# taz.de -- Neuer Bildband zur 1968-er Bewegung: Statisten im Scheinwerferlicht | |
> Michael Ruetz wurde bekannt als Chronist einer Ära. In seinem Fotoband | |
> „Gegenwind. Facing the Sixties“ nimmt er die Nebendarsteller in den | |
> Blick. | |
Bild: Als die Proteste abflauen, fährt Ruetz nach Auschwitz und Groß-Rosen un… | |
1968 machte Michael Ruetz zum Fotografen. „Ich war auf einmal eine Adresse | |
in Berlin“, erinnert sich Ruetz im Gespräch. „Ganz komisch. Weil ich doch | |
noch Sinologie studierte und an meiner Dissertation saß.“ Das war ein | |
anstrengendes Unterfangen, also kam es ihm entgegen, „wenn irgendwo was los | |
war. Da bin ich gern hingegangen.“ | |
Natürlich immer mit seiner Kamera: „Es war ein richtig schönes öffentliches | |
Leben 1968.“ Denn der Spiegel und Die Zeit, später auch Time Magazine, Life | |
und Paris Match druckten seine Aufnahmen. „Ich fuhr jeden Tag nach | |
Tempelhof zur Luftfracht, lieferte meine Fotos direkt bei British Airways | |
oder Pan Am ab, und in Hamburg holten die das ab. Die hatten innerhalb | |
einer Stunde ihre Bilder.“ | |
Sie zeigten Aktionen und Aktivisten der Außerparlamentarischen Opposition | |
und wurden berühmt. Jetzt, wo sich 1968 zum 50. Mal jährt, experimentiert | |
Ruetz in seinem neuen Band „Gegenwind. Facing the Sixties“ mit diesen | |
Bildern und testet die Möglichkeiten der Fotografie aus. Das war schon | |
immer sein Ding. Und weil bereits der frischgebackene Fotograf gleich für | |
die ersten Filme, die er belichtete, Archivkarten anlegte, auf denen er | |
Filmnummer, Anlass, Ort und Datum vermerkte, kam es zu den sogenannten | |
Timescapes. | |
Für diese Aufnahmen kehrt der Fotograf an den einmal fotografierten Ort | |
zurück, um ihn erneut und wiederholt zu fotografieren. Michael Ruetz könnte | |
prinzipiell jeden je von ihm fotografierten Ort wieder aufsuchen und dessen | |
Entwicklung, die immer auch die Entwicklung seiner Umgebung ist, über einen | |
langen Zeitraum dokumentieren. | |
## Nicht ins Zentrum blicken, lieber an den Rand | |
In „Gegenwind“ finden sich zwei Aufnahmeorte, die der Fotograf fünfzig | |
Jahre später noch einmal besuchte. Was, wie sich herausstellte vor allem | |
bedeutete, sie überhaupt noch zu finden. Die „Hochschulbräu“-Kneipe im | |
Wedding, vor der sich an einem schönen Sonntag im Juni 1967 die Gäste aus | |
dem Kiez wie fürs Foto aufgestellt zu haben scheinen, heißt heute „Resotto�… | |
und bildet das Timescape 234. Doch das ist in dem Band nicht vermerkt. | |
Hier nutzt Ruetz die Aufnahme, um in das Motiv selbst hineinzuzoomen und | |
sich Leute vom Hochschulbräu aus der Nähe anzuschauen. Und da zeigt sich | |
unverkennbar, dass sie Gaffer sind, die mit höhnischen Grimassen den | |
Protestzug der Studenten kommentieren, aus deren Mitte heraus Ruetz dieses | |
Foto schoss. | |
Es geht Michael Ruetz in „Gegenwind“, wie er sagt, „um eine „Dekonstruk… | |
der Bilder“. Er will die Nebendarsteller in den Blick bekommen. Die Leute, | |
die drum herumstehen. Deren Rolle gibt ja oft besseren Aufschluss über die | |
Situation als der Blick ins Zentrum, der die Aufgabe des Pressefotos ist. | |
Anders als dort, wo das in Rede stehende Thema das Bild beherrscht, will | |
Ruetz, indem er ins Bild hineingeht und dessen Hintergrund ausleuchtet,„den | |
Blick schweifen lassen, auf das, was nebensächlich erscheint“. | |
Und tatsächlich finden sich so ganz wunderbare Bilder. Da ist etwa die | |
Aufnahme eines verwüsteten Seminarraums: umgeworfene Stühle und Tische, auf | |
der Tafel steht „Das Institut ist wieder einmal besetzt!“ Und daneben steht | |
– aber das ist erst in der Vergrößerung des Details zu lesen − „Le rire | |
rouge de Dany le Rouge est plus rouge que le drapeau rouge“ („das rote | |
Lachen vom roten Dany ist röter als die rote Fahne“). So entsteht Michael | |
Ruetz’ Porträt von Daniel Cohn-Bendit in Form konkreter Poesie. Nach | |
eigener Aussage hat er ihn nie fotografiert. | |
## Bilder von Dutschke, wie er seinen Sohn wickelt | |
Dafür stammen von ihm viele Fotos von Rudi Dutschke. Berühmt ist die | |
Aufnahme von Dutschke am Rednerpult im Audimax, mit einer Art | |
Heiligenschein um den Kopf. Im Detailausschnitt ist diese Aureole des | |
Märtyrers verschwunden. Man erkennt nun an den Haaren das | |
Scheinwerferlicht, das den Lichtkranz verursacht. In der ursprünglichen | |
Aufnahme kann es als solches nur hergeleitet, aber nicht erkannt werden. | |
Ein anderes Bild von Dutschke, das Ruetz gemacht hat, zeigt den | |
Studentenführer dabei, wie er seinen Sohn wickelt. Paradigmatisch den | |
berühmten 68er-Satz „Das Private ist politisch“ illustrierend, könnte | |
dieses Bild vom Vater, der sein Kind wickelt, das nachhaltigere Vermächtnis | |
Dutschkes sein als seine Schriften. Ist dieses Bild heute doch fast schon | |
im Mainstream angekommen. Doch Michael Ruetz ist diesem Foto nicht | |
nachgegangen: „Ich empfinde es noch immer als indiskret. Zu dieser Zeit | |
galt Dutschke ja in der Presse als Menschenfresser. Ich wollte mit dem Bild | |
dagegenhalten.“ | |
Wen Ruetz noch gerne fotografiert hat, ist Beuys. Aber wohl nur Christoph | |
Stölzl, der das kluge Vorwort zu dem Band beigesteuert hat, kann jetzt in | |
der Vergrößerung und Annäherung erkennen, dass man „bei Joseph Beuys Kaffee | |
aus Kurland-Porzellan von KPM trinkt, dem Statuserkennungszeichen des | |
konservativen Bürgertums in Deutschland“. Das war dann schon Anfang der | |
1970er Jahre. | |
Gudrun Ensslin versicherte 1967 dafür dem Kind im Kinderwagen, den sie vor | |
sich herschob, es werde, wenn es erst groß ist, immer seine MG bei sich | |
tragen. So stand es auf dem am Kinderwagen angebrachten Plakat. Ensslin | |
bleibt in „Gegenwind“ als Protagonistin der Zeitgeschichte allein. Frauen | |
sind in den Aufnahmen ganz klar nur Beiwerk. Was exakt der Wahrnehmung der | |
Zeit entsprach. | |
Ende 1968, als die Proteste abgeflaut sind, fährt Ruetz nach Auschwitz und | |
Groß-Rosen. In den lupenstarken Gläsern der Brille eines ehemaligen | |
Häftlings wird gebeugt der Fotograf gleich zweimal sichtbar. Vielleicht ist | |
das dann doch das paradigmatische Bild von 1968, das es laut Ruetz nicht | |
gibt. Er sieht 1968 als einen Prozess: „Man kann 68 nicht auf die Jahre | |
1967 bis 1969 reduzieren“. Für ihn war es vor allem auch die Zeit, in der | |
noch immer die alten Nazis schalteten und walteten. „Die Nazis waren die | |
Richter, die Bürokraten waren alles alte Nazis. Und dann gab es dieses | |
eklige Wort vom Befehlsnotstand. Wir waren eigentlich von einer stillen Wut | |
erfüllt, und als die Wut laut wurde, war das 68.“ | |
21 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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