# taz.de -- Konzertbesuch mit Behinderung: Jauchzen verboten | |
> Der Sohn unserer Autorin liebt klassische Musik. Konzerte sind | |
> herausfordernd. Nicht weil er tanzt, sondern weil andere stocksteif | |
> dasitzen. | |
Bild: Liebt klassische Musik: Willi mit seiner Mama Birte Müller | |
Hamburg taz | Wir haben einen elfjährigen Sohn, er heißt Willi. Willi liebt | |
klassische Musik. Wir haben wirklich alles versucht, ihn an Grunge Rock zu | |
gewöhnen, aber der Junge will unbedingt Bach, Tschaikowski und Dvořák | |
hören. Und leider Strauss. | |
Willis bestes Weihnachtsgeschenk war eine DVD mit der Aufnahme des | |
Venezuelan Brass Ensembles. Und die ganze Adventszeit über wollte er wieder | |
nur das eine: ins Weihnachtsoratorium gehen! Es kann ganz schön nerven, | |
danach täglich zwanzig Mal gefragt zu werden. | |
Willi fragt übrigens nach dem Weihnachtsoratorium, indem er mit beiden | |
Händen eine Bewegung macht, als würde er eine große Trommel schlagen, und | |
dazu gibt er eindringlich den Laut MAM von sich. Dieses MAM bezeichnet die | |
charakteristischen Paukenschläge zum Beginn des Stückes. Willi kann nämlich | |
nicht sprechen. Er ist schwer geistig behindert. Er kann auch nicht lesen, | |
nicht bis drei zählen oder allein auf die Toilette gehen. | |
Vieles ist mit einem behinderten Kind nicht ganz einfach. Der Besuch eines | |
klassischen Konzertes zählt aber definitiv zu unseren schwierigsten | |
Herausforderungen. Das liegt allerdings nicht an Willi, sondern daran, dass | |
man sich gesellschaftlich darauf geeinigt hat, dass man diesen Darbietungen | |
nur in Grabesstille, stocksteif sitzend und ohne jegliche erkennbare | |
emotionale Regung beiwohnen darf. | |
Willi ist es nicht zu vermitteln, warum man so spaßbefreit Musik erleben | |
sollte. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes durch sie bewegt – was leider | |
bedeutet, dass er auch mal aufspringt und tanzt. Er hat es sogar geschafft, | |
für sein lautes Jauchzen im Weihnachtsoratorium aus der Kirche geworfen zu | |
werden, obwohl ja der Text des Stückes genau dazu auffordert! | |
Ich kenne die landläufige Meinung zu unserem Problem: „Man kann mit so | |
einem Kind eben einfach kein Konzert besuchen.“ Aber so einfach ist das für | |
uns gar nicht. Denn Willi hat nicht etwa Freunde, die er stattdessen | |
treffen kann oder einen Sportverein, in den er gehen kann. Er versteht auch | |
keine Geschichten oder Gesellschaftsspiele. Aber er versteht Musik! | |
Doch wo ist ein Mensch wie Willi im Konzert willkommen? | |
Wir haben festgestellt, dass proportional zum Preis der Konzertkarten die | |
Toleranz der anderen Zuschauer abnimmt. Aber auch in Konzerten auf | |
Spendenbasis werden wir in der Regel nach der Hälfte gebeten, den Saal zu | |
verlassen. Mein Mann und ich verbringen jedes Jahr im Dezember Stunden mit | |
der Suche nach einer Möglichkeit für Willi, wenigstens die ersten drei | |
Teile seines geliebten MAMs zu hören. Doch das Schlimmste ist immer ein | |
Rauswurf. Und nicht nur, weil wir Willi dann gegen seinen Willen wie einen | |
Sack Mehl heraustragen müssen, sondern weil es mich so verletzt, dass | |
niemand anderes aufsteht und laut ausruft: „Halt. Lasst den Jungen zuhören, | |
Musik ist doch für alle da!“ | |
Dieses Jahr ist uns jedoch etwas Wunderbares passiert: einige | |
Kirchenmusiker trommelten ihre Kollegen zu einem Spontanweihnachtsoratorium | |
zusammen – losgelöst vom stressigen Konzertbetrieb, nur für den Spaß am | |
Musizieren. Und Willi war eingeladen! Die Dirigentin begrüßte ihr Orchester | |
mit den Worten: „Wir müssen uns hier ja heute nicht selbst verwirklichen.“ | |
Diese beiden Stunden im MAM gehörten definitiv zu den schönsten des letzten | |
Jahres. | |
Warum kann Klassik nicht öfter auch mal so aufgeführt werden? Willi ist | |
doch nicht der einzige Mensch, der nicht in der Lage ist, seine Emotionen | |
zu unterdrücken. Und es gibt viele Menschen mit Besonderungen, die einen | |
normalen Konzertbesuch unmöglich machen: chronischer Husten, ein | |
Beatmungsgerät, Demenz oder schlichtweg häufiger Harndrang. | |
Haben die alle einfach Pech gehabt? | |
Ich persönlich finde, jeder hat Pech gehabt, der noch nie erlebt hat, wie | |
hingerissen Willi sein kann bei Bachs Toccata und Fuge in d-Moll. Gerne | |
würde ich viel mehr Menschen die Chance geben, das zu erleben. | |
5 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Birte Müller | |
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