Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Mimi hätte für Europa gestimmt
> Viele BerlinerInnen denken und fühlen europäischer, als sie vermuten
> würden. So ist Berlin doch die Welt, oder zumindest Europa im Kleinen.
Bild: Dauerwurst ist international: gibt's als Salami, Merguez, Chorizo, Cabano…
Als neulich mein Blick über die vielen Europawahlplakate in der Stadt
schweifte, musste ich an meine Abschlussprüfung in Europäischer Ethnologie
an der Uni denken. Es lief gut für mich an diesem heißen Sommertag im
August 2005. Souverän hatte ich die kulturellen Identitätstheorien des
britischen Soziologen Stuart Hall exegiert. Jene soziale
Wirklichkeitskonstruktion, nach der Menschen beziehungsweise
Nationalstaaten ihre kulturelle Identität auf Grundlage von Erzählungen,
Symbolen und Institutionen ausbilden. Also Deutsche sich „deutsch“ fühlen,
weil sie morgens pünktlich im Büro sind, gern Bockwurst essen und samstags
im Fußballstadion grölen.
Sogleich hatte sich eine Diskussion über die Fragmentierung des
postmodernen Subjekts durch die Globalisierung (also Merguez, Chorizo,
Cabanossi an der Wursttheke) entsponnen, bei der ich ebenso parierte. Die
letzte Prüfungsfrage aber unterbrach meinen guten Lauf: „Wie würden Sie
Ihre eigene kulturelle Identität definieren?“, fragten die Professoren und
hatten im Sinne Stuart Halls wohl eine Antwort wie „Deutsche“,
„Ostdeutsche“, „Wahlberlinerin“, „Rüganerin“ oder gar „Fischkopp…
Ich aber sagte: „Ich bin Europäerin!“ – und schaute in entgeisterte
Gesichter.
Auch Jahre später ist zu hören, dass viele BundesbürgerInnen noch immer
wenig Begeisterung für ihren Kontinent und sein Parlament aufbringen. So
ist die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen traditionell geringer als bei
einer Bundestags- oder Landtagswahl. In Berlin lag sie 2014 bei 46,7
Prozent, zur Bundestagswahl 2017 gaben 76,2 Prozent ihre Stimme ab.
Da geht doch noch was, liebe LeserInnen! Sowieso glaube ich, dass viele
BerlinerInnen europäischer denken und fühlen, als sie vermuten würden. Ist
Berlin doch die Welt, oder zumindest Europa im Kleinen. Allein im Wedding
leben auf knapp neun Quadratkilometern gut 86.000 BewohnerInnen aus mehr
als 165 Nationen. Hinzu kommen soziale Herkünfte, Mentalitäten, Religionen.
## Nicht immer alle zufrieden
Natürlich sind – so wie in Europa – da nicht immer alle zufrieden.
Vielerorts in der Stadt wecken explodierende Mieten Existenzängste, sind
die Straßen verstopft und die Luft verpestet, vom Steuerloch BER ganz zu
schweigen. Noch immer wünscht sich so manch Moabiter am Bierstubentresen
die „dolle Zeit“ mit Berlinzulage zurück, als die Welt noch übersichtlich
war und man klar zwischen Freund und Klassenfeind unterschied. Nach wie vor
hört man ehemalige Prenzlauer Berger schimpfen, dass ihnen die Stadt unterm
Arsch weggezogen wurde, obwohl die nachgezogenen Stuttgarter sich die hohen
Mieten in den sanierten Altbauten inzwischen auch nicht mehr leisten
können. Das ist die eine Berlin-Erzählung.
Die andere beginnt vor 30 Jahren, als mutige BürgerInnen die Mauer
friedlich zu Fall brachten und fortan begannen, als wiedervereinte Stadt
Erfolgsgeschichte zu schreiben. Dieses Berlin hat die Todesstreifen,
Grenzsoldaten, Wechselkurse, Überwachungskameras, Zollkontrollen, Angst und
Tränen hinter sich gelassen. Und stattdessen die neuen Nachbarn
kennengelernt, leer stehende Räume erobert, einen neuen Hauptbahnhof und
ganze Wohnquartiere gebaut, die Bundesregierung empfangen sowie Kreative,
Start-up-GründerInnen, Party-TouristInnen.
Wo also, wenn nicht in Berlin, lässt sich heute besser begreifen, wie die
BürgerInnen zweier Staaten von europäischen Werten wie Freiheit,
Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit profitieren. Allein sie gilt
es, am 26. Mai gegen die nationalen ChauvinistInnen zu verteidigen.
Für mich war der 26. Mai übrigens schon immer ein Feiertag. Es war der
Geburtstag meiner Uroma Mimi. 1903 geboren, gehörte Mimi jener Generation
an, die die Kindheit im Kaiserreich, die Jugend in der Weimarer Republik,
Ehe, Arbeit und Rente unter Hitler, den Alliierten und Honecker, und die
letzten Lebensjahre im wiedervereinten Deutschland erlebt hatte. Trotz der
zahlreichen Blessuren, die ihr Lebenslauf davontrug, trotz Flucht, Kälte,
Kartoffelacker und vieler Neuanfänge blieb sie bis ins hohe Alter eine
warmherzige, bescheidene Frau, die drei Tage vor ihrem Tod noch die
Gemüsebeete in ihrem Garten umgrub. Mimi hätte für Europa gestimmt.
26 May 2019
## AUTOREN
Julia Boek
## TAGS
Teilnehmende Beobachtung
Europawahl
DDR
Identität
Teilnehmende Beobachtung
Teilnehmende Beobachtung
Teilnehmende Beobachtung
Schwerpunkt Klimawandel
Anti-Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Was hat Bauhaus mit Alltag zu tun?: Bauhaus zum Nachtisch
Auf Bauhaus-Spuren: Von Dessertschalen mit abgerundeten Ecken, die sich gut
stapeln lassen und der Friedrich-Ebert-Siedlung am Nachtigalplatz.
Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Berliner Blase
Es ist schön, manchmal Teil eines Rummels zu sein. Ihn gelegentlich zu
verlassen erscheint aber auch wichtiger denn je.
Auf Spurensuche in Polen: Am Sehnsuchtsort meiner Oma
Unsere Autorin ist auf den Spuren ihrer Vorfahren rund um Stettin
unterwegs. Auf den Geschmack gekommen, ist sie nun bis Posen gefahren.
Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Prima Leistungskurs in Protestkultur
Nur weil man es freitags nicht vom Sofa schafft, muss man nicht über die
Jugend mäkeln, die an dem Tag mit gutem Grund die Schule schwänzt.
Buch „Das verhängnisvolle Dreieck“: Die Wahrheit über den Rassismus
Hybridität statt Identität: Die posthum erschienenen Aufsätze des
Cultural-Studies-Mitbegründers Stuart Hall sind von frappierender
Aktualität.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.