| # taz.de -- Inklusives Bandprojekt Station 17: Knight Rider auf Testosteron | |
| > Seit 30 Jahren spielen bei Station 17 Musiker*innen mit und ohne | |
| > Handicap. Eine ganz normale Band: Auf der Bühne geht’s um die Musik, im | |
| > Tourbus geht’s viel um Sex. | |
| Bild: Steht Station 17 erst mal auf der Bühne, geht's ab, aber richtig! | |
| Hamburg taz | Der Tourbus ist schmutzig. Jemand hat „sexi“ mit dem Finger | |
| in den Dreck am Heck gemalt. Vor den Proberäumen der Band Station 17 in der | |
| Barnerstraße in Hamburg-Ottensen sitzt Sebastian mit seinem Blindenstock | |
| und bohrt geduldig in der Nase. Er ist dienstältestes Mitglied der Band und | |
| weiß, wer zu spät kommt und wie viel zu spät. Normal: Erst gut die Hälfte | |
| der Band, die aus neun Musikern besteht, ist zur verabredeten Zeit am | |
| Abfahrtsort. | |
| Marc zum Beispiel, der bebrillte Saxofonist, ist noch nicht da, | |
| möglicherweise hat er die ganze Nacht lang „Knight Rider“ geschaut. | |
| Immerhin schickt er von seinem Nokia-Handy Nachrichten, die zwar nur aus | |
| Leerzeichen bestehen – aber zumindest ist er wach und vielleicht sogar | |
| unterwegs. Philip, gutaussehender Typ mit Down-Syndrom und Vorliebe für | |
| Rumkugeln, blickt mürrisch auf seine Uhr, während er an einem Kaffee nippt. | |
| Von Beginn an war Station 17 weder Musiktherapie noch Freakshow, wollte | |
| keinen Behinderten-Bonus, sondern einfach Musik machen. Kai Boysen, | |
| Punkmusiker und Heilerzieher, gründete die Band vor 30 Jahren in einer | |
| Wohngruppe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf – und sprengte damit den | |
| bis dahin herrschenden kunstpädagogischen Rahmen. | |
| Denn Boysen und Station 17 arbeiteten auch mit musikalischen Größen wie den | |
| Krautrockern Can, DJ Koze oder Einstürzende-Neubauten-Mitglied FM Einheit. | |
| Wenn man ihn damals nach der Beziehung zur Hamburger Schule fragte, | |
| antwortete er genervt: „Wir sind die Hamburger Sonderschule.“ | |
| Mittlerweile ist Boysen kein aktives Mitglied mehr. Ohnehin haben sich die | |
| Besetzungen in den vergangenen drei Jahrzehnten immer wieder geändert – und | |
| mit ihnen die musikalischen Ausrichtungen: Punk, Noise, Experimental, | |
| Indie, Pop oder Krautrock. „Das Beständige an dieser Band ist ihr Wandel“, | |
| konstatiert der Infotext zur Band beim Label 17records. | |
| ## Erektionen und Döner | |
| Die Songs von Station 17 handeln von Meerschweinchen, Döner, Regenbogen | |
| oder davon, dass Hähne keine Eier haben. Und von Sex: Das aktuelle Album | |
| enthält einen Monolog der 1987 verstorbenen Krautrock-Ikone Conny Plank, in | |
| dem von Erektionen die Rede ist. Dies zeigt auch eine Entwicklung an. | |
| Früher lebten Menschen mit Behinderung in Heimen außerhalb der Stadt und | |
| bekamen Triebhemmer, wenn sie ihre Sexualität nicht verhehlten. | |
| Mittlerweile ist die Inklusion fortgeschritten, man lebt zentral und | |
| selbstständig, mit Betreuung nach Bedarf. Und es gibt Sexualberatungen und | |
| Sexualassistenzen. Normalität ist vielfältiger geworden, Sonderschulen gibt | |
| es nicht mehr, und die Aktion Sorgenkind heißt Aktion Mensch. Auf dem | |
| vorletzten Album fordern Station 17 zusammen mit Strizzi Streuner von der | |
| Elektroband Frittenbude lauthals: „Alles für Alle!“ | |
| Als auch Marc endlich am Start ist, dreht Nils den Zündschlüssel, und der | |
| Tourbus rollt vom Hof. So verschieden wie die Lieder sind die | |
| Bandmitglieder. Aktuell besteht die Besatzung komplett aus Männern, eine | |
| reine Boyband also. | |
| Gitarrist Nils hasst den Song „Zombie“ von den Cranberries und träumt von | |
| einem Wochenende auf einem Sofa voller Chips. Hinter ihm sitzt Sebastian, | |
| genannt Sebi: blind, begnadeter Keyboarder und Besitzer eines orangenen | |
| Judo-Gürtels. | |
| Der coole und wortkarge Sänger Philip hasst Nacktschnecken und Bohnensalat. | |
| Marc will immer jede und jeden sofort heiraten, zumindest scheint | |
| „Heiraten?“ seine gewohnte Begrüßungsformel zu sein. Alternativ fragt er | |
| auch gern: „Sex machen?“ Er hält sich für David Hasselhoff, sieht nach | |
| Aussagen von Band-Kollegen aber eher aus wie Klößchen von TKKG, und kann | |
| beim Verladen der Instrumente meistens nicht helfen, weil er stets ein | |
| belegtes Brötchen in der Hand hält. | |
| Im Autoradio laufen Verkehrsnachrichten. Jemand sinniert, ob der Club zum | |
| Konzert heute Abend wohl bumsvoll sein werde. Sebi wacht auf und sagt | |
| bumsfidel, er brauche eine Pullerpause. Nils lenkt die nächste | |
| Autobahnraststätte an, der Parkplatz ist voll, aber direkt vor den | |
| Toiletten ist eine große freie Fläche mit einem aufgepinselten Rollstuhl. | |
| „Geil, wir sind ja behindert!“, ruft Nils und parkt den Bus. | |
| ## Überzuckert im Backstage-Bereich | |
| Als der Tourbus am Nachmittag den Zielort erreicht, stürzt Marc direkt zu | |
| den arrangierten Servierplatten mit Brötchen. Dass alle vegan belegt sind, | |
| macht ihm nichts; ebenso wenig, dass alle anderen Bandmitglieder die | |
| Instrumente ausladen. Marc, Liebhaber alles Fleischlichen, kaut ein | |
| Brötchen mit Mortadella aus Sojaprotein und schaut zu. | |
| Nach dem Soundcheck hält sich die Band im Backstage-Bereich auf. Dort | |
| stehen ein ramponierter Tischkicker und eine verstimmte Heimorgel, | |
| durchgesessene Sofas und zufrieden brummende Getränkekühlschränke. Marc | |
| nimmt sich die letzte Literflasche Fanta, trinkt sie auf ex und rülpst. | |
| Überzuckert ruft er: „Ich bin Knight Rider“, und bumst blödelnd den | |
| Türrahmen an. Philip grölt: „Unmöglich!“ | |
| Später versammelt sich im Saal ein bunt gemischtes Publikum: Hipster mit | |
| und ohne Behinderung. Über der Tür steht: „The only good System is a | |
| Soundsystem“. Marc springt auf die Bühne, in einer Lederjacke, die doch | |
| sehr an David Hasselhoff erinnert. Er greift zum Mikro, ruft: „Seid ihr | |
| alle da?“ und „Ich liebe dich!“ Dann stimmt er „Abn luking foa Friedem�… | |
| wird von den Instrumenten übertönt. Und los geht's. Aber richtig. Nils | |
| schüttelt sanft seinen Kopf, während er liebevoll auf seine Gitarre blickt | |
| und aussieht, als er würde er diesen Moment genauso mögen wie ein | |
| Wochenende auf einem Sofa voller Chips. | |
| „Zugabe!“, ruft jemand im Publikum nach dem ersten Song, und jemand anderes | |
| fordert seine Betreuerin auf: „Mach dich locker, schwing dein Ding!“ Philip | |
| schwenkt die Rockstar-Faust. Wenn sein Einsatz nicht gefragt ist, gähnt er, | |
| schaut auf die Uhr, winkt im Publikum einer Frau zu, die ihn anflirtet, | |
| zeigt der Rampensau Marc erst den Vogel und dann den Stinkefinger, da | |
| dieser seiner Meinung nach die Show übertreibt. | |
| ## Frage ans Publikum: „Heiraten?“ | |
| Aber Marc geht voll in seinen Starallüren auf und bemerkt Philip nicht. | |
| Marc fragt das Publikum: „Heiraten?“ und fordert es zu ekstatischem Applaus | |
| auf: „Klatschen! Lauter! Ja!“ Die Menschen lachen, klatschen, tanzen, und | |
| auf irgendwessen Shirt steht: „Pornostar“. Die Musik ist außergewöhnlich, | |
| bizarr, gemütlich und ungemütlich zugleich, ungezwungen originell, | |
| verschroben, tanzbar, irritierend, euphorisierend. Die Boys haben es echt | |
| drauf. | |
| Dann ist das Konzert vorbei, das Publikum ist glücklich und die Band will | |
| Applaus, Essen und Drinks. Bassist Hauke verkauft noch Fanartikel. „Geld | |
| ist teuer!“, sagt jemand. Und jemand anderes fragt: „Finde ich dieses | |
| Porno-Lied auch im Internet?“ und meint den Song, in dem Conny Plank von | |
| Erektionen spricht. „Nein, das gibt es nur als Bonus-Material auf unserer | |
| LP“, erklärt Hauke. | |
| Philip und Sebi stehen nebeneinander am Pissoir, Philip liest einen | |
| Klopspruch von der Wand ab: „Raus mit dem Rüssel, rein in die Schüssel.“ | |
| Sebi lacht sich schlapp. Backstage entledigt Marc sich seiner Lederjacke | |
| und versucht – David Hasselhoff in seiner unvorteilhaften Phase nicht | |
| unähnlich – schwerfällig vom Sofa hochzukommen. Er will sich dem | |
| Schlagzeuger Alex auf den Schoß setzen. Alex lenkt Marc auf die Lehne | |
| seines Sessels, Marc greift ihm an die Hose, fragt: „Regenbogen machen?“ | |
| und stößt beim Kichern eine Flasche um. Alex klagt: „Marc will immer was.“ | |
| Auf Tour ist das spaßig-sexuelle Interesse aneinander durchaus gängig. Zu | |
| Hause haben fast alle Bandmitglieder eine feste Freundin. Die Mitglieder | |
| mit Behinderung sind keine asexuellen Wesen, sie sind Musiker in einer | |
| Band, die Vorreiter ist im inklusiven künstlerischen Arbeiten. Und sie sind | |
| eben Männer, haben Penisse, finden Sex interessant und schauen sich Pornos | |
| an. | |
| Seit 1989 gibt es Station 17, seit dem Mauerfall, zu dem David Hasselhoff | |
| „Looking for Freedom“ sang. 30 Jahre, das sind in Deutschland: Helmut Kohl, | |
| Gerhard Schröder und Angela Merkel. Vor 30 Jahren gab es noch gelbe | |
| Telefonzellen und kaum jemand hatte ein Handy. Dann kam das Privatfernsehen | |
| und das Internet, die Videotheken starben und Take That trennte sich. | |
| Station 17 lebt. | |
| Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen haben wir aus diesem Text zwei | |
| Szenen entfernt. Die Redaktion | |
| 29 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniela Chmelik | |
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