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# taz.de -- 100 Jahre Frauenwahlrecht im Bundestag: Das Ende der Freiwilligkeit
> Der Bundestag würdigt 100 Jahre Frauenwahlrecht. Die Abgeordneten dürfen
> im Plenum feiern – das Präsidium musste davon erst überzeugt werden.
Bild: SPD-Abgeordnete vor der Feierstunde des Deutschen Bundestages zum 100. Ja…
Berlin taz | Weiße Blusen, weiße Blazer, weiße Shirts – im Bundestag sind
am Donnerstagmorgen alle Sozialdemokratinnen in Weiß erschienen. Vor Beginn
der Feierstunde zu 100 Jahren Frauenwahlrecht stehen sie redend im Plenum
beisammen, auf der Regierungsbank leuchten die SPD-Frauen gut sichtbar. Sie
wollen ein Zeichen setzen. Denn weiß waren auch die Blusen jener Frauen,
die vor hundert Jahren erstmals in die Nationalversammlung gewählt wurden;
auf historischen Fotos sieht man sie zwischen all den dunklen Anzügen ihrer
ganz überwiegend männlichen Kollegen.
Beim Festakt am Donnerstag ist [1][das Ungleichgewicht noch immer gut
sichtbar]. Nicht einmal jedeR dritte Abgeordnete im Bundestag ist eine
Frau. Auch im Jahr 2019 liegt das Geschlechterverhältnis erst bei zwei zu
eins. In den Fraktionen sitzen die Frauen an diesem Tag aus gegebenem
Anlass in den vorderen Reihen. Nur die AfD spart sich die Mühe, der
Eindruck ist und bleibt trübe: von den 92 Abgeordneten sind dort gerade
einmal zehn Frauen.
Der flüchtige Eindruck von mangelnder Repräsentanz aber wird mit einem
Blick auf die Besucherinnen-Tribünen wettgemacht. Denn da sind sie ja, all
die Frauen, die das politische, gesellschaftliche, religiöse Leben in
diesem Land vorantreiben und in den zurückliegenden Jahrzehnten
vorangetrieben haben.
Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer sitzt in der ersten Reihe, neben sich
die Rechtspolitikerin Lore-Maria Peschel-Gutzeit. Man sieht die Bloggerin
Kübra Gümüsay und die Imamin Seyran Ates, die letzte
Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl und die Theaterintendantin
Shermin Langhoff.
Dass sie hier sitzen, dass der Saal groß und der Rahmen würdig ist, ist das
Ergebnis zäher Verhandlungen hinter den Kulissen. Das Präsidium habe im
Vorfeld erst überzeugt werden müssen von der Wichtigkeit des Themas, geben
verschiedene Quellen der taz gegenüber zu Protokoll. Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble (CDU) habe den Festakt lieber unter ferner liefen in
einem Verwaltungsgebäude statt im Plenum abhalten wollen.
Die Festrednerin Rita Süssmuth wird in ihrer Rede noch auf dies unrühmliche
Gehakel eingehen. Sie sei richtig froh, sagt die Bundestagspräsidentin
a.D., dass es gelungen sei, diese Veranstaltung hier zu organisieren. „Man
muss immer wissen, was hinter den Kulissen passiert.“
## Frauenpolitik als rein westdeutsche Geschichte
Dafür, dass ihm die gleichberechtigte politische Teilhabe nicht unbedingt
ein Herzensthema zu sein scheint, hält Wolfgang Schäuble dann aber doch
eine artige Rede. „Dass aktive und passive Wahlrecht wurde den Frauen von
den Männern gewährt – aber erstritten haben es sich die Frauen“, sagt der
Bundestagspräsident. Dass sie „keine Verbündeten, auch nicht in den
Parteien“ gehabt hätten, könnte als einlenkender Kommentar auf den Eklat im
Vorfeld verstanden werden.
Sowohl Schäuble als auch die frühere CDU-Frauenministerin Süssmuth machen
jenen Denkfehler, der in diesem gerade beginnenden Landtagswahljahr wohl zu
seinem Ende kommen wird: Sie betrachten und bewerten Frauenpolitik als rein
westdeutsche Geschichte. Der Kampf um die Berufstätigkeit von Frauen, um
körperliche und wirtschaftliche Selbstbestimmung, um politische Teilhabe –
all dies erzählen sie, als sei Ostdeutschland 40 Jahre lang
extraterrestrisches Gelände gewesen.
Erst zum Ende ihrer Rede hin kommt Rita Süssmuth auf die Wiedervereinigung
zu sprechen. „Heute ist für mich der Augenblick, erneut zu danken“, richtet
sie sich an die ostdeutschen Frauen. „Wir sind mit großer Arroganz
vorgegangen, wir wollten die Einheit schnell und haben bei weitem die
Leistungen dieser Frauen unterschätzt.“
## Gleichstellung als Verfassungsauftrag
Christine Bergmann, zur Jahrtausendwende Bundesfrauenministerin im
rot-grünen Kabinett von Gerhard Schröder, wird noch deutlicher. „Ich
brauchte keine Unterschrift meines Mannes zu meinem Arbeitsvertrag“, sagte
die gebürtige Dresdnerin ironisch. Die Basis der Frauenpolitik in der DDR
sei schlicht die Förderung von Erwerbsarbeit gewesen. „Das hatte natürlich
ökonomische Gründe: der Staat brauchte Arbeitskräfte, die Familien das
zweite Einkommen. Sie nicken mir zu, Sie kennen die Situation“, spricht sie
die Kanzlerin direkt an.
Entscheidend sei damals das Gefühl der Gleichwertigkeit gewesen. „Und ich
kann sagen: Das war kein schlechtes Gefühl. Die schlechten Gefühle hatte
ich bei anderen Themen.“ Nach 1990 habe sie in der Politik ausschließlich
den „westdeutschen Blick“ auf Frauenpolitik vorgefunden, sagt Bergmann
dann, die in diesem Jahr 80 Jahre alt wird. „Der ostdeutsche Blick ist ein
anderer, er kommt aber nicht vor.“
Schließlich wird sie konkret und fordert eine Gesetzesreform zur
[2][Erhöhung des Frauenanteils im Parlament]. Das Warten müsse ein Ende
haben. „Statt den Zustand zu beklagen, ist es an der Zeit, sich ernstlich
mit einem Paritätsgesetz zu befassen.“ Das sei man schon den
Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht schuldig. Bei der Aufstellung der
Wahllisten und der DirektkandidatInnen müsse den Parteien vorgeschrieben
werden, Frauen und Männer in gleichem Maße zu berücksichtigen.
Schließlich sei die Gleichstellung der Geschlechter Verfassungsauftrag.
„Auch wenn uns die Diskussion um Gleichstellungsgesetze und Quoten
reichlich nervt: Mit der Freiwilligkeit sind wir nicht weit gekommen.“ Nur
wenige Meter vor ihr sitzt die Kanzlerin und nickt eifrig.
17 Jan 2019
## LINKS
[1] /Mehr-Frauen-in-die-Parlamente/!5563473
[2] /Kommentar-Paritaetisches-Wahlrecht/!5563403
## AUTOREN
Anja Maier
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