# taz.de -- Was der Brexit für Berlin bedeutet: You say Goodbye, I say Hello | |
> 5.170 Brit*innen in Berlin haben Aufenthaltstitel beantragt – der | |
> drohende harte Brexit beunruhigt viele Expats. Welche Folgen hat das für | |
> Berlin? | |
Bild: Marmite, Biscuits, Earl Grey: Dale Carr deckt mit ihrem Sortiment ab, was… | |
Berlin taz | Achtung, Brexit: Ein Warnschild hängt an der Tür vom „Broken | |
English“, dem englischen Spezialitätenladen in der Kreuzberger Körtestraße. | |
Dort sind Hinweise der Ausländerbehörde für alle britischen | |
Staatsbürger*innen zu lesen: Was ihnen im Falle eines harten, | |
vertragslosen Brexit ab Ende März bevorsteht und was sie jetzt tun müssen. | |
Zu kaufen gibt es in dem Laden für nicht gerade wenig Geld | |
überlebenswichtige Nervennahrung wie Marmite (würziger Aufstrich aus | |
Hefeextrakt), Biskuits und guten englischen Earl Grey. Seit einiger Zeit | |
ist eine neue Gratis-Dienstleistung hinzugekommen: fachliche und | |
psychologische Betreuung in Sachen Brexit. | |
„Seit dem 23. Juni 2016 ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht mit | |
britischen Kund*innen über den Brexit gesprochen habe“, sagt Dale Carr, | |
die 66-jährige Inhaberin des Ladens, „uns verbindet der permanente und | |
kollektive Schockzustand.“ Vor zwei Jahren sei sie nicht einmal sehr | |
politisch gewesen – inzwischen lese sie jeden Tag alle Artikel, die sie in | |
die Hände bekomme. Ihr Leben sei nicht mehr das gleiche. Der einmalige | |
Vorgang, dass mit Großbritannien ein Land die EU verlässt, sei nicht nur | |
„schrecklich“, sondern auch der „final push“ gewesen, um in den Ruhesta… | |
zu gehen. | |
Ende Mai 2019 wird sie ihren Laden, den sie seit 22 Jahren mit ihrem Mann | |
betreibt, aufgeben. Derzeit sucht Carr nach jemandem, der das Geschäft | |
übernehmen will und Lust hat, sich mit neuen Ausfuhrbestimmungen, möglichen | |
Zöllen auf englische Produkte und einer Menge Papierkram herumzuschlagen. | |
Immerhin: Eine Interessentin gebe es bereits, wie Carr verrät – sie selbst | |
habe keine Energie mehr dafür. | |
Dale Carr ist eine von 18.000 in Berlin lebenden Brit*innen, die nach dem | |
britischen Leave-Referendum und dem drohenden „hard Brexit“ Antworten auf | |
komplizierte Fragen finden müssen: Bekomme ich einen Aufenthaltstitel? Was, | |
wenn ich nicht hier bleiben darf? Kann und will ich die deutsche | |
Staatsbürgerschaft beantragen? Wer nichts unternimmt, dem [1][droht ab dem | |
29. März 2019 über Nacht die Illegalität]. | |
## „Riesenlast von den Schultern gefallen“ | |
Nach dem im britischen Unterhaus [2][gescheiterten Brexit-Vertrag] und der | |
[3][Weigerung der EU nachzuverhandeln] brauchen alle dringend eine | |
Aufenthaltsgenehmigung. Bereits Mitte Januar forderte Innensenator Andreas | |
Geisel (SPD) deshalb in Berlin lebende Brit*innen dazu auf, sich umgehend | |
um ihren Aufenthalt zu kümmern. | |
Dafür bietet die Berliner Ausländerbehörde seit Anfang des Jahres | |
[4][online die Möglichkeit], einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel zu | |
stellen. Wer das tut, kann sich zunächst einen Nachweis auf Antragsstellung | |
ausdrucken und hat mit dem Wisch eine vorläufige Genehmigung, rechtmäßig in | |
Deutschland sein und arbeiten zu dürfen, wie es [5][in einem ausführlich | |
FAQ der Ausländerbehörde] für Brexit-Betroffene heißt. 5.170 britische | |
Berliner*innen haben das seit Jahresanfang bereits getan. | |
Brit*innen, die schon lange hier leben, können außerdem einen Antrag auf | |
Einbürgerung stellen. Carr und ihr Mann haben direkt nach dem Leave-Votum | |
2016 die doppelte Staatsbürgerschaft beantragt und mittlerweile auch | |
erhalten. „Mir ist eine Riesenlast von den Schultern gefallen, als ich nach | |
meiner Einbürgerung die Stufen vom Rathaus Neukölln heruntergegangen bin.“ | |
Dennoch bleibe Carr „besessen vom Brexit“. Auch weil die Einbürgerung bei | |
ihren volljährigen Töchtern komplizierter ist: Obwohl ihre Töchter in | |
Berlin aufgewachsen sind, sei es schwierig, den für die Einbürgerung | |
erforderlichen ununterbrochenen achtjährigen Aufenthalt in Deutschland | |
nachzuweisen – ganz einfach, weil sie alte Papiere weggeschmissen hätten | |
und eine Tochter zudem ein Praktikum in Spanien gemacht habe. Um ihren | |
Aufenthalt zu dokumentieren, hätten sie schließlich alte Facebook-Einträge | |
ausgedruckt und eingereicht, um ihren lückenlosen Aufenthalt zu | |
dokumentieren. Entschieden hat die Staatsangehörigkeitsbehörde in der | |
Neuköllner Blaschkoallee über den Antrag allerdings noch nicht. | |
## Leitmotiv Unklarheit | |
Das könnte ein Problem sein: Formal kann man die doppelte | |
Staatsbürgerschaft [6][nur beantragen, solange Großbritannien noch in der | |
EU ist] – also nur noch bis, Stand heute, Ende März. Berechtigt dazu sind | |
diejenigen, die ohne Unterbrechung sechs bis acht Jahre in Deutschland | |
leben. Die Zahl der Einbürgerungen von Brit*innen in Berlin [7][hat sich | |
innerhalb kurzer Zeit fast verzehnfacht]. Bürgerten sich in den beiden | |
Jahren vor dem Brexit-Referendum nur 86 Brit*innen ein, waren es bis Mitte | |
2018, zwei Jahre danach, 733. Was mit offenen Anträgen nach einem hard | |
Brexit passiert, ist unklar. Die Innenbehörde rät in jedem Fall, einen | |
Aufenthaltstitel zu beantragen. | |
Unklarheit ist das Leitmotiv der Institutionen, die mit dem Brexit zu tun | |
haben. Die Freie Universität (FU) etwa kann ihren Austausch-Studierenden | |
fürs Sommersemester nicht sagen, ob ihr bereits bewilligtes | |
Erasmus-Stipendium das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist. Die | |
EU-Kommission hat gerade bekannt gegeben, dass beim harten Brexit | |
Erasmus-Stipendien mit Unis in Großbritannien [8][formal nicht mehr | |
förderfähig sind]. Gesa Heym-Halayqa, die das FU-Austauschprogramm | |
organisiert, sagt: „Wir wollen alle Programme weiterführen, aber wenn die | |
EU uns verbietet, ab dem 1. 4. zu fördern, kann ich nichts machen.“ Man | |
müsse mit Partner-Unis in Kontakt bleiben – „und gucken.“ | |
Unklarheit ist auch das beherrschende Thema der Wirtschaft. Laut einer | |
[9][Umfrage der Industrie- und Handelskammer] (IHK) befürchten von 200 | |
Berliner Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen nach Großbritannien mehr als | |
ein Drittel negative Auswirkungen. Bereits im Dezember reiste eine | |
Delegation der IHK nach London, um Gespräche mit der dortigen Chamber of | |
Commerce zu führen. Präsident Jan Eder kommentierte nach dem abgelehnten | |
Brexit-Vertrag: „Einerseits gibt es nun bittere Klarheit, andererseits ist | |
die Politik gefragt, so schnell wie möglich ein umfassendes | |
Freihandelsabkommen auf den Weg zu bringen.“ Die Unternehmen müssten sich | |
nun konkret auf den harten Brexit vorbereiten – „wir sehen die Gefahr, dass | |
besonders kleine und mittlere Unternehmen sich aus dem UK-Geschäft | |
zurückziehen“. | |
Zumindest im Broken English droht sich das zu bewahrheiten. Thema bleibt | |
der Brexit dort ohnehin: Care fragt bei allen Brit*innen, die in den Laden | |
kommen, nach, wie ihr Stand ist, berät und hilft, wo sie kann. Die meisten | |
seien besorgt ob der Spaltung der britischen Gesellschaft. Fast alle | |
verbinden negative Erfahrungen mit dem Thema – ob es nun die letzte | |
weltfremde Unterhaus-Brexit-Debatte im Livestream ist oder ganz persönliche | |
Zerwürfnisse – wie bei Dale Carr, die sagt: „Meine beste Freundin hat für | |
den Brexit gestimmt – wir sind nicht mehr befreundet.“ | |
4 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Im-Falle-eines-harten-Brexit/!5566139/ | |
[2] /Nach-Nein-zu-Brexit-Deal/!5563373/ | |
[3] /Die-EU-und-die-Nordirlandfrage/!5569636/ | |
[4] https://www.berlin.de/labo/willkommen-in-berlin/freizuegigkeit-eu-ewr-schwe… | |
[5] https://www.berlin.de/labo/willkommen-in-berlin/freizuegigkeit-eu-ewr-schwe… | |
[6] https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/eugs-de/aktuelles/newsletter/der-… | |
[7] https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/pms/2018/18-05-18.pdf | |
[8] https://eu.daad.de/programme-und-hochschulpolitik/europaeische-hochschulpol… | |
[9] https://www.ihk-berlin.de/blob/bihk24/brexit/downloads/4303570/d9d143473f12… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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