# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Kein Dach überm Kopf in Bukarest | |
> Roma werden aus dem Wohnungsmarkt gedrängt. Sie gehören zu den wenigen, | |
> die ihre Wohnung nicht besitzen, sondern mieten. | |
Bild: Blick vom Balkon auf die Vorbereitung der Feierlichkeiten zur rumänische… | |
Maria Ursu wusste, dass sie eines Tages rausgeworfen wird, und war doch | |
geschockt, als es so weit war. Fast zwanzig Jahre hatte sie in der | |
Vulturilorstraße 50 gewohnt, als das Haus, in dem 25 Roma-Familien lebten, | |
geräumt wurde. Ein Aluminiumtor verschließt heute die Einfahrt zu der | |
schmalen Allee. | |
Die Häuser sind niedrig und heruntergekommen, doch sie liegen nah am | |
Stadtzentrum Bukarests. Das macht sie attraktiv, weshalb die Alteigentümer | |
ein Haus nach dem anderen zurückfordern, räumen lassen und wieder | |
verkaufen. | |
Solange die Häuser unter kommunaler Verwaltung standen, waren die Mieten | |
günstig. Von ihrem bescheidenen Sozialarbeitergehalt (800 Lei, umgerechnet | |
180 Euro) hätte sich Maria Ursu auch gar keine andere Wohnung leisten | |
können. Nun kampiert die 58-Jährige schon seit Monaten mit einigen ihrer | |
früheren Nachbarn auf dem Bürgersteig vor ihrem alten Haus. „Nieder mit der | |
Immobilienmafia“ und „Wohnrecht für alle“ steht auf den Spruchbändern, … | |
sie an ihre Bretterbuden gehängt haben. | |
Mieterinnen wie Maria Ursu gehören zu einer sehr kleinen Minderheit. Denn | |
in keinem anderen europäischen Land gibt es so viel Wohneigentum wie in | |
Rumänien, laut Eurostat waren 2013 95,6 Prozent der Haushalte Eigentümer | |
ihres Domizils. Das liegt zum einen an den vielen Einfamilienhäusern auf | |
dem Land. Noch mehr ins Gewicht fällt jedoch eine Maßnahme des ersten | |
postkommunistischen Staatspräsidenten Ion Iliescu. | |
Anfang der 1990er Jahre überraschte er die Rumänen mit der Entscheidung, | |
staatlichen Wohnraum zu erschwinglichen Preisen zu veräußern. Nach Auskunft | |
der Stadtverwaltung von Bukarest gingen damals 95 Prozent der Wohnungen in | |
den Besitz der Mieter über. Die Einzigen, für die das gar nicht erst | |
infrage kam, waren die armen Roma, über denen fortan das Damoklesschwert | |
der Zwangsräumung schwebte. | |
Im Zuge von Verstaatlichungsmaßnahmen waren zwischen 1950 und 1989 | |
schätzungsweise 400.000 Immobilien in Staatsbesitz übergegangen. | |
Unmittelbar nach dem Sturz der Ceaușescu-Diktatur verwaltete die Bukarester | |
Wohnungsbaugesellschaft Icral etwa 450 000 Wohnungen, größtenteils | |
enteignete Immobilien und Wohnsilos, die im Auftrag der Regierung ab 1975 | |
hochgezogen worden waren. Die Icral verwaltete die im Kommunismus | |
verstaatlichten Immobilien. 1989 wurde sie zur Immobilienverwaltungsbehörde | |
AFI. | |
## Dauerbrenner Restitution | |
In Rumänien ist das Thema Restitution ein Dauerbrenner. Nach einer langen | |
Phase der Unentschlossenheit und erst auf Druck der EU hat sich das | |
Parlament 2001 zum „Gesetz 10“ durchgerungen. Anders als andere Länder des | |
ehemaligen Ostblocks, die eine Entschädigung bevorzugten, entschied sich | |
Rumänien dafür, den Alteigentümern oder deren Rechtsnachfolgern die | |
Immobilien zurückzugeben und nur in den Fällen, in denen eine Restitution | |
nicht mehr möglich war, einen finanziellen Ausgleich zu zahlen. | |
Das Restitutionsgesetz beinhaltet eine Mieterschutzklausel, nach der die | |
Alteigentümer mit den Altmietern einen Mietvertrag über mindestens fünf | |
Jahre abschließen müssen. Theoretisch ist das Wohnungsamt verpflichtet, | |
innerhalb dieser Frist eine Ersatzwohnung für die Altmieter zu finden. | |
Allerdings hatte man nicht damit gerechnet, dass sich so viele | |
Alteigentümer melden würden. Die Behörden sind mit der Bearbeitung der | |
Restitutionsanträge überlastet – von den 43.155 Anträgen aus dem Jahr 2001 | |
wurden 1548 noch nicht bearbeitet. Die Verlierer sind die Mieter – seit der | |
Wende sind mehrere tausend von ihnen in Bukarest zwangsgeräumt worden. | |
Im Bukarester Wohnungsamt AFI stapeln sich 10.000 unbearbeitete Anträge auf | |
eine Sozialbauwohnung; mindestens 3442 stammen von Personen, die | |
unmittelbar von Zwangsräumungen betroffen sind oder kurz davorstehen. In | |
der 1,9-Millionen-Einwohner-Stadt gab es 2015 nur 1516 Sozialwohnungen, und | |
die sind alle belegt. | |
Die Stadt behauptet, es gebe kein Geld für den sozialen Wohnungsbau. Doch | |
dieses Argument lässt Veda Popovici, die im März 2014 die Gemeinsame Front | |
für das Recht auf Wohnen (FCDL) mitbegründete, nicht gelten: „Das ist keine | |
Frage des Geldes, sondern der Prioritäten. Um die Gunst der Wähler zu | |
erlangen, kümmert sich die Stadt lieber um Wärmedämmungen, als Wohnungen | |
für die Ärmsten zu bauen.“ Nur wenn es ihr gerade passen würde oder ihr | |
nichts anderes übrig bliebe, stünden auf einmal Wohnungen zur Verfügung. | |
Als zum Beispiel das historische Zentrum zum Touristenziel herausgeputzt | |
wurde, siedelte die Stadt kurzerhand Hunderte Bewohner aus dem lebendigen | |
Arbeiterviertel in Sozialwohnungen am Stadtrand um. Der Staatssekretär im | |
Ministerium für Regionale Entwicklung, Cezar Soare, ist der Meinung, die | |
Regierung habe 2015 mit „2800 Wohnungen“ genug getan. | |
Auf die Anträge der Vulturilor-Hausgemeinschaft hat das Amt bislang nur mit | |
provisorischen Lösungen reagiert, unter anderem bietet es einen Zuschuss | |
von 900 Lei (200 Euro) an, der sechs Monatsmieten bei einem privaten | |
Vermieter decken soll. Einige der Zwangsgeräumten habe die Finanzhilfe | |
zurückgewiesen, was ihnen heftige Vorwürfe einbrachte. „Wollen Sie wirklich | |
lieber auf der Straße bleiben?“, fragte die AFI-Leiterin auf einer | |
Bürgerversammlung. Für die 32-jährige Romni Mariana Otest sind solche | |
Äußerungen reine Stimmungsmache: „Ich habe auf dem freien Wohnungsmarkt | |
eine Wohnung gesucht“, berichtet sie, „aber sobald ich sage, dass ich Romni | |
bin, habe ich nicht die geringste Chance.“ | |
Hinter dem Haus des Volkes liegt das Stadtviertel Rahova-Uranus. Zwischen | |
dem Blumenmarkt, einer aufgegebenen Brauerei und Lagerhäusern aus rotem | |
Backstein, die zu Künstlerateliers umfunktioniert wurden, stehen ein paar | |
schöne Bürgerhäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert, die ihren früheren | |
Besitzern zurückerstattet wurden. Die Sprecherin der Roma-Gemeinschaft im | |
Viertel, Cristina Eremia, hat schon mehrere Zwangsräumungen miterlebt: „Man | |
fragt sich, warum die Zigeuner einen schlechten Ruf haben. Doch sobald sie | |
sich integriert haben, nimmt man ihnen die Wohnung weg! In gewisser Weise | |
produziert der Staat seine eigenen Straftäter.“ | |
## Immobilienmafia | |
Bei den Restitutionsverfahren nutzen skrupellose Unternehmer die | |
rechtlichen Schlupflöcher. Cristina Eremia und ihr Mann gehen davon aus, | |
dass sie betrogen wurden. Vor fünf Jahren haben sie bereits ihr Lokal La | |
Bomba verloren, das ein beliebter Treffpunkt war. Heute ist das Haus | |
bedroht, in dem sie mit vier weiteren Familien wohnen. | |
Die Mieter haben gegen den Alteigentümer prozessiert; dadurch bleiben sie | |
zumindest bis zum endgültigen Urteil von einer Zwangsräumung verschont. | |
Aber die Alteigentümer seien gar nicht das Problem, erklärt Cristina | |
Eremia, sondern die Immobilienmafia: „Der Bezirk stellt falsche | |
Besitzurkunden aus, und die Richter und Staatsanwälte stehen auf der Seite | |
der Korrupten.“ Zahlreiche Grundstücke und Häuser in Zentrumsnähe sind | |
Millionen Euro wert; das lockt Bau- und Immobilienfirmen an. | |
Manche Anwaltskanzleien haben sich auf die Rückgabeansprüche von | |
Alteigentümern spezialisiert. Weil diese Verfahren oft sehr lange dauern, | |
verkaufen viele ihr Besitzrecht lieber an solche Zwischenhändler, statt auf | |
die Rückerstattung ihrer Immobilie zu warten und sich dann womöglich noch | |
mit den Mietern herumschlagen zu müssen. Das Haus in der Vulturilor-Straße | |
50 hat zum Beispiel ein norwegischer Geschäftsmann erworben. | |
Aber auch die Alteigentümer beschweren sich über die Immobilienmafia. | |
Marina Ghelber etwa, deren Familie zur rumänischen Intelligenzija gehörte | |
und die seit 1976 als Französischlehrerin in Paris lebt, gelang es nicht, | |
die Eigentumsrechte für das Haus ihrer Mutter in Bukarest zurückzubekommen. | |
Denn das Restitutionsgesetz von 2001 widerspricht dem Gesetz 112 von 1995, | |
durch das die damaligen Mieter zu günstigen Konditionen Wohneigentum | |
erwerben konnten. Kein Wunder, dass die Gerichte mit Streitfällen zwischen | |
potenziell Restitutionsberechtigten und früheren Mietern, die zu | |
Wohneigentümern wurden, völlig überlastet sind. | |
Marina Ghelber hat längst erkannt, dass sie es mit dubiosen Leuten zu tun | |
hat. Hinter der Mieterfamilie, die angeblich ihr Haus gekauft hatte, stand | |
tatsächlich Viorel Hrebenciuc, eine graue Eminenz der Sozialdemokratischen | |
Partei und ein Vertrauter von Ion Iliescu. Hrebenciuc hatte das Gesetz 112 | |
genutzt, um illegal Immobilien zu erwerben. Damals sahen viele in dem | |
Gesetz ein Geschenk von Präsident Iliescu an seine politischen Freunde, die | |
ihre Luxusvillen vor zwanzig Jahren für ein Butterbrot erwarben. Hrebenciuc | |
ist außerdem in die Affäre um eine illegale Rückerstattung von Wäldern | |
verwickelt, bei der es um einen Schaden von 303 Millionen Euro geht. | |
Hrebenciuc ist aber beileibe nicht der Einzige. In vielen Ermittlungen | |
wegen Korruption geht es um illegale Restitutionen, in die Mitglieder der | |
Nationalen Behörde für die Restitution von Eigentum (ANRP) verstrickt sind. | |
Alina Bica, ehemalige Leiterin der Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von | |
Terrorismus und organisiertem Verbrechen, steht zum Beispiel in Verdacht, | |
ein Grundstück zu hoch bewertet zu haben, woraufhin ein Geschäftsmann aus | |
dem Dunstkreis der Regierung 62 Millionen Euro Entschädigung erhielt. | |
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver | |
10 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Beurq | |
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