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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Prügelnde Polizisten
> Viele Gelbwesten demonstrieren erstmals. Polizeiliche und juristische
> Repressionen gegen sie folgen einer Strategie der Einschüchterung.
Bild: Gendarmen mit Tränengasgranate, Paris am 26. Januar 2019
Am 14. Januar übertraf sich der französische Innenminister Christophe
Castaner selbst: „Mir sind keine Polizisten bekannt, die Gelbwesten
angegriffen hätten; Polizisten, die sich gegen Gelbwesten verteidigt haben,
kenne ich hingegen schon“, verkündete er bei einem Besuch in der
südfranzösischen Stadt Carcassonne.
Über solche Sätze kann Antonio Barbet nur lachen. Der 40-Jährige lebt in
der Nähe von Compiègne im Département Oise, wo er noch vor zwei Monaten
auf Mindestlohnbasis als Leiharbeiter in der Kundenberatung gearbeitet hat.
Seit Beginn der Bewegung der Gelbwesten hat sich Barbet an den Protesten
beteiligt. Am 24. November demonstrierte er das erste Mal in Paris. Am
späten Nachmittag feuerten die Sicherheitskräfte in einer bis dato ruhigen
Straße unweit der Champs-Élysées ein Geschoss ab, wahrscheinlich eine
Tränengasgranate vom Typ GLI-F4. Sie explodierte auf Barbets Fuß. Zwei
Monate n ach dem Zwischenfall geht er immer noch an Krücken, sein
Zeitarbeitsvertrag wurde nicht erneuert.
Der Journalist David Dufresne dokumentiert auf Twitter sorgfältig alle
Übergriffe der Polizei auf Gelbwesten. Bis zum 19. Januar – dem Tag der
landesweiten Demonstrationen des „zehnten Akts“ – hatte er schon mehr als
330 durch Bilder belegte Zwischenfälle gesammelt.
Bereits 2007 beschäftigte sich Dufresne in einem Buch mit dem Thema.1
Darin erinnert er auch an die Ausführungen des ehemaligen Innenministers
Dominique de Villepin über die Strategie des Staats, Demonstranten auf
Abstand zu halten. Diese sei „Teil des französischen Selbstverständnisses�…
hatte Villepin verkündet. Knapp zehn Jahr später kritisieren Forscher
jedoch die staatliche Ordnungspolitik, die im Gegensatz zu anderen
europäischen Ländern nicht auf Dialog und Deeskalation, sondern vor
allem auf Repression setzt.2
## Gewalt nur gemeinsam und auf Befehl
In einem Bericht vom Dezember 2017 rief Jacques Toubon, der offizielle
„Défenseur des droits“3, die traditionellen Prinzipien dieser
Ordnungspolitik in Erinnerung. Nur gemeinsam und auf Befehl dürfen die
Spezialkräfte – die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) und die
Bereitschaftsgendarmerie (Gendarmerie mobile) – Gewalt anwenden.
Auf eigene Initiative darf Gewaltanwendung lediglich aus Notwehr erfolgen
und muss die Grundsätze der „absoluten Notwendigkeit, allmählichen
Steigerung und Reversibilität“ befolgen. Nichtspezialisierte Einheiten wie
die Compagnies de Sécurisation et d’Intervention (CSI) und die Brigades
Anti-Criminalité (BAC), die bei Bedarf zur Verstärkung anrücken, stellen
dieses Schema allerdings infrage. Denn diese Einsatzkräfte, so der Bericht,
seien „in der Regel nicht gemäß der Doktrin und der Prinzipien der
Ordnungserhaltung ausgebildet“. Sie setzen auf Verhaftungen und
körperlichen Kontakt, wodurch der Grundsatz von Distanz und Kontrolle
untergraben werde.
Da dieser Entwicklung eine politische Entscheidung zugrunde liegt, lässt
sich Antonio Barbets Fußverletzung nicht als Unfall abstempeln – ebenso
wenig wie die über 100 schweren Verletzungen und Verstümmelungen, vor allem
im [1][Bereich der Augen und der Hände,] die seit Beginn der
Gelbwestenproteste dokumentiert wurden.
In einem gemeinsamen Bericht aus dem Jahr 2014 weisen die
Generalinspektionen der Polizei (IGPN) und der Gendarmerie (IGGN) darauf
hin, dass Frankreich als einziges Land Europas Explosivstoffe zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung einsetzt. Dazu zählen
insbesondere die Tränengasgranaten des Typs GLI-F4: „Die Vorrichtungen, die
durch Explosivstoffe eine Druckwelle erzeugen, können Verstümmelungen oder
tödliche Verletzungen herbeiführen; und jene mit lauten Geräuscheffekten
irreparable Gehörschäden.“4
Da es sich um pyrotechnische Vorrichtungen handelt, ließen sich Kopf- oder
Gesichtsverletzungen nie komplett ausschließen, so der Bericht. Der Staat
setzt die Demonstranten also in vollem Wissen diesen Risiken aus. Ende 2018
forderten mehrere Anwälte, unter ihnen auch der Autor dieses Artikels,
Innenminister Castaner und Premierminister Édouard Philippe schriftlich
dazu auf, die besagten Granaten zu verbieten. Eine Antwort blieb bis heute
aus.
## Schmerzensgeld für zerschossenes Auge
Die seit Mitte November tausendfach aus „Lanceurs de Balles de Défense“
(LBDs) abgefeuerten Hartgummigeschosse dienen angeblich der
„Gefahrenabwehr“. Dass diese Bezeichnung zumindest euphemistisch ist, zeigt
ein Urteil des Oberverwaltungsgericht Nantes vom 5. Juli 2018. Demnach trug
der Staat die Verantwortung für die Verwendung dieser „gefährlichen“ Waffe
auf einer Demonstration im Jahr 2007. Damals verlor ein 16-Jähriger durch
ein LBD-Projektil ein Auge. Er bekam nun ein hohes Schmerzensgeld
zugesprochen.
Im Dezember 2017 bewertete Jacques Toubon LBDs erstmals als „ungeeignet
zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“. Sie sollten deshalb „aus
der Ausstattung der Sicherheitskräfte entfernt werden“ – eine Forderung,
die er im Januar dieses Jahres erneuerte. Diese Erinnerung hätte eigentlich
nicht notwendig sein dürfen, schließlich hatte der Pariser Polizeipräsident
dem „Défenseur des droits“ 2017 versichert, „die Nutzung von LBDs des
Kalibers 40 x 46 aufgrund ihrer Gefährlichkeit zu verbieten“. Ein
Entschluss, der offenbar ohne Folgen blieb.
Hunderte Verletzungen aufseiten der Gelbwesten lassen sich auf LBDs und
deren mitunter falsche Handhabung durch die Sicherheitskräfte zurückführen.
Viele Demonstranten, unter ihnen zahlreiche Protestneulinge, sind deswegen
wütend. Man kann sich fragen, ob der französische Staat mit seinem
Festhalten an diesen Waffen nicht bewusst auf eine Strategie der
Abschreckung setzt.
Sandrine P. besetzt seit Beginn der Gelbwestenproteste einen Kreisverkehr
zwischen Douai und Valenciennes, unweit ihres Wohnorts. Sie ist Ende
dreißig und arbeitet als Tagesmutter. Zusammen mit ihrem Mann, der als
Verkäufer in einem Supermarkt angestellt ist, hat sie drei Kinder. Durch
die Gelbwesten hat sie gelernt, was kollektives, politisches Engagement
bedeutet.
## Mit Taucherbrille auf die Demo
Auf einer Demonstration in Lille Anfang Januar wurde sie erstmals selbst
Opfer von Polizeigewalt. Sie trug keine schweren Verletzungen davon, aber
vom Tränengas gereizte Augen und die für sie neue Erkenntnis, dass die
Sicherheitskräfte auch zur Bedrohung werden können. Am 12. Januar fuhr sie
wieder nach Lille, ausgerüstet mit einer Taucherbrille, einer
Atemschutzmaske und mehreren Ampullen mit Kochsalzlösung.
Doch sie kam gar nicht dazu, sich der Demo anzuschließen. Zusammen mit drei
Mitstreitern wurde sie abseits des Demonstrationszugs festgenommen. Grund
der Verhaftung: Beteiligung an einer „Gruppierung zum Zwecke der
Vorbereitung von vorsätzlichen Gewalttaten gegen Personen oder von
Sachbeschädigung“.
Geschaffen wurde dieser Straftatbestand durch ein Gesetz vom 2. März 2010
unter Federführung des Abgeordneten Christian Estrosi (Les Républicains).
Es zielt darauf ab, „gewalttätige Banden“ in den „sogenannten
Problemvierteln“ zu bekämpfen; es ermöglicht, Personen bereits vor der
Begehung einer Straftat zu belangen. Dabei ging der Gesetzgeber zumindest
implizit davon aus, dass Jugendliche, die sich im öffentlichen Raum
versammeln, nichts anderes im Schilde führen, als Unruhe zu stiften.
Mehrere Jahre lang bezog sich kaum jemand auf diesen Paragrafen. Erst 2016,
im Zuge der Proteste gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts, entdeckte
der französische Finanzminister Jean-Jacques Urvoas den Absatz wieder.
Seither geht die französische Staatsanwaltschaft verstärkt auf Basis dieser
Rechtsgrundlage gegen Demonstranten vor, die weder Gewalt angewendet noch
etwas beschädigt haben. Seit Beginn der Gelbwestenbewegung, und
insbesondere am 8. Dezember 2018, hat die Anwendung des
Gruppendelikt-Paragrafen ein neues Ausmaß erreicht und zu einer noch nie
dagewesenen Welle präventiver Verhaftungen geführt.
Ende November 2018 erhielten die französischen Staatsanwaltschaften von
Justizministerin Nicole Belloubet ein Sonderrundschreiben zum Thema
Gelbwesten. Darin wurden sie aufgefordert, der Polizei an Demotagen zu
erlauben, in Großstädten und auf Zufahrtsstraßen jede Person zu
kontrollieren.5
## Als Rädelsführer verurteilt
Wie willkürlich die große Mehrheit dieser Freiheitsentzüge war, zeigt sich,
wenn man die Zahl der Verhaftungen mit jener der Verurteilungen vergleicht.
Von den 1.082 am 8. Dezember in Paris festgenommenen Personen wurde
deutlich mehr als die Hälfte ohne juristische Konsequenzen wieder
freigelassen. Das einzige Ziel dieser Verfahren bestand darin, die
Gelbwesten von der Ausübung ihres Demonstrationsrechts abzuhalten.
Zwei Tage später, am 10. Dezember, nahm Pierrick P. mit verstörtem Blick
auf der Anklagebank eines Pariser Gerichtssaals Platz. Nach über 48 Stunden
Haft wurde er – allein – für das besagte Vergehen der „Beteiligung an ei…
Zusammenschluss zur Begehung von Gewalttaten oder Sachbeschädigungen“
verurteilt. Der ehemalige Schlachthofmitarbeiter, der mit vier Freunden aus
der Bretagne nach Paris gekommen war, ist seit einem schweren Arbeitsunfall
im Februar 2016 erwerbsunfähig.
Für ihn, wie für viele andere, bot die Gelbwestenbewegung eine Chance, um
öffentlich mit Gleichgesinnten seine Wut herauszuschreien. Am Morgen des 8.
Dezember wurde P. mit seinen Freunden auf einem weit vom geplanten
Demonstrationsort entfernten Parkplatz von der Polizei angehalten. Beim
Durchsuchen ihrer Fahrzeuge fanden die Beamten Schutzkleidung (insbesondere
einen Helm und einen Oberkörperprotektor zum Motocross-Fahren) sowie in P.s
Auto einen Schlagstock. Alle fünf verbrachten das Wochenende in
Polizeigewahrsam.
Während seine vier Freunde ohne juristisches Nachspiel wieder auf freien
Fuß kamen, musste P. vor Gericht erscheinen, wo ihm sechs Monate Haft auf
Bewährung aufgebrummt wurden. Da er kein zweites Mal die Erfahrung machen
wollte, einem Richter vorgeführt zu werden, verzichtete er auf eine
Berufung. Und obwohl ihm kein Demonstrationsverbot erteilt wurde,
marschiert P. inzwischen nicht mehr mit den Gelbwesten – aus Angst, erneut
verhaftet zu werden.
Noch gibt es keine Statistiken über verurteilte Gelbwesten. Es hat aber den
Anschein, als würden zumindest in Paris immer härtere Strafen verhängt. Die
Richter scheuen sich nicht mehr, Freiheitsstrafen ohne Bewährung
auszusprechen und den vielen Festgenommen ohne Wohnsitz in Paris nahezu
systematisch mehrjährige Stadtverbote zu erteilen. Zum bestehenden sozialen
Ungleichgewicht – Richter verurteilen Arbeiter, Angestellte und Arbeitslose
– gesellt sich also eine geografische Diskriminierung.
## Exzessive Anwendung des Gruppendelikt-Paragrafen
Nicht selten hört man im Gerichtssaal, wie Staatsanwälte gegenüber
Gelbwesten den Vorwurf erheben, nicht bei sich zu Hause demonstriert zu
haben. Damit wird ihnen indirekt das Recht abgesprochen, ihren Protest in
die Hauptstadt zu tragen.
De facto tragen die Urteile, die durch die exzessive Anwendung des
Gruppendelikt-Paragrafen anstatt durch eine strikte Auslegung des
Strafrechts erzielt wurden, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung
bei. Sie übernehmen damit polizeiliche Aufgaben und halten die Bevölkerung
von der Ausübung ihrer Grundrechte ab. Doch auch wenn es der Polizei und
den Gerichten gelingt, viele Französinnen und Franzosen einzuschüchtern, so
verstärkt dieser Machtmissbrauch zugleich die Wut und die Entschlossenheit
der Protestneulinge.
„Castaner lügt“, sagt Antonio Barbet und deutet mit den Augen auf seinen
nach wie vor schmerzenden Fuß. „Ich bin einer der ersten Verwundeten. Ich
habe eine Facebook-Seite eingerichtet, die ausschließlich von Verwundeten
betrieben wird, und ich versuche Opferberichte zu sammeln.“ Ob Barbets
verletzter Fuß als Folge eines Unfalls oder eines Angriff anzusehen ist,
liegt im Auge des Betrachters – er selbst engagiert sich seit dem
Zwischenfall gegen Polizeigewalt.
1 David Dufresne, „Maintien de l’ordre“, Paris (Fayard) 2013 (zuerst
erschienen 2007).
2 Olivier Fillieule und Fabien Jobard, „Un splendide isolement. Les
politiques françaises du maintien de l’ordre“, La Vie des idées, 24. Mai
2016, laviedesidees.fr.
3 Der „Défenseur des droits“ ist eine unabhängige Institution (eine Art
Ombudsmann), an die sich jeder Staatsbürger wenden kann, der seine Rechte
verletzt sieht.
4 „Rapport relatif à l’emploi des munitions en opérations de maintien de
l’ordre“, Generalinspektion von IGPN und IGGN, französisches
Innenministerium, Paris, November 2014. Siehe auch: Julien Baldassarra,
„Bewaffnete Repression“, LMd, Januar 2019.
5 „Circulaire du 22 novembre 2018 relative au traitement judiciaire des
infractions commises en lien avec le mouvement de contestation dit ,des
gilets jaunes' “, Légifrance, circulaires.legifrance.gouv.fr.
Aus dem Französischen von Richard Siegert
14 Feb 2019
## LINKS
[1] /Polizeigewalt-in-Frankreich/!5569031
## AUTOREN
Raphaël Kempf
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