| # taz.de -- Mit dem Rad in ein Roma-Slum: Aufgeklärter Armutsporno? | |
| > Die ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der | |
| > Radler-Invasion. Warum die Begegnung auf einer politischen Radreise trotz | |
| > alledem gelang. | |
| Bild: Lunik: Die Plattenbausiedlung am Stadtrand von Kosice wurde in den 60er u… | |
| „Deutsche Touristen auf Trekking-Bikes begutachten Roma-Slums“, sagte meine | |
| Freundin Juliana aus Kosice ins Telefon. „Das hat gerade noch gefehlt.“ | |
| Mein Gesicht verzog sich. Kritik hatte ich von ihrer Seite vermutet, aber | |
| nicht so schnell. „Ich bin aber Journalist“, hielt ich dagegen, „und ich | |
| werde darüber schreiben. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied – oder?“ | |
| Hinter dem einwöchigen Trip unter dem Motto „Zwischen Lethargie und | |
| Aufbruch, Resignation und Selbstorganisation: Eine politische Radreise in | |
| die Heimat der Roma in der Ostslowakei“ steht der Berliner Veranstalter | |
| „Politische Radreisen“. | |
| Die Expedition gehört in die immer modischere Rubrik „politischer | |
| Tourismus“. Bildungsreisen zu politischen Themen schießen wie Pilze aus dem | |
| Boden, gerade solche mit linkem Anstrich. Statt auf Mallorca Cocktails zu | |
| schlürfen oder an der Adria an der eigenen Bräune zu arbeiten, besucht man | |
| Slums in Honduras oder die Elendshütten der Arbeitsmigranten in Malaysia. | |
| Auch das Angebot der taz zu „Reisen in die Zivilgesellschaft“ hat sich in | |
| den letzten Jahren stark vergrößert. Es schließt Reisen zum Ort des | |
| Massakers von Srebrenica/Bosnien-Herzegowina, in den vom Krieg gezeichneten | |
| Gazastreifen und nach Ruanda („Leben nach dem Völkermord“) ein – alle | |
| Reisen unter fachkundiger Leitung der vor Ort stationierten | |
| taz-Korrespondenten. | |
| ## Eine Ein-Mann-Veranstaltung | |
| „Politische Radreisen“ ist eine Einmannveranstaltung. Betreiber ist Thomas | |
| Handrich, Politikwissenschaftler und früherer Osteuropareferent der | |
| Heinrich-Böll-Stiftung. Der 51-Jährige arbeitet seit Jahren als Berater für | |
| eine NGO, die es Roma-Jugendlichen ermöglichen will, ihre Belange selbst in | |
| die Hand zu nehmen. | |
| Der einwöchige Ausflug in die Ausläufer der Karpaten kostete jeden der 15 | |
| TeilnehmerInnen 800 Euro – ohne Fahrradausleihe. 50 Euro davon gingen als | |
| Spende an regionale Roma-Jugendgruppen. | |
| Im Gegensatz zu meiner Freundin Juliana hatte ich zu Reisebeginn das | |
| Gefühl, dass diese Expedition politisch korrekt verlaufen könnte, dass dies | |
| aber von mehreren Faktoren abhängen würde. | |
| ## Nur einige Kritikpunkte | |
| Die erste Frage war, ob unsere Reise zu einem voyeuristischen „Armutsporno“ | |
| verkommen oder eine wirkliche Begegnung ermöglichen würde. Seit Ende der | |
| Reise bin ich überzeugt: Unsere Expedition war gerechtfertigt – mit einigen | |
| Einschränkungen, einigen Kritikpunkten. | |
| Vor allem die Motivationen der Teilnehmer beseitigten viele meiner Zweifel. | |
| In der heterogenen Gruppe waren ein Mitglied der Linken-Bundestagsfraktion, | |
| ein Dozent, der an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule über | |
| Antiziganismus forscht, eine Soziologiestudentin, die zum Thema | |
| Roma-Migration in Bulgarien und Rumänien arbeitet, eine Pastorin, deren | |
| Gemeinde Roma-Flüchtlinge betreut, drei Journalisten, eine 17-jährige | |
| Berlinerin mit Roma-Hintergrund und ein Fahrradfan, der sich wenig für Roma | |
| interessierte. | |
| Ein Kreuzberger Hausbesetzer erklärte, er wolle sich mit seinen Vorurteilen | |
| gegen Roma konfrontieren. Er hatte einen neuen Job als Hausmeister in einem | |
| Flüchtlingsheim gefunden, in dem viele Roma leben. | |
| ## Der Störfaktor: eine große Gruppe | |
| Obwohl niemand in der Gruppe nach billigem Nervenkitzel suchte, erwies sich | |
| der erste Besuch in einem Roma-Dorf östlich von Kosice als schwierig. | |
| Zusammen mit dem Organisator, den Übersetzern und einer slowakischen | |
| Sozialarbeiterin waren wir an die 20 Personen – eindeutig zu viele. | |
| In dem beengten Büro des Bürgermeisters oder dem des lobenswerten | |
| NGO-Projekts kamen wir mit unseren Rädern und Helmen in der Hand an wie der | |
| sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. | |
| ## Eine unüberwindbare Mauer | |
| Die Mauer zwischen „uns“ und „ihnen“ schien mindestens zwei Meter dick.… | |
| ländlichen ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der | |
| Invasion der Fremden. | |
| Wer waren diese Leute? Und was wollten sie hier? Ganz offensichtlich waren | |
| noch nie so viele Goretex-gekleidete Deutsche in ihre Berufsschule oder | |
| ihren Jugendclub eingefallen. | |
| Trotzdem beantworteten die Roma unsere vielen, vielen Fragen nach bestem | |
| Wissen und Gewissen. Dabei wurde natürlich viel fotografiert – bis die | |
| Deutschen den Ort des Geschehens verließen, ihre Bikes bestiegen und zum | |
| nächsten Rendezvous auf der Tagesordnung radelten. | |
| Die meisten Radfahrer begriffen aber, dass dieser Tag eins nicht gut | |
| gelaufen war. Eine slowakische Übersetzerin äußerte sehr klar ihr Unbehagen | |
| an der Situation. Es folgten Diskussionen, Selbstkritik, Kritik, | |
| Selbstkritik – sehr geduldig, sehr gründlich, sehr deutsch. | |
| ## Fehlende Informationen | |
| Klar wurde, dass vielen Teilnehmern zum Verständnis notwendige | |
| Informationen fehlten. Fast alle empfanden die Distanz zwischen uns und den | |
| Roma als unangenehm. Irgendwie musste viel mehr Dialog und Sensibilität | |
| her. | |
| Der Rest der Reise lief viel besser – mit ein paar Ausnahmen. Die bereits | |
| erwähnte slowakische Dolmetscherin weigerte sich, aus ihrer Sicht | |
| unangemessene Fragen zu übersetzen. So wollte einer der Journalisten von | |
| einem arbeitslosen Rom wissen, was er denn jetzt den ganzen Tag so treibe. | |
| Die Roma selbst schienen wir wenig zu stören. Auf unsere Nachfrage sagten | |
| sie, dass sie dankbar dafür seien, dass sich Leute von außerhalb für ihre | |
| Lebensumstände interessieren. | |
| Als wir eines Abends, gut abgefüllt mit Bier und Grillwürsten, durch eine | |
| der Roma-Siedlungen rollten, applaudierten die Kinder und Jugendlichen wie | |
| bei der Tour de France. | |
| ## Die Gruppe zeigt etwas von sich | |
| Einige Roma-Jugendliche improvisierten eine Tanzaufführung für die Gäste, | |
| die Radfahrertruppe revanchierte sich mit einigen Liedern. Zwar blieb | |
| unsere Performance weit, weit unter ihrem Niveau – aber wir hatten die | |
| passive Rolle zumindest einmal durchbrochen und etwas von uns gezeigt. | |
| Der schwierigste Punkt unserer Reise war der Besuch in Lunik IX. Die | |
| heruntergekommene Hochhaussiedlung am Stadtrand von Kosice ist für | |
| Roma-Slums, was Manchester für den frühen Industriekapitalismus war. | |
| Lunik IX. ist der größte und düsterste Slum in Zentraleuropa. 9.000 sehr | |
| arme Roma leben hier in fensterlosen Plattenbauten. Strom und | |
| Zentralheizung wurden vor Jahren abgestellt. | |
| ## Privatspäre respektieren | |
| In Lunik IX. waren schon so viele Journalisten und Reisegruppen, dass der | |
| Stadtteil ein eigenes Infobüro eröffnen könnte, sagte meine Freundin | |
| Juliana hämisch. Oder Eintrittskarten verkaufen. | |
| Unsere Gruppe betrat aus Respekt vor der Privatsphäre keinen Wohnblock. | |
| Stattdessen besuchten wir die lokale Kindertagesstätte. Wir verließen die | |
| Kita mit kleinen handgemachten Geschenken der Kinder. Eines davon ziert | |
| jetzt meine Kühlschranktür. | |
| Der Organisator ist dafür zu loben, dass unsere Tour nicht nur zu den | |
| Hotspots führte, wie bei typischen Zweitagejournalistenreisen in die | |
| Region. Wir trafen Roma aus unterschiedlichen sozialen Schichten und | |
| Lebensbereichen. | |
| Unsere Gesprächspartner nahmen sich Zeit, um uns die soziale Heterogenität | |
| der Roma-Gesellschaft zu erklären. Wir sprachen mit verschiedenen Menschen, | |
| von Sozialarbeitern bis zu Kulturschaffenden, deren Perspektiven es uns | |
| ermöglichten, die kompexe Lebensrealität der Roma besser zu verstehen. | |
| ## Intellektuelle Besserwisser? | |
| Beim Besuch bei der Vizebürgermeisterin von Kosice wussten wir viel mehr | |
| als am Anfang unserer Reise. Genug jedenfalls, um ihr viele unangenehme | |
| Fragen stellen zu können. So viele, dass eine der Roma-Aktivistinnen, die | |
| uns zu dem Gespräch begleitet hatte, die Bürgermeisterin zu verteidigen | |
| begann. | |
| Ihre Roma-NGO arbeitet mit der Politikerin, die gerade neu gewählt wurde, | |
| täglich zusammen. Vielleicht schadet unsere geistreiche Intervention, ohne, | |
| dass wir das gewollt hätten, mehr, als sie nutzte. | |
| ## Kleinere Gruppen | |
| Bei einem Pilotprojekt – und das war diese erste politische Radreise zu den | |
| Roma in der Ostslowakei – klappt natürlich nicht immer alles. Alle | |
| Teilnehmer stimmen zu, dass die nächste Expedition eine bessere Einführung | |
| braucht – vor dem ersten Besuch in einer Siedlung oder einem Slum. Und dass | |
| die Gruppe kleiner sein sollte. | |
| Auch die Einbettung des Themas in regionale und europäische Politik der | |
| vergangenen Jahrzehnten kam – mitten in der EU-Dekade der Roma-Integration | |
| – zu kurz. | |
| Zudem müssen das nächste Mal Regeln zum Fotografieren, zu unangenehmen | |
| Fragen und der Rolle von Journalisten ganz am Anfang besprochen werden: | |
| Sollen Letztere sich benehmen wie auf jeder anderen Journalistenreise? Oder | |
| dem gleichen Kodex folgen wie die politischen Touristen? | |
| ## Vom Touristen zum Multiplikator | |
| Ich empfinde die Reise als Erfolg. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer hat | |
| heute ein klareres, vielschichtigeres Bild von den Roma und einem der | |
| schwerwiegendsten Probleme Europas, als man es aus allen Medien zusammen | |
| beziehen könnte. | |
| Fast jeder hat etwas über Roma erfahren, was ihre oder seine politische | |
| oder berufliche Arbeit beeinflussen wird. Wir sind als Touristen | |
| losgefahren – und als Multiplikatoren zurückgekommen. | |
| Was heißt das generell für politischen Tourismus? Es kommt darauf an, wie | |
| man ihn betreibt. Und wer. Und warum. In jedem Fall sind viele Diskussionen | |
| über genau diese Fragen erforderlich. | |
| Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Rossig | |
| 9 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Hockenos | |
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