# taz.de -- Bildband „Copines“: Spuren und Schriften | |
> Der Künstler Rolle hat einen Bildband mit Aufnahmen aus Romavierteln in | |
> Europa veröffentlicht. Sein Ansatz ist eher ethnologisch als | |
> fotografisch. | |
Bild: Ein Bild aus Rolles „Fototagebuch“, aufgenommen in einem Romaviertel … | |
Rolle nimmt die Welt auf. Ihre Bilder und ihre Geräusche. Deshalb ist es | |
schade, dass ein Bildband nur die Fotografien, aber nicht die Musik | |
enthalten kann, die der Kasseler Künstler in Sofia und in Perpignan | |
aufgezeichnet hat. Dass er sich hier fotografisch festbeißen würde, war | |
letztlich Zufall. Zwar war Sofia zu erkunden ein Plan gewesen, von dem | |
[1][Romaviertel] Fakulteta, das er später fotografieren sollte, wusste er | |
aber noch nichts. | |
Nach Perpignan brachte ihn der Besuch bei einem Freund. So entdeckte er das | |
Viertel Saint-Jacques und die ungewöhnlichen Graffiti, die dort die Wände | |
der heruntergekommen Häuser zieren, nämlich Namenslisten. Nach einer dieser | |
Listen hat Role auch seinen ersten Bildband genannt: „Copines“. | |
Schlägt man diesen auf, schaut man aber erst einmal auf das Panorama einer | |
typisch osteuropäischen Plattenbausiedlung. Das Bild zeigt den westlichen | |
Stadtrand von Sofia, wo das Stadtviertel Fakulteta liegt. Mit bis zu 45.000 | |
Einwohnern ist es die größte Niederlassung von Roma in Südosteuropas. Hier | |
entstanden die Straßenszenen und Porträts seiner Bewohner, die Rolle beim | |
Wasserholen beobachtete oder beim Gewichtheben im Gym. | |
Sie standen auch ganz klassisch Porträt für ihn, als stolzes Paar, als | |
einzelner Mann im Trainingsanzug, der schüchtern lächelt, oder als der | |
kleine Junge, der sehr ernsthaft in die Kamera schaut und dabei das Foto | |
eines Babys an seine Brust drückt – man darf vermuten, dass er selbst | |
darauf zu sehen ist. Meine Existenz ist dokumentiert, schon als Baby, | |
scheint die Geste und die Ernsthaftigkeit seines Gesichtsausdrucks bedeuten | |
zu wollen. | |
## Die Faszination der Zeichen an der Wand | |
Mit ihren Namen dokumentiert haben sich Kinder und Jugendliche an den | |
Hauswänden ihres Viertels Saint-Jacques und dabei haben sie eine ganz | |
eigene Art des Graffitischreibens entwickelt: die Auflistung. Statt des | |
eigenen Tags oder üblicher Botschaften wie Fritz liebt Marie sind an den | |
bröckelnden Wänden Namen aufgelistet. | |
Mutmaßlich werden hier Freundschaften, vielleicht auch Gangzugehörigkeiten | |
samt dem Jahr, in dem sie zustande kamen, festgehalten. Aber das ist nur | |
eine Vermutung. Letztlich geht es um die ästhetische Faszination dieser | |
Zeichen an der Wand, die in ihrer Schlichtheit leicht übersehen werden, | |
zumal sie von anderen Tags und Sprayerfiguren umgeben und überschrieben | |
sind. | |
Dieser zweite Teil des Buches ist der spannendere. Zunächst antwortet das | |
eher kontrastarme Schwarz-Weiß, das für Rolles Aufnahmen charakteristisch | |
ist, in seinen Grauabstufungen adäquat auf all die diffizilen | |
Überlagerungen der Spuren und Schriften an der Wand. Und dann verwirklicht | |
sich Rolles Vorgehensweise in diesen Straßenstillleben noch in anderer | |
Weise. | |
Wie Fakulteta ist auch Saint-Jacques ein Romaviertel, freilich sind seine | |
Bewohner spanischer Herkunft. Rolle, der 1983 in Kassel geboren wurde und | |
dort noch immer lebt (sein bürgerlicher Name bleibt unerwähnt), nähert sich | |
fotografisch also einer ihm völlig fremden Gemeinschaft von Menschen an. | |
Was bringt ihn dazu? | |
Recht besehen der Zufall und eine starke Faszination. Sofia wie Perpignan | |
bedeutet, in der Fremde zu sein. Was legitimiert diese Annäherung? Der | |
Fotograf Gunter Rambow, der das Vorwort schreibt, nennt Rolles Aufnahmen | |
„soziale Fotografie“. Rolle selbst ist sich da nicht sicher, wie in einem | |
Interview im Buch deutlich wird. Zu Recht. | |
Rolle macht Aufnahmen von der Welt. Ton- und Bildaufnahmen. Diese | |
Kombination ist ein starkes Indiz dafür, dass Rolles Ansatz eher ein | |
ethnologischer ist als ein fotografischer. Er sieht denn selbst in | |
„Copines“ eine „Art Fototagebuch“. Das Vorläufige der Tagebuchaufzeich… | |
während einer Feldforschung fällt bei den Mauerbildern nicht weiter ins | |
Gewicht – man kann warten, was weitere Recherchen zu ihrer Bedeutung | |
erbringen. | |
Für die Aufnahmen aus Fakulteta gilt das nicht. Veröffentlicht werden die | |
Szenen des sozialen Lebens und Porträts endgültig, und damit steht | |
unweigerlich die Frage im Raum, worin begründet sich ihre Notwendigkeit? | |
Warum kommen sie von außen, warum entstehen sie nicht in der Gemeinschaft? | |
Statt Aufzeichnung scheinen sie Dokument, womöglich rein ästhetisches | |
Ereignis zu sein, womit sie Rolles Anliegen delegitimierten. Es ist also | |
mehr als bedauerlich, dass ein Fotobuch nur Bilder und keine Töne enthält. | |
Das brauchte es, um Rolles Zugriff auf die Welt adäquat zu vermitteln. | |
29 Jan 2019 | |
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[1] /Essay-zum-Roma-Tag/!5289866 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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