| # taz.de -- Sinti und Roma in der Berichterstattung: Roma, aber glücklich | |
| > Es ist schwierig, über Roma zu schreiben. Meist wird das Klischee des | |
| > singenden, tanzenden Armen kolportiert. Oder es geht um Missstände. Eine | |
| > Betrachtung. | |
| Bild: Eine Frage des Blickwinkels: Roma, seit Jahrhunderten – frei und glück… | |
| BERLIN taz | Als ich neulich Roma-Dörfer in der Ostslowakei besuchen | |
| wollte, war mir schon vor Beginn der Reise fast klar, dass es unmöglich | |
| sein würde, über Roma in Mitteleuropa zu schreiben. Jetzt, nach meiner | |
| Rückkehr, bin ich mir sicher: Es ist unmöglich. | |
| Zum einen ist das Thema wie ein Minenfeld. Es ist höllisch schwierig, | |
| Stereotype und Klischees zu umgehen. Zwar wusste ich das schon, bevor ich | |
| mit Kristina Magdolenova vom Roma Media Center in Kosice, Slowakei, | |
| gesprochen habe. Trotzdem bestätigte sie meinen Verdacht nachdrücklich. | |
| Dass Roma in einem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Verelendung | |
| gefangen seien, ist das erste und wirkungsvollste Klischee. Ausländische | |
| Journalisten tappen leicht in diese Falle, weil sie explizit nur die | |
| notleidenden Roma aufsuchen – sei es in den Plattenbauten in Kosice, in der | |
| Gemeinde Shutka in Skopje oder in den Tausenden anderen Armutsvierteln, die | |
| es in Mitteleuropa gibt. | |
| Wer allerdings über die Not hinausschaut, findet viele integrierte Roma aus | |
| der Unter- und Mittelschicht, die es aus dem Getto herausgeschafft haben. | |
| Wer schreibt über sie? Niemand. Es wäre schließlich nicht fesselnd genug. | |
| ## Arme ungebildete Menschen gibt es auch unter Nicht-Romas | |
| Das ist nicht alles: Es gibt eine nicht unerhebliche Anzahl von Slowaken, | |
| Rumänen, Ungarn und anderen, die genauso arm sind. Ihre Abitur- und | |
| Arbeitslosenraten und ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich nicht | |
| wesentlich von denen der sehr armen Roma. | |
| Journalisten haben den Auftrag, über die Missstände in Europa zu berichten. | |
| Dass viele Roma in extremer Armut leben müssen, ist natürlich ein | |
| Missstand. Wer allerdings ausschließlich über die besitzlosen Roma | |
| schreibt, erhält die Stereotype aufrecht und vermittelt, dass Roma | |
| grundsätzlich notleidend und nicht mehr als „ein Problem“ und hilflose | |
| „Opfer“ seien, sagt Magdolenova. | |
| Werden immer wieder die gleichen Armutsgeschichten publiziert, verstärkt | |
| das nur das Vorurteil, dass es keine Lösung für die Not der Roma gebe; | |
| vielmehr sieht es so aus, als sei sie ein charakteristisches Merkmal ihrer | |
| Ethnizität. | |
| ## Das glänzende Projekt | |
| Einige Journalisten ahnen das, tappen dafür aber in eine andere Falle: das | |
| glänzende NGO-Projekt. Sie reißen sich ein Bein aus, damit ihre | |
| Roma-Geschichte kein Schreckensszenario wird – wer würde das lesen wollen? | |
| – und mildern sie stattdessen mit einer erfreulichen Nachricht über eine | |
| lokale oder internationale Initiative: ein Jugendzentrum, ein Computerkurs | |
| oder eine Frauen-Kooperative. | |
| Indem der Journalist die enthusiastischen Mitarbeiter des Projekts und | |
| einige teilnehmende Roma zitiert, wird die Geschichte natürlich | |
| überwältigend positiv. Bisher seien viele dieser Projekte gefloppt, sagt | |
| Magdolenova. Tatsächlich führen sie nicht dazu, dass sich die | |
| Lebensbedingungen der Roma in irgendeiner Weise verbessern. „Am Ende gibt | |
| es viele begeisterte Artikel über Projekte, die niemandem helfen“, sagt | |
| sie. Sie erwecken den Eindruck, dass sich das Schicksal der Roma zum Guten | |
| wende. Tut es aber nicht. | |
| ## Selbst funktionierende Projekte sind nur ein Tropfen | |
| Wäre das Gegenteil besser – zu berichten, wie ein Projekt für Roma nach dem | |
| anderen scheitert? Kaum. Es würde auch niemand ehrlich zugeben, dass selbst | |
| die funktionierenden Projekte nicht mehr sind als ein Tropfen auf dem | |
| heißen Stein. Sie erzeugen ein gutes Gefühl, aber ändern nichts an den | |
| Missständen. | |
| Daneben gibt es noch das Bild der glücklichen Roma, die singen und tanzen. | |
| Sie sind ein weiteres Klischee, nach dem der Journalist greift, wenn er | |
| über etwas Positives berichten möchte. Dieses Bild hat der Serbe Emir | |
| Kusturica in Filmen wie „Schwarze Katze, weißer Kater“ vervollkommnet. Das | |
| Fazit dieses Klischees ist, dass Roma so oder so glücklich seien, selbst | |
| wenn sie unter erbärmlichen Bedingungen leben: So sind die Roma nun mal, | |
| als sei es in ihre DNA eingeschrieben. | |
| Es gibt natürlich noch weitere Bereiche, die mit Stereotypen behaftet sind, | |
| wie Kriminalität, Hygiene, Familiengröße, Erziehung, Prostitution, | |
| Menschenhandel, Arbeitsmigration und Zwangsheirat. Als Journalist kann man | |
| einfach nicht alles richtig machen – egal, was man tut. Wer darüber | |
| schreibt, verfestigt die Stereotype. Wer es ignoriert, beschönigt die | |
| Tatsachen und gibt vor, der Missstand existiere nicht. | |
| Einige Stereotype beinhalten mehr als nur einen Funken Wahrheit. Sie sind | |
| aber das Ergebnis von sozialen und historischen Prozessen, nicht Merkmale | |
| von Roma als solchen. „Wenn alles auf die ,Ethnizität‘ zurückgeführt wir… | |
| wird auch die gesamte Gruppe als schuldig stigmatisiert“, so Magdolenova. | |
| ## Die gleiche alte Geschichte | |
| Eine weitere wichtige Hürde ist, die Redaktion von der Roma-Geschichte zu | |
| überzeugen. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir | |
| alle immer wieder die gleichen Artikel über Roma gelesen. „Was ist daran | |
| neu?“, würde mich die Redaktion fragen. | |
| Inwiefern hebt sich diese Geschichte über slowakische Roma von denen ab, | |
| die ich über Roma in Transsylvanien 1991 oder über ungarische Roma vor zehn | |
| Jahren oder tschechische Roma vor ein paar Jahren geschrieben habe? Hat | |
| sich die Situation verschlimmert? Sich irgendetwas verändert? Oder ist es | |
| nur eine neue Version des Altbekannten? Ich könnte ehrlich sagen, dass es | |
| praktisch das Gleiche ist; oder lügen und über einen glücklichen | |
| Roma-Musiker oder eine erfreuliche NGO-Geschichte schreiben. | |
| Gibt es eine Lösung? Wenn wir nicht über Roma berichten, verschwindet das | |
| Thema – so, wie es die nationalen Machthaber wollen: die besitzlosen Roma | |
| in abseits gelegene Slums abschieben und die ganze Sauerei dann so gut es | |
| geht ignorieren. | |
| ## Mitreißende Stories statt soziologischer Abhandlungen | |
| Magdolenova versteht, dass Journalisten eingeschränkt sind, was Zeit und | |
| Stil angeht, und dass es ihr Job ist, mitreißende Artikel zu schreiben und | |
| keine soziologischen Abhandlungen über die Komplexität und Feinheiten des | |
| Themas. Gerade deshalb müsse es Medien von den Minderheiten selbst geben, | |
| sagt sie. So wie das im Jahr 2000 gegründete Roma Media Center. | |
| Das ist natürlich keine angemessene Antwort für alle, die sich außerhalb | |
| der Slowakei befinden. Aber gibt es eine Antwort? Ich glaube nicht. Leider. | |
| Übersetzung: Kerstin Dembsky | |
| 11 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Hockenos | |
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