# taz.de -- Forscher über Antisemitismus in Schulen: „Das Beschweigen schade… | |
> Schulen müssen verpflichtet werden, antisemitische Vorfälle zu melden, | |
> fordert Antisemitismusforscher Samuel Salzborn. | |
Bild: „Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah fester Bestandteil des … | |
taz: Herr Salzborn, [1][nach einer aktuellen Umfrage von CNN] wissen 40 | |
Prozent der jungen Deutschen kaum etwas über den Holocaust. Gleichzeitig | |
berichten LehrerInnen und Mobbing-Beratungsstellen, wie normal | |
antisemitische Äußerungen heute an Schulen sind. Sehen Sie einen | |
Zusammenhang? | |
Samuel Salzborn: Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang und es gibt ihn | |
auch nicht. Der Zusammenhang ist, dass die historische Auseinandersetzung | |
mit der Shoah im Schulunterricht unabdingbar dafür ist, dass sich | |
Schülerinnen und Schüler empathisch mit Antisemitismus in der Gegenwart | |
auseinandersetzen können. Der Nicht-Zusammenhang ist, dass Antisemitismus | |
sich heute aus ganz verschiedenen Quellen speist, die zum Teil überhaupt | |
nicht im Unterricht behandelt werden. [2][Etwa aus dem populären | |
Gangsterrap]. | |
In der Sprache bleibt Antisemitismus aber oft klar bei der NS-Zeit. Im | |
vergangenen Jahr gab es mehrere Vorfälle, in denen sich jüdische | |
SchülerInnen [3][Sprüche über Gas oder Vergasung] anhören mussten. Warum | |
ist die Vernichtungsfantasie der Nazis 74 Jahre nach Auschwitz immer noch | |
lebendig? | |
Einer Illusion darf man sich nicht hingeben: Schülerinnen und Schüler, die | |
sich antisemitisch äußern, haben sich ja nicht umfassend mit Antisemitismus | |
beschäftigt. Sie greifen die Stereotype auf, die auch in der Gesellschaft | |
vorhanden sind. Also Ansichten aus dem Nationalsozialismus und auch aus dem | |
christlichen Antijudaismus. Die sind ja nach wie vor sehr präsent: in der | |
Musik, in den sozialen Medien, in der Alltagskultur der Jugendlichen. Das | |
heißt, die Jugendlichen bedienen sich dieser Bilder, ohne sie intellektuell | |
zu verstehen. Das Gefährliche daran ist, dass im Antisemitismus immer die | |
Vernichtungsandrohung steckt. Das „Andere“ gilt als bedrohlich und zugleich | |
unterlegen. Dieses Gefühl wird bei den Jugendlichen aktiviert. | |
In Ihrem am Montag veröffentlichten Gutachten zum Thema Antisemitismus an | |
Schulen kritisieren Sie, dass in vielen Bundesländern die Shoah zwar fester | |
Bestandteil der Lehrpläne ist, die jüdische Geschichte oder der | |
Nahostkonflikt hingegen im Unterricht teilweise gar nicht behandelt werden. | |
Warum ist das problematisch? | |
Zunächst möchte ich betonen: Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah | |
und der Nationalsozialismus fester Bestandteil des Unterrichts sind. | |
Allerdings scheint Antisemitismus auf diese Zeit verengt. Man erfährt | |
nichts über die lange Vorgeschichte und schon gar nicht über sein Fortleben | |
nach 1945. Ein Problem dabei ist, dass Jüdinnen und Juden im | |
Schulunterricht vor allem als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt | |
werden, oder – genauso einseitig – als Aggressoren im Nahostkonflikt. Was | |
fehlt, ist der jüdische Alltag, die Religion, die Kultur. Die fallen | |
einfach unter den Tisch. Jüdischer Alltag wird exteriorisiert, Jüdinnen und | |
Juden nie als normale Menschen dargestellt. | |
Das befeuert wiederum die bestehenden antisemitischen Bilder. Das Problem | |
wird noch verstärkt durch Schulbücher, die sich antisemitischer Klischees | |
bedienen. In einigen Bundesländern werden Schulbücher gar nicht mehr | |
zentral geprüft … | |
Dieser Verantwortung müssen sich die Kultusministerien stellen. Die Länder, | |
die momentan nicht zentral Schulbücher prüfen und zulassen, haben | |
dringenden Nachholbedarf. Ein anderes Defizit ist, dass Fächer wie | |
Geschichte und Politik zu wenige Stunden in der Stundentafel haben. Sie | |
müssten aber dringend Hauptfachcharakter bekommen, wenn man politische | |
Bildung ernst nimmt. Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum man bestimmte | |
naturwissenschaftliche Fächer höher gewichtet als das, was den Menschen in | |
die Handlungsfähigkeit als soziales Wesen versetzt. Und drittens tragen | |
auch Schulbuchverlage eine Verantwortung für die zum Teil mangelhafte | |
Qualität. Da müssen sich bestimmte Verlage die Frage gefallen lassen, wie | |
sie ihre Autoren und Autorinnen auswählen. | |
Lehrplan und Schulbücher sind nicht die einzigen Defizite. Die FU Berlin | |
hat das Lehrangebot an 79 deutschen Hochschulen untersucht und | |
festgestellt: Selbst in Geschichte oder Politikwissenschaften werden wenig | |
tiefergehende Veranstaltungen über den Holocaust angeboten. Was muss | |
passieren? | |
Für das Fach Politikwissenschaft kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: | |
Das Interesse für Rechtsextremismus oder Antisemitismus ist eher gering. | |
Das ist sehr bedauerlich, gerade weil diese Themen in den 50er Jahren für | |
das Fach noch zentral waren. Heute ist Rechtsextremismus weitgehend aus den | |
Kerncurricula der Bachelor/Master-Studierenden rausgefallen. Wenn es | |
deutschlandweit in der Politikwissenschaft keine einzige Professur zum | |
Rechtsextremismus gibt und die Antisemitismus-Professuren nur im Fach | |
Geschichte, muss man sich fragen, woher angehende Lehrerinnen und Lehrer | |
ihr Wissen dann nehmen sollen. | |
Wissensvermittlung ist eine Kernaufgabe von Schule – Demokratieerziehung | |
die andere. Beim Umgang mit Antisemitismus attestieren Sie Schulen ein | |
„mangelndes Problembewusstsein“ – den Schulleitungen sogar | |
„Problemverdrängung“. Was meinen Sie genau? | |
Ich halte es für einen Fehler, dass sich viele Schulen den antisemitischen | |
Vorfällen nicht offensiv stellen. Im Gegenteil. Werden Schulleiter nicht | |
dazu angehalten, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, halten sie | |
die Vorfälle eher klein. Ich bin überzeugt, dass die Ministerien die | |
Schulen zu dieser Auseinandersetzung verpflichten müssen, über verbindliche | |
Melde- und Monitoringsysteme. Nur wenn man antisemitische Vorfälle offensiv | |
benennt, kann man auch dagegen vorgehen. Das Beschweigen schadet nur. | |
Idealerweise sind Lehrkräfte geschult und gewillt, Antisemitismus als | |
solchen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Das ist aber genau das | |
Problem, oder? | |
Wir müssen unterscheiden zwischen einer langfristigen und kurzsichtigen | |
Strategie. Langfristig spielen bessere Schulungen an den Hochschulen und | |
überarbeitete Schulbücher eine große Rolle. Kurzfristig ist es wichtig, | |
auch auf zivilgesellschaftliche Akteure zu setzen. Gerade in Berlin sind | |
viele kompetente Beratungsstellen. Hier wäre ein hilfreicher Schritt, | |
Projektmittel für diese Träger zu verstetigen, damit diese Fachkräfte in | |
Konfliktfällen an den Schulen zur Verfügung stehen. | |
Vergangenes Jahr haben diverse PolitikerInnen verpflichtende KZ-Besuche | |
gefordert. Was halten Sie davon? | |
Das Besuchen von Gedenkorten sowie die Auseinandersetzung mit konkreten | |
Opferbiografien halte ich für ein wichtiges und richtiges Element in der | |
Präventionsarbeit. Allerdings nur als Ergänzung zum Unterricht. Findet | |
diese Kontextualisierung nicht statt, kann bei Jugendlichen das Gefühl | |
entstehen, dass das Ganze wenig mit ihnen und ihrer Gegenwart zu tun hat. | |
Das ist das große Risiko. | |
Viele Familien, deren Kinder in der Schule antisemitisch beleidigt oder | |
körperlich angegriffen wurden, berichten von einer Bagatellisierung des | |
Vorfalls. Was raten Sie Betroffenen in so einem Fall? | |
Das Hauptproblem ist, dass in diesen Fällen eine ernsthafte | |
Auseinandersetzung offenbar nicht stattfindet. Das Problem wird | |
bagatellisiert, verdrängt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Eltern | |
in so einer Situation ihr Kind von der Schule nehmen. Hinter diesen | |
Erfahrungen steckt aber auch ein strukturelles Problem. Hier liegt die | |
Verantwortung nicht nur bei den Schulleitungen, sondern auch eindeutig bei | |
den Kultusministerien. Die wissen um die Probleme mit Antisemitismus an | |
Schulen. Sie müssen unbedingt Meldesysteme schaffen, damit solche Fälle der | |
Öffentlichkeit gar nicht entzogen werden können. Dann müssen Schulen | |
notgedrungen anders mit dem Thema umgehen. | |
Berlin nimmt dabei die Pionierrolle ein. Die Schulen müssen ab dem | |
kommenden Schuljahr antisemitische Vorfälle melden. Es gibt Notfallpläne | |
mit genauen Handlungsanweisungen. Wie sieht es im Rest der Republik aus? | |
Berlin hat hier ganz klar eine Vorbildfunktion. Das sehen wir auch daran, | |
dass das Abgeordnetenhaus den Senat vor Kurzem aufgefordert hat, eine | |
Landeskonzeption gegen Antisemitismus zu entwickeln, bei der es auch um | |
Schulen geht. Damit zeigt Berlin, dass es ein Problem mit Antisemitismus | |
hat. Andererseits, dass es klar gegen Antisemitismus vorgehen will. So weit | |
sind die anderen Bundesländer nicht: dort glaubt man, Antisemitismus als | |
ein Problem unter vielen abhaken zu können. Das ist meines Erachtens eine | |
schwere Fehleinschätzung. | |
30 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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