# taz.de -- Sixties in der Wiederaufführung: Damen-Showband aus Kolbermoor | |
> Die Geschichte einer All-Girl-Band aus den Sechzigern: der Künstler | |
> Maurice de Martin erzählt sie im Orwo-Haus als Re-enactment. | |
Bild: Flüchtiges Bild vergangener Beat-Herrlichkeit: die Girls in Aktion | |
Zunächst wird man stutzig. Eine All-Girl-Rockband, in der oberbayerischen | |
Provinz, Ende der Sechziger? Hat es so etwas zu einer Zeit, als Rock- und | |
Popmusik gerade hierzulande durch und durch Männersache war, schon gegeben? | |
In Kolbermoor, einer Kleinstadt bei Rosenheim, offenbar schon. Dort gründet | |
sich im Jahr 1967 eine Band, die sich schlicht Girls nennt. Sie bildet sich | |
rund um das Ehepaar Anna und Bruno de Martin, die zunächst gemeinsam als | |
Anny and the Diamonds Musik machen – sie ist Schlagzeugerin, er Bassist. | |
Doch Bruno de Martin will etwas Außergewöhnlicheres – auch, um mit | |
Rockmusik Geld verdienen zu können. Er castet sich eine Frauenband | |
zusammen, bekommt Kontakt zu einer niederländischen, einer schweizerischen | |
und einer deutschen Musikerin. Gemeinsam mit seiner Frau werden sie die | |
Girls. | |
Diese Story, die später tragisch enden soll, ist bislang noch nicht | |
erforscht, sie lagert in einem Familienarchiv. An die Öffentlichkeit bringt | |
sie nun der Berliner Künstler Maurice de Martin, der der Sohn des Ehepaars | |
ist. Der vom Avantgarde-Ensemble Zeitkratzer bekannte de Martin bringt die | |
Girls als Re-enactment mit einem Quartett auf die Bühne; auch | |
„Re-recordings“ sollen bald erscheinen. „Es ist eine Geschichte, die ich | |
schon lange mit mir herumtrage und die mir wieder und wieder von Verwandten | |
erzählt wurde“, sagt er beim Gespräch in einem Café, „ich wusste aber la… | |
nicht, ob ich künstlerisch mit dem Material arbeiten möchte, denn ich will | |
sorgsam mit der Geschichte meiner Mutter umgehen.“ | |
Über die Ur-Girls noch mehr herauszufinden ist nicht einfach. De Martins | |
Mutter starb 1971 im Alter von nur 23 Jahren an einer Krankheit. Er selbst | |
war damals drei. Die Band löste sich daraufhin auf. Wo die anderen | |
Bandmitglieder – Sängerin/Keyboarderin Ida van Selst, Ingrid Mars (Bass) | |
und Vally Claus (Gitarre), die alle unter Künstlerinnennamen firmierten – | |
sich heute aufhalten, ist unbekannt. Sein Vater wiederum, den er als | |
„cleveren Geschäftsmann“ beschreibt, lebt seit 20 Jahren in Australien – | |
die Familiengeschichte ist kompliziert. Die meisten Informationen, die | |
Zeitungsausschnitte, Plakate und Fotos, die er mitgebracht hat, hat er von | |
der jüngeren Schwester seiner Mutter. Zudem besitze er noch ein Tagebuch | |
der Mutter. „Eine sehr kreative und eigensinnige Frau“ sei sie gewesen. | |
## Bayerische Version der Beatles | |
Bei der Neuformierung der Girls gehe es nun nicht darum, dem Original | |
möglichst nahezukommen – eher wollen die neuen Girls die Bandgeschichte | |
weitererzählen. Neben Maurice de Martin besteht das Quartett aus | |
Schauspielerin Susanne Sachsse, Dirk Dresselhaus und dem britischen | |
Improvisationsmusiker Hilary Jeffery. Sängerin und Bassistin Sachsse, die | |
ebenfalls zum Interview gekommen ist, sagt: „Wie wollen künstlerisch mit | |
der Vergangenheit umgehen, ohne die Vergangenheit zu restaurieren – das ist | |
uns wichtig in einer Zeit, in der allerorts dieser schreckliche | |
Restaurationsgeist herrscht.“ Erstmals live sehen und hören kann man das | |
Projekt am Samstag im Orwo-Haus in Marzahn. | |
Wie die Original-Girls damals klangen, ist kaum mit Gewissheit zu sagen. | |
Veröffentlicht hat die Band nie etwas, de Martin besitzt nur ein | |
20-minütiges, stark beschädigtes Tonband. Aus diesen Aufnahmen von 1971 | |
sollte das Album „Yes Wave“ werden, zu dem es dann nicht mehr kam. „Das i… | |
auf einem sogenannten Schnürsenkel aufgenommen, einem schmalen Tonband. Es | |
lagerte in einem feuchten Proberaum in Kolbermoor. Es leiert sehr stark, es | |
klingt, als sei die Sängerin betrunken gewesen.“ Als Proto-Krautrock mit | |
Jazz-Einschlag, „swinging und shuffling“, beschreibt er den Sound. | |
Manches aber weiß man über die Girls: Als Kneipenband standen sie in | |
Rosenheim im März 1968 einen Monat lang täglich von 20 bis 3 Uhr auf der | |
Bühne, wie ein (unbekanntes) Lokalblatt ankündigt. Im Wortlaut: „Eine | |
attraktive vierköpfige Damenband wurde (…) für einen ganzen Monat ins | |
‚Arkaden‘ verpflichtet. Ida, 23 Jahre, blond; Vally, 21 Jahre, brünett; | |
Ingrid, 24 Jahre, schwarz, Anne [sic], 22 Jahre, brünett, spielen Gitarre, | |
Baß, Schlagzeug, Orgel, Trompete und Saxophon. Zwei dieser Mädchen | |
studierten 3 Jahre im Konservatorium.“ | |
Auch in Wilhelmshaven, das verrät ein Zeitungsartikel ohne Quellenangabe, | |
hat die „international bekannte Damen-Showband“ in Kneipen gespielt. Auf | |
den wenigen Fotos kommt die Gruppe wie eine weibliche und bayerische | |
Version der Beatles rüber. Alle vier tragen Kurzhaarfrisuren und feine | |
Anzüge. Während es in England mit den Liverbirds, die zeitweilig in Hamburg | |
waren, oder den Pleasure Seekers, in den USA und Skandinavien viele dieser | |
Gruppen gab, waren Frauenbands in Deutschland rarer. In Köln gab es die | |
Ruby Rats, in Duisburg die Rag Doll’s, in Berlin Die Sweetles. | |
## Freiheit und Autonomie | |
Besonders ist, wie die heutige Girls-Reinkarnation mit dem alten Material | |
umgeht. Sachsse etwa kennt die Musik der Girls gar nicht – für den | |
künstlerischen Ansatz, den sie verfolgen, sei das auch nicht erforderlich. | |
„Ich kenne nur die Erzählung von Maurice. Um Texte schreiben zu können, | |
bringe ich eigene Referenzen ein. Zum Beispiel war Jane Bowles’ Roman ‚Two | |
Serious Ladies‘ in diesem Zusammenhang sehr wichtig für mich. Die | |
Protagonistinnen darin erkämpfen sich ebenfalls ihre Freiheit und Autonomie | |
– eine Parallele zu den Girls.“ | |
Für de Martin, der unter anderem auch Musik an der Hochschule der Künste in | |
Bern lehrt, sind theoretische Grundlagen bedeutend, er sieht den Gedanken | |
des „gelenkten Zufalls“ von John Cage in dem Projekt repräsentiert. | |
Viele Zufälle führten in der Tat dazu, dass es die neuen Girls überhaupt | |
gibt: Bei einem Aufenthalt mit Zeitkratzer in England erwähnte er diese | |
Geschichte eher beiläufig – dies löste massives Interesse von britischen | |
Musikfans aus. Auch auf Sängerin Sachsse traf de Martin zufällig: Als sie | |
2017 mit der US-Band Xiu Xiu in Wedding auftrat, war er davon überzeugt, | |
dass sie die Sängerin in dem Projekt sein müsse – so kam es dann auch. | |
Musikgeschichtlich sollte die Girls-Wiederauferstehung ein Anlass sein, um | |
weiterzuforschen. Denn es schlummert wohl immer noch einiges Unentdecktes | |
in verborgenen Kellern. Vielleicht gab es ja doch schon viel früher mehr | |
Girls in der Rockmusik, als man annimmt. | |
Girls – the female source of Krautrock: Samstag, 26. Januar, 20 Uhr, | |
Orwo-Haus, Frank-Zappa-Straße 19 | |
26 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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