz.de -- Hilfe für Obdachlose: Räumen oder reden? | |
> In Berlin gibt es viele Notunterkünfte für Obdachlose. Trotzdem sind | |
> wieder Menschen erfroren. Wann darf man sie zwingen, Hilfe anzunehmen? | |
Bild: Ein Obdachloser schläft unter einer Unterführung am Berliner Bahnhof Zoo | |
BERLIN taz | Er lag auf einer Bank, als sie ihn fand. An einem | |
Sonntagmorgen im Januar entdeckte die Passantin ihn auf ihrem Weg durch den | |
Volkspark Humboldthain im Berliner Stadtteil Wedding. Der obdachlose Mann, | |
Mitte 50, war tot, in der eisigen Nacht erfroren. Ein weiterer starb Ende | |
Januar auf dem Gelände eines ehemaligen Schwimmbads. Nach Angaben der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe sollen in diesem Winter | |
schon insgesamt elf obdachlose Menschen in Deutschland erfroren sein. | |
Dabei gab es etwa in Berlin noch nie so viel Hilfe für obdach- und | |
wohnungslose Menschen wie heute. Der Berliner Senat unterstützt bis zu 50 | |
Träger der Wohnungslosenhilfe, im Winter öffnen Nachtcafés, | |
Notübernachtungen, Tagesstätten, Treffpunkte, Suppenküchen. Zwischen | |
Oktober und April fahren Kältebusse durch die Stadt, Tausende | |
Berliner*innen haben die Nummer in ihren Handys gespeichert. Zwei | |
U-Bahn-Stationen werden jede Nacht als Kältebahnhöfe offen gehalten. Noch | |
nie gab es so viele Plätze zum Übernachten. Und doch: Menschen sterben. | |
Warum werden auch heute, trotz zahlreicher Angebote, so viele Menschen | |
nicht erreicht? Wie wären sie zu erreichen? Oder hat Hilfe schlicht | |
Grenzen? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt zu den Orten, an | |
denen man Obdachlose trifft und Sozialarbeitende versuchen, sie | |
anzusprechen. Und sie führt in das Büro eines Bürgermeisters. | |
Seit Oktober 2016 ist Stephan von Dassel Bezirksbürgermeister von | |
Berlin-Mitte. Der Grünen-Politiker gilt beim Thema Obdachlosigkeit als | |
rigoros. Vor anderthalb Jahren ließ er ein Zeltlager im Berliner Tiergarten | |
räumen. Im Januar veröffentlichte die taz ein Video von der Räumung eines | |
Obdachlosencamps in der Nähe des Hauptbahnhofs: Eine Frau sitzt da auf | |
einer Bank, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auch die Knöchel | |
zusammengebunden. Plötzlich stülpen zwei Polizeibeamte von hinten ein | |
weißes Tuch wie einen Sack über den Kopf der Frau, die erschrickt, aber | |
sich nicht mehr wehren kann. Die Polizist*innen führen sie ab, die | |
Stadtreinigung entsorgt danach ihren Besitz. | |
Das Video sorgte für Empörung. „Es ist schon unerträglich, dass Mitte | |
räumen lässt, ohne den Menschen Hilfe anzubieten, aber der Umgang der | |
Polizei ist mindestens genauso unerträglich“, schrieb Sozialsenatorin Elke | |
Breitenbach von der Linken auf Twitter. Stephan von Dassel dagegen dankte | |
den Beamten „für ihr umsichtiges und engagiertes Handeln“. Die | |
„katastrophalen Zustände vor Ort“ seien Anlass für „zahlreiche | |
Bürgerbeschwerden“ gewesen. | |
Das Bild von der an Armen und Beinen fixierten Frau mit dem Tuch über dem | |
Kopf habe auch ihn bestürzt, sagte er damals. Er hoffe aber, dass das | |
„konsequente Handeln des Bezirksamts dazu beiträgt, dass obdachlose | |
Menschen die vorhandenen Hilfen annehmen“. Und er twitterte: „Niemand muss | |
in Berlin draußen schlafen, niemand muss hungern! Es ist nicht sozialer, | |
Menschen draußen in ihrem Elend zu lassen, als sie zur Hilfeannahme zu | |
nötigen.“ | |
Wenige Tage später empfängt er in seinem Büro im zweiten Stock des | |
Rathauses Tiergarten. Von Dassel, Anfang 50, in einem schwarzen Pullover | |
und mit eulenaugenrundem Brillengestell, kommt direkt zur Sache: „Die | |
Wahrnehmbarkeit von Obdachlosigkeit nimmt in Berlin dramatisch zu.“ | |
Welche Ursachen sieht er dafür? „Der angespannte Wohnungsmarkt ist | |
sicherlich ein Teil davon.“ Kündigungen seien einfacher durchzusetzen, | |
Wohnungen dagegen immer schwieriger zu finden. Insbesondere wenn die | |
Referenzen nicht die besten sind – „man kein regelmäßiges Einkommen hat | |
oder gerade aus dem Gefängnis kommt“. Zudem kämen mehr Obdachlose als | |
früher aus Ungarn, Polen und Tschechien nach Berlin. | |
Die EU-Freizügigkeit sieht vor, dass EU-Bürger*innen sich entscheiden | |
dürfen, in welchem Land sie arbeiten, dass sie aber auch bleiben können, | |
wenn sie zum Beispiel nicht erwerbstätig sind, aber über ausreichende | |
Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen. Oder auch, wenn sie | |
auf Arbeitssuche sind. In einigen Städten erkennen die Ausländerbehörden | |
die EU-Freizügigkeit immer häufiger ab, wenn die Arbeitssuche unrealistisch | |
erscheint. In Berlin dagegen sei der „Umgang mit der EU-Freizügigkeit von | |
Menschen, die keine Chance auf Arbeit haben, ungeklärt“. | |
Ein angespannter Wohnungsmarkt, der generelle Zuzug nach Berlin, der Zuzug | |
aus anderen EU-Ländern, die fehlende politische Handhabe, das alles seien | |
Gründe für die Zunahme von Obdachlosigkeit, sagt von Dassel. Und trotzdem | |
sind die Notunterkünfte nicht überfüllt, auch in kalten Nächten bleiben | |
viele Plätze leer. | |
Warum also nehmen Menschen die vorhandene Hilfe nicht in Anspruch? „So | |
unterschiedlich die Biografien von obdachlosen Menschen sind, so | |
unterschiedlich sind auch diese Gründe“, sagt der Bürgermeister. In den | |
Einrichtungen dürften die Menschen etwa keine Drogen konsumieren und ihren | |
Hund nicht mitnehmen. | |
„Aber das sind Probleme, die zu lösen wären“, sagt von Dassel und schenkt | |
sich eine Tasse Tee nach. „Andere Ursachen sitzen viel tiefer. Die | |
Statistiken sagen, drei Viertel der Menschen, die auf der Straße leben, | |
sind psychisch krank.“ Ein Beleg ist die „Seewolfstudie“, eine Studie üb… | |
die Bewohner*innen von Einrichtungen der Wohnungshilfe München. Sie legt | |
nahe: Psychische Krankheit und Obdachlosigkeit hängen miteinander zusammen. | |
Und das in beide Richtungen: Viele landen auf der Straße, weil sie | |
psychisch krank sind. Aber auch das Leben auf der Straße macht krank. 93 | |
Prozent der Befragten sind in ihrem Leben schon einmal psychisch krank | |
gewesen. 74 Prozent brauchen den Ärzt*innen zufolge sogar aktuell eine | |
Behandlung. | |
Mehr als die Hälfte der Obdachlosen lebt mit einer oder mehreren | |
Persönlichkeitsstörungen. Sie verhalten sich oft antisozial, narzisstisch, | |
leiden unter starken emotionalen Schwankungen oder wirken auf andere Art | |
höchst egozentrisch. Auch wenn Suchterkrankungen die mit Abstand häufigste | |
Erkrankung unter den Wohnungslosen war, war sie nur bei knapp einem Drittel | |
der Befragten die Hauptdiagnose. Bei allen anderen kam sie erst später | |
dazu, oft wohl als Mittel der Betäubung anderer Schmerzen. | |
„Wir benötigen dringend einen niedrigschwelligen psychiatrischen Zugang zu | |
vielen Obdachlosen“, sagt von Dassel. Er kennt die Studie. Und er kennt | |
auch selbst solche Geschichten: die einer zierlichen schwarzen Frau etwa, | |
die davon überzeugt ist, eigentlich gar nicht schwarz, sondern verzaubert | |
worden zu sein. Zudem sei sie sicher, dass das Rathaus Tiergarten ihr Haus | |
sei, alle anderen es schleunigst verlassen müssten. Oder die Geschichte | |
einer Frau, die gerne Hilfe annehmen würde, aber sich von der CIA bedroht | |
fühlt, sobald sie ins Sozialamt geht. | |
Mit Menschen wie ihnen wünscht sich von Dassel einen anderen Umgang. „Die | |
Gesellschaft macht es sich zu leicht, wenn sie sagt, das sei der freie | |
Wille der Person, sie hat ein Recht auf ein solches Leben. Ich sage, wenn | |
man so krank ist, hat man keinen freien Willen. Dann ist man getrieben von | |
dem Wahn, den man im Kopf hat.“ Menschen sterben lassen zu müssen, obwohl | |
so viele Kälteplätze vorhanden seien wie nie, findet er paradox. Und | |
schmerzhaft. Dieses „lassen zu müssen“, es sagt schon eine Menge aus über | |
von Dassels Vorstellung, wie Kältetote zu verhindern wären. Der Politiker | |
will mehr Zwang, weniger Freiwilligkeit. | |
„Ich möchte bestimmt nicht in die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts zurück, | |
in der jeder, der ein bisschen anders ist, in eine Zwangsjacke gesteckt | |
wird. Aber ich möchte schon, dass wir da mutiger werden.“ Um zu handeln, | |
wenn ein Mensch im Begriff ist, zu erfrieren, das aber nicht mehr selbst | |
begreift. Demjenigen auch gegen seinen Willen und zur Not mit | |
Zwangsmaßnahmen helfen. „Das klingt schrecklich, aber wir müssen uns das | |
trauen.“ Um Leben zu retten und um die Menschen, wie von Dassel sagt, dann | |
am Wickel zu haben. Um sich weiter kümmern zu können. | |
## Regeln, die für alle gelten | |
Es sind die beiden Fragen, die ihn momentan am meisten umtreiben: Wie viel | |
freien Willen lässt man jemandem gegenüber sich selbst? Und: Was kann ich | |
zulassen, weil die Gesellschaft es aushält, wo aber muss man konsequent | |
sein, weil sie es nicht mehr aushalten muss? | |
Den Mann im Schillerpark, der mit Fäkalien wirft, müsse niemand aushalten. | |
Auch nicht das Camp im Tiergarten, für dessen Räumung er so hart kritisiert | |
wurde. „Da gab es Gewalt, Gewalt gegen Schwächere, gegen Frauen. Dann | |
braucht es auch ein klares Signal, dass wir das nicht zulassen.“ Und die | |
Frau im taz-Video? „Natürlich hätte es mehr gebracht, sie irgendwie anders | |
zu erreichen. Eine psychiatrische Begutachtung wäre sicherlich sinnvoll | |
gewesen. Genau da müssen wir besser werden.“ | |
Zwang, wenn nötig, einen besseren psychiatrischen Zugang und konsequent | |
sein, wenn Regeln verletzt werden, die für alle andere Menschen gelten. Das | |
ist von Dassels Plan. Aber dieser Ansatz trennt ihn von den meisten | |
Sozialarbeitenden. „Die sagen zu mir, Räumung ist keine Lösung, und ich | |
sage: Stimmt, Nichträumen aber auch nicht.“ Ein Konflikt, der stärker als | |
anderswo im Berliner Bezirk Mitte köchelt. | |
Von Dassel gilt als besonders räumungsfreudig, auch wenn es um kleinere | |
Gruppen von Obdachlosen geht. Er sagt, im Jahr gebe es knapp 100 Einsätze, | |
die zum Ziel hätten, dass obdachlose Menschen ihre Lager auflösten oder das | |
wilde Campieren einstellten. Das seien nicht alles Räumungen, oft reiche | |
es, wenn Mitarbeitende des Ordnungsamts erscheinen. „Wir haben nun mal | |
nicht in jeder Situation Monate Zeit, und der öffentliche Raum muss für | |
alle nutzbar sein.“ | |
Von Dassel sagt, würden die Streetworker mehr mit ihm kommunizieren, ihm | |
sagen, wenn sie an einer Person dran sind, die sie „in wenigen Wochen“ im | |
Hilfesystem hätten, dann würde er sie machen lassen. Solange andere | |
Menschen nicht gefährdet würden. Heute aber sei es so, dass die wenigsten | |
Hinweise von den Streetworkern kämen. Stattdessen würden Mitarbeitende des | |
Ordnungsamtes, der Polizei oder Bürger auf Obdachlose aufmerksam machen. | |
Die Streetworkerinnen Zuza Maczynska und Ana-Maria Ilisiu sind bereit für | |
ihre Schicht. Pullover über Pullover haben sie übereinandergezogen, Jacke | |
über Pullover, Jacke über Jacke. Mützen auf den kurzgeschnittenen Haaren, | |
gleich ziehen sie durch den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Sie | |
arbeiten für Gangway, einen Freien Träger. Maczynska und Ilisiu gehören zum | |
Team „Drop Out Xhain“, das mit erwachsenen Wohnungslosen arbeitet. Bevor | |
sie starten, überlegen sie, welche Orte sie anlaufen möchten und | |
entscheiden sich, an einer U-Bahn-Station anzufangen. | |
„Unser Konzept basiert auf Freiwilligkeit“, erzählt Zuza Maczynska auf dem | |
Weg dorthin. „Wir respektieren unsere Klienten und machen das, was sie uns | |
sagen. Das heißt, wir akzeptieren auch, wenn jemand auf der Straße bleiben | |
will. Helfen aber natürlich, wenn er da weg möchte.“ Ana-Maria Ilisiu | |
ergänzt: „Wir zwingen die Menschen zu nichts. Wir machen Angebote, zeigen, | |
welche Möglichkeiten es gibt.“ | |
Wenn sie zu den Menschen gehen, verstehen sie sich als Gäste, und Gäste | |
schreiben ihrem Gastgeber nun mal nichts vor. Wenn es bitterkalt ist, dann | |
insistieren sie, fragen, ob die Obdachlosen ein Handy und die Nummer des | |
Kältebusses eingespeichert haben, sagen ihnen, wo sie übernachten und sich | |
aufwärmen können. Aber ob sie das dann wahrnehmen, entscheiden die Menschen | |
immer noch selbst. | |
Die Hilfe zur Selbsthilfe ist ein Kernelement der Sozialen Arbeit. Und | |
„akzeptierende Ansätze“ wie der, nach dem Gangway arbeitet, wurden | |
insbesondere nach den 1968ern populär, sind heute mehr die Regel denn die | |
Ausnahme. Dem stehen etwa Zuchthäuser in absolutistischen Gesellschaften | |
gegenüber. | |
Als die Streetworkerinnen an der U-Bahn-Station ankommen, ist es, als | |
hätten alle auf sie gewartet: Die Männer vor den Ticketautomaten, von denen | |
zwei zusammengehören und einer mit seinem lilafarbenen Einkaufstrolley | |
allein ist. Der Mann, der zwischen den beiden Bankautomaten bei den Treppen | |
sitzt und lethargisch ins Leere starrt. | |
Maczynska und die beiden Männer am Ticketautomaten kommen sofort ins | |
Gespräch, reden in schnellem Polnisch miteinander. Ilisiu widmet sich dem | |
dritten Mann, der jedem Menschen, der ein Ticket ziehen möchte, freundlich | |
signalisiert, ihm helfen zu wollen, dann aber nur eine einladende | |
Handbewegung macht, als stünde er vor einem Zirkuszelt und würde zur | |
Vorstellung bitten. | |
Ilisiu versucht, ihn auf Rumänisch anzusprechen, doch darauf reagiert er | |
nicht. Aus ihrem Rucksack zieht sie einen Flyer mit Anlaufstellen der | |
Berliner Kältehilfe. „Den haben wir jetzt auch auf Bulgarisch.“ Sie hält | |
dem Mann das Papier hin. Der aber schaut gar nicht darauf. Ilisiu schiebt | |
es ihm direkt vor die Augen und fragt. „Kannst du das lesen?“ | |
## Vertrauen aufbauen dauert | |
Der Mann guckt an dem Papier vorbei und macht dann immer wieder die | |
gleiche, fahrige Bewegung. Er führt Daumen und Zeigefinger zum Mund, öffnet | |
und schließt die Lippen. Ilisiu imitiert die Geste, sagt: „Ja, wir können | |
dir zeigen, wo du essen kannst. Und auch schlafen?“ Sie legt ihren Kopf an | |
die gefalteten Hände. Er nickt wild. „Wir bringen dich sofort hin“, sagt | |
Ilisiu, setzt Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand abwechselnd | |
voreinander. Mit der linken Hand hält sie zwei Finger in die Höhe. Zwei | |
Minuten, dann ist auch die Kollegin so weit. | |
Der Mann will aber nicht warten. Macht immer wieder die gleichen | |
Bewegungen, will losstürmen, bis Ilisiu ihn kurz vor der Straße aufhält. | |
„Wir gehen sofort“, sagt sie mit Nachdruck, wiederholt die Gesten für | |
Gehen, Essen, Schlafen und Warten und blickt sich zu Maczynska um. Die gibt | |
den beiden polnischen Männern gerade Visitenkarten, sagt dann „Wir können | |
los“, doch jetzt will der Mann mit dem lilafarbenen Trolley nicht mehr. | |
Ist es besser, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, obwohl er doch nach Hilfe | |
verlangt hatte? „Es ist besser, später und morgen wiederzukommen, als ihn | |
jetzt zu überreden“, sagt Ilisiu. Und: „Vertrauen aufzubauen dauert lange. | |
Nicht Tage oder Wochen, sondern Monate, manchmal Jahre. Das dauert Herrn | |
von Dassel zu lange.“ Und was ist mit den Regeln, die von Dassel betont | |
hat, an die sich alle halten müssten? Ilisiu fragt zurück: „Welche Regeln | |
sind so wichtig, dass wir sie an alle Menschen gleichermaßen anlegen | |
müssen? Sollen wir an psychisch Kranke, Suchtkranke, wirklich die gleichen | |
Maßstäbe ansetzen wie an uns?“ | |
Ilisiu kann viele Gründe nennen, warum manche Obdachlose auch bei | |
klirrender Kälte nicht in Notunterkünfte wollen. „Vielen ist es zu laut, zu | |
stressig, sie sagen, in den Einrichtungen sind sie schon beklaut worden, | |
hätten Läuse bekommen. Viele haben sich schlichtweg daran gewöhnt, für sich | |
zu sein. Sie wollen ihre Ruhe haben.“ An Ilisius linker Seite läuft jetzt | |
Kollegin Maczynska, sie sagt: „Es bräuchte mehr Angebote, wo Menschen | |
allein oder als Paar hineinkönnen, ihren Hund mitnehmen und ihre Drogen | |
konsumieren könnten.“ | |
Und es bräuchte dringend mehr niedrigschwellige psychiatrische Angebote. | |
„Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen, die mit Menschen in ganz | |
schwierigen Situationen arbeiten können“, sagt Maczynska. „Die haben dann | |
keine Kapazitäten, um die Menschen aufzunehmen. Aber überall anders fliegen | |
sie raus, weil sie psychisch krank, suchtkrank, aggressiv sind – und nicht | |
immer eine Krankenversicherung haben.“ Die Krankenversicherung ist in | |
Deutschland Teil der Sozialleistungen. Um darauf Anspruch zu haben, müssen | |
EU-Bürger*innen eine Arbeit finden. | |
Ende 2016 hatte die Bundesregierung beschlossen, EU-Bürger*innen für fünf | |
Jahre von Hartz-IV-Leistungen und Sozialhilfe auszuschließen, wenn sie in | |
Deutschland noch nie gearbeitet haben. Bezirksbürgermeister Stephan von | |
Dassel sagt, dass Menschen, die in Deutschland keine Ansprüche haben, | |
irgendwann zurückmüssen. Und das dies für einige besser wäre. „Das ist | |
Quatsch“, sagt Ilisiu. „Sogar die, die nur nach Deutschland kommen, um zu | |
betteln, können von dem Geld die Schule ihrer Kinder in Rumänien bezahlen. | |
Sie werden bleiben.“ | |
Als die Streetworkerinnen um eine Ecke biegen, kommt ihnen ein Mann | |
entgegen. Er schiebt einen voll beladenen Kinderwagen vor sich her, trägt | |
eine Perücke auf dem Kopf. „Willst du den mal ansprechen?“, fragt Maczynska | |
ihre Kollegin. Schon wissend, dass der Mann Rumäne ist. Während des | |
Gesprächs trinkt er immer mal wieder aus seiner Flasche Bier, gerade stehen | |
kann er nicht mehr. Dann fängt er an zu weinen, redet dabei weiter, | |
verschluckt sich, wie ein Kind nach einem Sturz. „Er sagt, er vermisst | |
seine Mutter“, übersetzt Ilisiu. Sie ruft die Polizei an, weil der Mann ein | |
Formular möchte, mit dem er eine Anzeige aufgeben kann, er sei beklaut | |
worden. Sie verabreden sich für den nächsten Tag. | |
„Die Soziale Arbeit hat ihre Grenzen“, sagt Maczynska. Das notorisch | |
fehlende Geld, die zu geringen Kapazitäten. Und: „Wir wissen natürlich | |
nicht, wie mit bestimmten psychischen Problemen umzugehen ist.“ In anderen | |
Ländern arbeiteten Sozialarbeitende, Psychotherapeuten und Psychologen in | |
den Einrichtungen zusammen. In Deutschland passiere viel zu wenig | |
interdisziplinär, sagt Ilisiu. Was wäre also mit Psychiatern und | |
Psychotherapeuten, die gemeinsam mit Sozialarbeitenden losziehen würden? | |
„Das wäre eine fantastische Idee“, sagt Maczynska. Es ist die Idee, die | |
auch Stephan von Dassel hat. | |
Findet man dann nicht vielleicht doch zusammen? Ilisiu sieht skeptisch aus. | |
Wenn von Dassel das denke, müsse er auch entsprechend handeln. Und was wäre | |
zum Beispiel mit dem Fäkalienwerfer vom Schillerpark? Und der Frage, ob die | |
Gesellschaft ihn aushalten muss? „Ich würde auf Aufklärung im Kiez setzen, | |
Verständnis einholen, alles, bevor dieser Mann mit Gewalt und Zwang | |
weggebracht werden müsste“, sagt Ilisiu. „Wir brauchen Solidarität, keine | |
Ausgrenzung.“ | |
Die wenigsten Fälle sind eindeutig – wie auch der der Frau, die auf dem | |
Leopoldplatz im Wedding lebt. Egal, wen man dort fragt, jeder kennt sie. | |
Der junge Mann hinter der Theke der Leo-Apotheke, sagt „Ja, natürlich, sie | |
ist immer hier, läuft mit ihrer Decke die Straße auf und ab.“ Und die | |
wohnungslose Frau vor dem Netto-Eingang lallt: „Eine arme Person ist das.“ | |
Dann schwenkt sie die Flasche Bier in ihrer Hand. „Läuft hier rum, hat was | |
Dickes über ihre Schultern geworfen. Ist nicht ganz da.“ | |
Zu der Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe, die jeden Mittwochabend | |
am Leopoldplatz stattfindet, kommt die Frau nicht, aber auch die | |
Obdachlosen, die da sind, kennen sie. „Ja, klar“, sagt Uli, der eigentlich | |
anders heißt und trotz der Kälte nur eine dünne Sportjacke von Galatasaray | |
Istanbul trägt. „Die sehe ich oft. Aber mit ihr gesprochen habe ich noch | |
nie.“ Heute gibt es bei der Essensausgabe indisches Curry, Obstsalat, | |
Wurst- und Käsebrötchen, Zimtschnecken, Vanillequark, und weil nicht so | |
viele kommen wie sonst, darf sich jede*r mehr von allem nehmen. Uli stopft | |
fünf Päckchen Vanillequark in seine Woolworth-Tasche. | |
Auf seinem Heimweg geht Uli auch an dem Lager der Leopoldplatz-Frau vorbei. | |
Es sieht jetzt aus wie ein Bett, das am Morgen überstürzt verlassen wurde. | |
Übereinander geworfene Decken, Kissen mit tiefen Kopfabdrücken, daneben auf | |
dem Bürgersteig, wie sonst vielleicht auf einem Nachttisch, eine Schale mit | |
Clementinen, am anderen Ende des Bettes ein Kamel als Kuscheltier. Die Frau | |
ist nicht da, und sie kehrt in den kommenden Stunden auch nicht zurück. | |
Am nächsten Morgen, einem Freitag, ist Markt auf dem Leopoldplatz. Neben | |
einem kleinen Kaffeewagen sitzt die Frau im Schneidersitz, mit einem | |
offenen Schlafsack um die Schultern. Sie wünscht sich einen Kaffee, obwohl | |
ein halb gefüllter Becher vor ihr steht. Was sie hier macht? „Ich putze | |
Himmel und Erde“, sagt sie, so selbstverständlich, als hätte sie soeben | |
erzählt, sie sei von Beruf Friseurin. Sie klingt dabei ein bisschen genervt | |
und gestresst – so wie andere Menschen von ihrer anstrengenden Arbeit | |
erzählen. „Ja, ja, das ist schon ganz schön viel“, sagt sie seufzend. | |
Ihre braunen Haare stehen wirr vom Kopf ab, einige verfilzte Strähnen ragen | |
in die Luft. Sie ist so schmutzig, dass ihr Alter schwer zu schätzen ist, | |
sie könnte 40, aber auch 60 Jahre alt sein. Auf die Frage, wie sie heiße, | |
antwortet sie mit einem Wort, das wie „Marlies“ klingt, aber auch etwas | |
ganz anderes meinen könnte. | |
„Alles muss ich putzen, die ganzen Häuser, Burgen und Schlösser.“ Die Frau | |
lächelt viel, während sie spricht, und zeigt dabei ihren letzten, | |
eisbergförmigen Zahn, rechts unten. „Samstags, wenn hier Flohmarkt ist, | |
putze ich auch den Platz, aber das mache ich nur, weil ich die Leute so | |
mag.“ Ob sie sich denn vorstellen könne, auch einmal woanders zu leben, als | |
am Leopoldplatz. „Nein, nein, nein“, sagt sie, als wäre das nicht nötig. | |
„Ich bleibe hier.“ | |
Wenn es aber doch wieder richtig kalt würde, könnte sie sich dann | |
vorstellen, auch mal, sei es nur für eine Nacht, in eine Unterkunft zu | |
gehen? „Nein, das geht ja nicht“, antwortet sie. „Früher wäre das | |
vielleicht mal gegangen, als die Häuser alle noch leer waren. Aber jetzt, | |
das sehe ich ja immer, steht so viel Kram drin, Möbel und Menschen, und da | |
ist kein Platz für mich.“ Und sie habe dafür ja auch überhaupt keine Zeit. | |
„Was ich alles putzen muss!“ | |
Stephan von Dassel kennt die Frau seit Jahren. Schon als Sozialstadtrat | |
versuchte er, sie ins Hilfesystem zu bringen. „Zu einem zielführenden | |
Gespräch bin ich aber nie mit ihr gekommen.“ Die Frau habe ihm erzählt, | |
dass sie auf den Leopoldplatz aufpasse. Ihn nicht verlassen könne, weil er | |
sonst untergehen und alle Menschen sterben würden, nur ihretwegen. Hilfe | |
brauche sie keine. | |
Jetzt sagt die Frau: „Ich putze und habe alles im Blick. Dann ist alles | |
gut.“ Dass der Leopoldplatz untergehen würde, wiederholt sie an diesem Tag | |
nicht. Ihre Geschichten variieren. Was aber immer gleich bleibt: Sei es, um | |
zu putzen oder um die Menschen zu retten – den Leopoldplatz kann sie nicht | |
verlassen. | |
Ist das nun eine Frau, die eindeutig nicht mehr in der gleichen Welt lebt | |
wie die Menschen um sie herum? Die nicht mehr einschätzen kann, was ihr | |
freier Wille ist und was nicht? Wäre es richtig, diese Frau für ein paar | |
Wochen in die Psychiatrie zu bringen? Oder sie am Leopoldplatz zu lassen? | |
Wenn Menschen auf der Straße nicht mehr vernünftig ansprechbar sind, kann | |
der sozialpsychiatrische Dienst gerufen werden. Dessen Mitarbeiter*innen | |
beurteilen, ob die Person weiß, in welcher Situation sie sich befindet, ob | |
sie selbst entscheiden kann, wie stark sie gefährdet ist. Oder ob sie sie | |
mitnehmen müssen. Mal landet ein Mensch so für eine Woche im Krankenhaus, | |
mal für sechs Wochen in der Psychiatrie. Und danach wieder auf der Straße. | |
Oft passiert aber auch gar nichts. | |
Wie viel ihres Willens ist bei der Frau am Leopoldplatz frei, wie viel ist | |
im Wahn gefangen? Wie wäre das einzuschätzen, bei einem Kälteeinbruch, bei | |
minus 20 Grad? Von Dassel sagt: „Vielleicht bekommt sie einen Herzinfarkt, | |
wenn man sie vom Leopoldplatz wegholt. Vielleicht wird sie, wenn sie | |
bleibt, nicht 80, sondern nur 55. Ich wünsche mir ein anderes Leben für | |
sie.“ Auf die Frage, wie viel freien Willen jemanden gegenüber sich selbst | |
zuzumuten ist, hat von Dassel in diesem Fall keine Antwort gefunden. Auf | |
die andere Frage schon: „So jemanden hält die Gesellschaft aus.“ | |
Auch Streetworkerin Ana-Maria Ilisiu hadert. Wie ihr helfen? „Dem Kältebus | |
Bescheid sagen, damit der sie im Auge behält. Zur Kleiderkammer fahren und | |
ihr wärmere Sachen besorgen. Immer wieder zu ihr gehen.“ Sie nicht sterben | |
lassen, sie vor allem aber zu nichts zwingen. | |
1 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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Lesestück Recherche und Reportage | |
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