# taz.de -- Netflix wird internationaler: Global, divers und progressiv | |
> Netflix sendet immer mehr Originale, die nicht aus den USA kommen. Können | |
> die Filmbranchen vor Ort davon profitieren? | |
Bild: Genevieve Nnaji führte Regie beim nigerianischen Film „Lionheart“ un… | |
Sie steht auf einem Parkplatz, umringt von Dutzenden aggressiven Männern, | |
die ihren Lohn fordern. „In Nigeria verhalten Sie sich wie eine | |
Nigerianerin!“, schreit ihr ein Mann entgegen und beschimpft sie als „zu | |
amerikanisch“. Sie wendet sich ihnen zu, verspricht den Männern ihren Lohn | |
und schickt sie nach Hause. Die Männer gehorchen. Gleich die erste Szene | |
setzt das Thema: Es geht um den Konflikt zwischen Alt und Neu, Traditionen | |
und Moderne, um eine Frau in einer männerdominierten Arbeitswelt. Die Frau | |
heißt Adaeze Obiagu und wird gespielt von Genevieve Nnaji, die auch Regie | |
geführt hat. | |
Die nigerianische Komödie „Lionheart“ ist das erste Netflix-Original, das | |
aus einem afrikanischen Land kommt. Kurz vor der Premiere auf dem Toronto | |
International Film Festival im September kaufte sich der Streaming-Dienst | |
die weltweiten Rechte. Seit Freitag kann man den Film in englischer | |
Originalsprache in 190 Ländern streamen. | |
Adaezes Vater Ernest (Pete Edochie) kann sein Verkehrsunternehmen | |
„Lionheart“ aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr leiten. Der Zeitpunkt | |
ist denkbar schlecht, kämpft das Unternehmen doch um einen lukrativen | |
Auftrag. Adaeze geht davon aus, dass sie die Geschäfte übernimmt, bis ihr | |
Vater wieder zu Kräften kommt. Stattdessen engagiert dieser seinen Bruder | |
Chief Godswill (Nkem Owoh). Die beiden könnten nicht unterschiedlicher | |
sein, doch nun müssen sie gemeinsam das Familienunternehmen, das tief in | |
den Schulden steckt, aus der Krise holen. Nebenbei muss Adaeze ständig | |
gegen das Patriarchat ankämpfen – auch innerhalb der eigenen Familie. So | |
begrüßt der Onkel sie mit den Worten: „Du könntest bei einem | |
Schönheitswettbewerb mitmachen“, worauf sie nur entgegnet: „Ich muss | |
arbeiten.“ | |
Die Geschichte bricht mit den Sehgewohnheiten der Netflix-Zuschauer*innen. | |
Der Film erzählt vom Leben einer Igbo-Frau im heutigen südöstlichen | |
Nigeria, und das ohne genderstereotype Klischees. Mit seinem nicht-weißen | |
Cast setzt sich „Lionheart“ von vielen erfolgreichen Filmen ab. Auch den | |
[1][Bechdel-Test], der Sexismus in Filmen aufzeigen soll, besteht der Film. | |
Dabei müssen drei Kriterien erfüllt werden: Zwei Frauen müssen vorkommen, | |
die beide einen Namen haben und sich über etwas unterhalten, wobei Männer | |
nicht das Thema sein dürfen. Viele preisgekrönte Hollywood-Filme bestehen | |
den Test nicht. | |
## Neue Strategie: international | |
Dass Netflix [2][immer mehr Originale international produzieren lässt], | |
hängt mit einer neuen Ausrichtung des Konzerns zusammen: weg vom | |
größtenteils US-zentrierten Mainstream-Fernsehen und hin zu progressivem | |
und diversen Produktionen. In erster Linie geht es wohl darum, ein noch | |
größeres Publikum anzusprechen. Ein Pressesprecher hingegen formuliert es | |
auf Nachfrage so: „Wir glauben, dass tolles Storytelling von überall auf | |
der Welt kommen kann, und sind aktiv auf der Suche nach neuen Geschichten | |
vom afrikanischen Kontinent.“ So hat das Unternehmen auch eine erste | |
Originalserie aus Afrika angekündigt: „Queen Sono“ ist eine südafrikanisc… | |
Produktion, die von der Arbeit einer Spionin handelt. Sie soll ebenfalls | |
noch dieses Jahr erscheinen. | |
Die US-amerikanischen und europäischen Zuschauer*innen, die bislang noch | |
den Großteil der Abonnent*innen ausmachen, profitieren davon, werden ihnen | |
auf diesem Weg doch internationale Filme und Serien zur Verfügung gestellt, | |
die ihnen die Kinos vor Ort nicht in dieser Vielzahl bieten können. | |
Doch die Frage ist, ob auch die nigerianischen Zuschauer*innen und | |
Filmemacher*innen von der Offensive profitieren werden. Nach nur einem | |
Film lässt sich das noch schwer sagen. Zwar vertreibt Netflix schon seit | |
2015 nigerianische Blockbuster wie „October 1st“ und „Fifty“, doch mit | |
„Lionheart“ mischt es sich erstmals aktiv in „Nollywood“ ein, der | |
nigerianischen Filmindustrie. Nollywood ist eine der größten Filmbranchen | |
der Welt, gemessen an der Anzahl der Filme, die sie jährlich produziert – | |
doch im Vergleich zu Holly- oder Bollywood steckt deutlich weniger Geld | |
dahinter. Das zeigt sich auch in den Filmen: Die Bild- und Tonqualität ist | |
meist schlecht, die Filmemacher*innen haben aus Kostengründen nur wenig | |
Zeit, ihre Filme zu produzieren. Zudem werden die meisten Filme in Nigeria | |
via VCD, den Vorgänger der DVD, vertrieben und kaum online gestreamt, | |
weswegen Nollywood wenig Publikum außerhalb Afrikas erreicht. Auch Kinos | |
gibt es nur wenige, und für viele sind diese zu teuer. | |
Streaming-Anbieter könnten also die Lösung sein. Doch die Infrastruktur ist | |
schlecht, Internetanschlüsse sind meistens zu langsam zum Streamen, | |
schnelles Internet können sich in Nigeria nur die Reichen leisten. Vor | |
wenigen Jahren gab Netflix bekannt, dass sie nun mit eigenen Servern in | |
afrikanischen Ländern die Infrastruktur verändern wollen. Doch das ist | |
nicht die einzige Schwierigkeit, mit der sich der Streaming-Anbieter vor | |
Ort auseinandersetzen muss. MultiChoice, der TV-Gigant aus Südafrika, zum | |
Beispiel hätte gerne, dass Netflix streng reguliert wird. [3][Das forderte | |
deren CEO, Calvo Mawela im Frühjahr 2018 gegenüber der Nachrichten-Website | |
mybroadband] – wohl aus Angst um die Monopolstellung von MultiChoice. | |
## Afrika, Europa, Asien | |
Die Zuschauer*innen hingegen würden profitieren, wenn mehrere Anbieter in | |
Nollywood investieren wollten, der Wettbewerb könnte günstigere Angebote | |
und einen besseren Netzausbau fördern. Und auch Filmemacher*innen könnten | |
davon profitieren, denn mit großen Produzenten im Rücken stünde ihnen mehr | |
Geld zur Verfügung. Geld, das benötigt wird, um in Sachen Bild- und | |
Tonqualität auf dem globalen Markt mithalten zu können. | |
Erst einmal ist zwar unwahrscheinlich, dass Netflix mit seiner ersten | |
Nollywood-Filmproduktion einen Strukturwandel der nigerianischen | |
Filmindustrie eingeläutet hat. Dennoch ist „Lionheart“ ein guter Einstieg | |
in den neuen Markt: [4][Nigerianische Medien bewerten den Film | |
weitestgehend positiv], ebenso die Zuschauer*innen. In den sozialen Medien | |
wird immer wieder die feministische Sichtweise des Film gelobt: Dass eine | |
unverheiratete Frau im Vordergrund stehe, in deren Geschichte es nicht | |
darum geht einen Mann zu finden, sondern ein Unternehmen zu leiten, sei für | |
Nollywood bisher eine Seltenheit, so der Tenor. | |
Der afrikanische Markt ist nicht der einzige, den Netflix erschließen will, | |
auch in Europa und Asien sollen mehr Serien und Filme produziert werden. Im | |
Laufe des Jahres sollen allein 221 europäische Originale online gehen, | |
heißt es von Netflix, 80 mehr als im vergangenen Jahr. Darunter sind auch | |
fünf Formate aus Deutschland – weitere aus Polen, Spanien und der Türkei. | |
Zudem hat Netflix erstmals im vergangenen Oktober einen Zuständigen für | |
Afrika, den Nahen Osten und die Türkei eingestellt, der sich um neue | |
Inhalte kümmern soll. | |
Das ist klug, denn gerade die Türkei hat sich in den vergangenen zehn | |
Jahren international einen Namen gemacht mit aufwendig produzierten | |
Seifenopern. Im Nahen Osten, in Asien, ja gar in Lateinamerika, der Heimat | |
des Telenovela-Genres sozusagen, finden türkische Soaps um Liebe und Verrat | |
seit Jahren ein treues Publikum. | |
Doch folgen diese Serien leider häufig den alten Klischees und | |
konservativen Schemata aus dem linearen Fernsehen, und so zeigt die erste | |
türkische Netflix-Eigenproduktion, die im vergangenen Monat erschien, wie | |
viel ungeahntes Potenzial noch in der türkischen Industrie steckt. „The | |
Protector“ ist eine Art Superheldengeschichte mit kunsthistorischen | |
Elementen à la Dan Brown. Die Sprache ist härter, der Stoff actionreicher | |
als die gewohnten TV-Produktionen aus der Türkei. Istanbul eignet sich | |
wunderbar als Kulisse, wird aber nicht so exotisiert wie in den gängigen | |
James-Bond-Sequenzen, mit denen das europäische Publikum bislang vertraut | |
ist. | |
Protagonist Hakan (Çağatay Ulusoy) soll die Menschheit vor ein paar | |
Unsterblichen beschützen, steht allerdings im Schatten seiner weiblichen | |
Meisterin Zeynep (Hazar Ergüçlü) – einer fantastisch vielseitigen | |
Frauenfigur, an der sich zeigt: Netflix bereichert nicht nur sich selbst, | |
sondern auch die nichtwestlichen Filmindustrien, in die das Unternehmen nun | |
zunehmend investiert. Diese werden unabhängiger, schärfen ihre Profile und | |
können sich mit dem neuen Riesen im Rücken erlauben, gängige Stereotype | |
endlich hinter sich zu lassen. | |
9 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Berlinale-Serien-und-Diversitaet/!5484249 | |
[2] /Neue-deutsche-Serien-auf-Netflix/!5543258 | |
[3] https://mybroadband.co.za/news/broadcasting/258303-netflix-must-be-taxed-an… | |
[4] https://www.nollywoodreinvented.com/2019/01/lionheart.html | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
Fatma Aydemir | |
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