# taz.de -- Essay zum Roma-Tag: Europas missachtete Minderheit | |
> Sinti und Roma sind spezifischen Vorurteilen ausgesetzt. Diese werden | |
> benutzt, um ihre Bevormundung und Ausgrenzung zu rechtfertigen. | |
Bild: Feier von Roma in Bukarest zum 160. Jahrestag ihrer Befreiung von der Skl… | |
Zur Solidarität mit Sinti und Roma, der am wenigsten geachteten Minderheit | |
Europas, wird am 8. April aufgerufen. Der Romaday mit einer Kundgebung am | |
Brandenburger Tor will an die Ressentiments erinnern, denen die Angehörigen | |
dieses Volkes überall ausgesetzt sind. Partizipation und Gleichberechtigung | |
als Bürger werden angemahnt. Schutz und Hilfe für asylsuchende Roma, für | |
die es keine sicheren Drittstaaten gibt, sind erbeten, das Ende der | |
stereotypengeleiteten Feindseligkeit und Vorurteile wird erhofft. In einer | |
Zeit zunehmender Entsolidarisierung und Intoleranz, im Crescendo | |
bürgerlicher Rohheit und Fremdenfeindschaft ist das alles so berechtigt wie | |
eh und jeh, aber schwer durchzusetzen. | |
Einst hieß es „Zigeunerplage“, und die Diskriminierung und Verfolgung von | |
Sinti und Roma kulminierte im Völkermord unter nationalsozialistischer | |
Ägide. Das NS-Regime hatte sich die überlieferten rassistischen und | |
sozialen Ressentiments zu eigen gemacht und führte die seit Langem gängige | |
Politik gegen die Minderheit weiter, bis die Ausgrenzung in den Genozid | |
mündete. Aber diese Tatsache drang erst spät ins kollektive Gedächtnis, | |
weil die Mehrheit der Deutschen lange Zeit darin einig war, dass das | |
Schicksal der „Zigeuner“ von anderen Intentionen bestimmt gewesen wäre als | |
das der Juden. Nicht Rassenhass, sondern Kriminalprävention sei das Motiv | |
der Nationalsozialisten gewesen. Wenn es aber Kriminalprävention war, dann | |
waren die Opfer selber schuld an ihrem Unglück. | |
So dachte die Mehrheit noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Dritten | |
Reiches. Im Jahr 1956 kam der Bundesgerichtshof in einem berüchtigten | |
Urteil zu der Feststellung, die das Verhalten der Mehrheit bei der | |
Verweigerung von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen zu | |
sanktionieren schien: „Die Zigeuner neigen zu Kriminalität, besonders zu | |
Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen | |
Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven | |
Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ | |
## Behauptete Defekte | |
Sinti und Roma sind Objekte spezifischer Vorurteile. Die ihnen | |
zugeschriebenen „rassischen“ Eigenarten und die daraus resultierenden | |
behaupteten Defekte und Defizite sind Gründe der Exklusion: Sinti und Roma | |
würden den Eigentumsbegriff und andere Werte der Mehrheit nicht teilen, | |
seien sexuell zügellos, aus angeborenem Freiheitsdurst nicht sesshaft zu | |
machen. Als Konfliktlösung akzeptierten „die Zigeuner“ angeblich nur Gewalt | |
und sie seien nicht an die Lebensformen der Mehrheitsgesellschaft zu | |
gewöhnen, lauten weitere Vorwürfe. | |
Die ausgrenzenden Vorurteile konstellieren die Lebenswelt der davon | |
Betroffenen. So wird ihnen nachgesagt, sie lehnten bürgerliche Wohnformen | |
ab, weil sie lieber nomadisieren würden. Tatsächlich stand am Anfang aber | |
die Verweigerung der Wohnung, die Sinti und Roma zur Nichtsesshaftigkeit | |
zwang. Auch die Metaphern der Naturhaftigkeit und angeblicher Verachtung | |
der Zivilisation sind willkommene Instrumente der Ausgrenzung: Das | |
Vorurteil vom kindhaften Naturvolk rechtfertigt scheinbar Bevormundung und | |
Ausgrenzung. Vorstellungen über die „Welt der Zigeuner“ bestimmen | |
andererseits in der Konsumwelt mit Attributen wie rassig, feurig, pikant, | |
sexuell stimulierend das Bild von der Minderheit. | |
In der Abneigung gegen Sinti und Roma sind sich die Europäer einig. Eine | |
Umfrage im Jahr 1988 ergab, dass 50 Prozent der Bundesbürger Ressentiments | |
gegen „Zigeuner“ hegten, 1992 war der Anteil auf 64 Prozent angestiegen. | |
Zwei Jahre später wurde ermittelt, dass jetzt 68 Prozent der Deutschen den | |
Sinti und Roma grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. | |
Den repräsentativen Erhebungen in der Mehrheitsgesellschaft steht eine | |
Umfrage gegenüber, die der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vor zehn | |
Jahren innerhalb der Minderheit veranstaltete. 76 Prozent der Befragten | |
berichteten von Diskriminierung im sozialen Umfeld und am Arbeitsplatz. 54 | |
Prozent hatten Nachteile bei der Wohnungssuche erfahren, 40 Prozent hatten | |
Diskriminierungen in der Schule selbst erlebt oder berichteten von | |
Ausgrenzungen, die ihre Kinder erfuhren. Aktuelle Studien bestätigen den | |
zunehmenden Trend der Ablehnung. | |
## Furcht vor dem Stigma | |
Angeblich sind Roma weder fähig noch willens zur Integration. Aber die | |
Assimilation hat viele deutsche Sinti zu beruflichem und gesellschaftlichem | |
Erfolg geführt, jedoch um den Preis der Geheimhaltung ihrer Identität. Die | |
Angehörigen der autochthonen Minderheit deutscher Sinti und Roma treten für | |
die Mehrheit der Deutschen kaum in Erscheinung. Sie sind integriert, wohnen | |
und arbeiten so unauffällig wie ihre Nachbarn, geben sich nicht zu | |
erkennen, weil sie das Stigma fürchten, wenn sie sich als „Zigeuner“ outen. | |
Einige Musiker und Sportler haben es getan, nachdem sie Prominentenstatus | |
erreicht hatten und keine Schmähung und keinen Karrierenachteil mehr | |
fürchten mussten, andere sorgen sich um ihren Platz in der Chefetage in | |
Industrie, Banken und Handel und geben diesen Teil ihrer Identität nicht | |
preis. | |
Das Verhältnis der größten ethnischen Minderheit Europas zur jeweiligen | |
Mehrheit wird auch in Deutschland durch überlieferte Ressentiments, | |
Legenden, Bilder bestimmt. Dazu kommt eine neue visuelle Wahrnehmung: | |
Roma-Zuwanderer aus Südosteuropa werden als lästige Arme, als fremde | |
Hilfsbedürftige, als „aggressive Bettler“, als ungefragte Anbieter unnütz… | |
Dienstleistungen, als Sozialschmarotzer, als Eindringlinge gesehen. | |
Mit Metaphern des Schreckens wie „Armutsmigration“, „Sozialtourismus“, | |
„Unterwanderung“, „Überfremdung“, „Plünderung der Sozialsysteme“, | |
„Sozialbetrug“ usw. sind Roma belegt worden, die in den letzten Jahren aus | |
Bulgarien und Rumänien in die Bundesrepublik eingereist sind. Die uralte | |
Furcht vor „den Zigeunern“ konnotiert mit Eigentumsdelikten, Gewalttaten, | |
Unsauberkeit, Aggression, Barbarei und anderen Übeln. Die Klischees vom | |
„Zigeuner“ haben seit Generationen den Boden bereitet, die neuen Bilder der | |
Elendssiedlungen, aus denen sie kommen, und der Armut, in der sie an den | |
Rändern der Städte leben, sind nahtlos anschlussfähig. Medien und Politik | |
agieren damit, instrumentalisieren auch die Geschicke der Immigranten, | |
gestalten das Bild zum Feindbild. | |
## Prekariatsjournalismus | |
Nicht nur in den Medien der Rechten wurde der „Ansturm der Zigeuner“ mit | |
schreckenerregenden Bildern ausgemalt. Beliebter und wirkungsvoller als | |
seriöse Berichterstattung und aufklärender Journalismus sind Reportagen | |
über die Elendssiedlungen in der Slowakei, in Bulgarien oder Rumänien, aus | |
denen Roma Auswege aus ihrem Elend durch Flucht in den Westen suchen. | |
Mit der Schilderung der Zustände in den südosteuropäischen Herkunftsländern | |
der „Armutsmigranten“ wird der Abscheu vor ihnen an den Ausgangspunkt | |
zurückverwiesen, in der offenkundigen Absicht, die Inferiorität der Roma | |
als naturgegeben und deshalb unabänderlich zu beweisen. Die Beschreibung | |
der Elendssiedlungen hat auch den Zweck, den Opfern der Diskriminierung | |
Schuld zuzuweisen, denn nach verbreiteter Ansicht tragen sie selbst dazu | |
bei, dass sie diskriminiert werden. Das widerspricht zwar den Erkenntnissen | |
der Ressentimentforschung, entspricht aber dem Erklärungswunsch der | |
diskriminierenden Mehrheitsgesellschaft. | |
Der Prekariatsjournalismus dient, unter dem Vorwand, die erbärmlichen | |
Lebensumstände der „Zigeuner“ zu erklären, einem Sozialvoyeurismus, der | |
Spießern die Selbstbestätigung ihrer Tugenden erleichtert. Rechtsextreme | |
Propaganda wie das Wahlplakat der NPD, „Geld für die Oma statt für Sinti | |
und Roma“, Hasstiraden in den Gesinnungsgemeinschaften der Bloggerszene | |
sind nur die eine Seite der Wahrnehmung der Roma. Die andere besteht im | |
unartikulierten Abscheu der Mehrheitsgesellschaft, mit dem sie der | |
Minderheit begegnet und mit dem sie sich, ohne verbalen Aufwand und ohne | |
Reflexion, selbst bestätigt. Roma sind ihr bestenfalls gleichgültig. | |
8 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Benz | |
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