# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Prima Leistungskurs in Protestkul… | |
> Nur weil man es freitags nicht vom Sofa schafft, muss man nicht über die | |
> Jugend mäkeln, die an dem Tag mit gutem Grund die Schule schwänzt. | |
Bild: Immer wieder freitags raus zum Welt retten | |
Als ich so alt wie Greta Thunberg war, konnte ich die Demos, an denen ich | |
teilgenommen hatte, an drei Fingern abzählen. Denn die Kundgebungen, bei | |
denen ich mitmachte, waren unverrückbar im Terminplan der Deutschen | |
Demokratischen Republik festgeschrieben. Und man musste hingehen. So | |
marschierte ich neunjährig anlässlich des letzten Geburtstags der DDR am 7. | |
Oktober 1989 im weißen Baumwollanzug mit meinem Judoverein über den | |
Sportplatz unseres Ostseebades. In den Jahren zuvor waren wir mit der | |
Schule und Papierfähnchen in den Händen am Ersten Mai durch den Ort | |
gezogen, um für Frieden und Sozialismus zu demonstrieren. Eigenmächtiges | |
Engagement aber sah anders aus. | |
Und doch gab es sie, die zarten, aktivistischen Momente. Einmal wollten wir | |
für unseren Englischlehrer, der entlassen wurde, ein riesiges Transparent | |
an die Schulfassade hängen: „Herr Hartwich muss bleiben!“ Ein anderes Mal | |
auf Klassenfahrt in Frankreich – Jacques Chirac hatte gerade die letzte | |
Atombombe in Französisch-Polynesien testen lassen – klebten wir | |
selbstgeschriebene „Fuck Chirac“-Poster an die Fenster des Busses, sie | |
hingen jedoch nur fünf Minuten lang. | |
Beide Male wurden wir von unseren Lehrern und Eltern angehalten, es sein zu | |
lassen. | |
Den eigenen Willen öffentlich und vorbei am Staat kundzutun, war in der DDR | |
eben nicht vorgesehen, und so hatte unsere Lehrer- und Elterngeneration aus | |
der Provinz der DDR auch wenige Jahre nach der Wende – trotz Friedlicher | |
Revolution – keine richtige Protestkultur entwickelt. Um zur Tat zu | |
schreiten, fehlten uns Heranwachsenden in den frühen neunziger Jahren wohl | |
die Vorbilder und Erfahrungen. | |
## Alles anders heute | |
Ganz anders die SchülerInnen von heute, allen voran die Stockholmer | |
Umweltschützerin Greta Thunberg. | |
Die jungen KlimaktivistInnen der „Fridays for Future“-Bewegung schwänzen | |
freitags die Schule, um ihre Zukunftsvision von einer Welt ohne | |
Plastikmüll, Massentierhaltung und Kohleverstromung von Berlin bis Sydney | |
auf die Straße zu bringen. Sie meinen es ernst und schaffen Tatsachen: | |
Viele Kinder und Jugendliche ernähren sich vegan, vermeiden Kunststoffmüll, | |
nehmen den Zug, anstatt zu fliegen. Die Jungen skandieren „Viva la clima!“, | |
kennen die Inhalte des Pariser Klimaabkommens, können argumentieren, geben | |
unerschrocken gute Interviews und bringen scheinbar kinderleicht eine | |
Energie auf die Straße, die mitreißt. Soweit, so wunderbar – wären da nicht | |
die kritischen Stimmen der Erwachsenen. | |
Die Schule zu schwänzen sei der leichtere Weg, sagt NRW-Ministerpräsident | |
Armin Laschet (CDU). Er fände es glaubwürdiger, wenn Schüler nach | |
Schulschluss auf die Straße gingen und damit ein persönliches Opfer in | |
ihrer Freizeit bringen würden. Die NRW-Schulministerin droht | |
Schulschwänzern diese Woche mit möglichen Disziplinarverfahren. In Hamburg | |
stellte die Polizei jüngst Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das | |
Versammlungsgesetz gegen eine Lehrerin, die ihre 15 AchtklässerInnen an | |
ihrem freien Tag zur Klimaschutzdemo zum Rathaus begleitete. Auch Angela | |
Merkel konnte sich kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz gar nicht | |
vorstellen, dass SchülerInnen aus freien Stücken für den Klimaschutz auf | |
die Straße gehen. Die Bundeskanzlerin brachte die jungen Aktivisten in | |
einen fragwürdigen Zusammenhang mit russischen Propagandakampagnen | |
„hybrider Kriegsführung“ im Internet. | |
## Angst vor der Courage | |
Auf mich wirkt das so, als hätten die Erwachsenen Angst vor der Courage | |
ihrer Kinder, die ihren Eltern jetzt den Spiegel vorhalten und ebendas tun, | |
was wir Erwachsenen längst hätten tun sollen. | |
Denn Hand aufs Herz: Wie viele Stunden Unterricht in 13 Jahren Schulzeit | |
waren Ausfall- beziehungsweise Vertretungsstunden, in denen wir | |
SchülerInnen schlechte Videofilme guckten, beim Bäcker klebrige | |
Zuckerschnecken aßen oder einfach darauf warteten, dass die Zeit verging. | |
Was dagegen die SchülerInnen bei ihren Klimademos alles lernen: Solidarität | |
und Haltung zeigen, eigene Anliegen formulieren, öffentliches Reden, schlau | |
auf Twitter kommunizieren, sich und seine Interessen organisieren – ein | |
richtig guter Leistungskurs in Demokratie ist das. Echtes Handwerkszeug in | |
populistischen Zeiten. | |
Deshalb: Liebe Erwachsenen von morgen, nicht nur die Schulpflicht ist | |
gesetzlich verankert, das Recht auf Demonstration ist es auch. Macht mutig | |
weiter – vielleicht schaffen wir Alten es noch vom Sofa. | |
24 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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