# taz.de -- Die Formensprachen der Geometrie: Abstraktion des rechten Winkels | |
> Starke Muster: Die Ausstellung „Géométries Sud“ in der Fondation Cartier | |
> in Paris zeigt, was die südamerikanische Kunst eint. | |
Bild: Ausstellungsansicht mit den Fadenvorhängen der kolumbianischen Künstler… | |
Auf verführerisch bunten, mit kontraststarken Aguyao-Stoffen bespannten | |
Polsterhockern sitzt man in einem üppig dekorierten Pavillon im Erdgeschoss | |
der Fondation Cartier, um auf der großen Leinwand dem Filmporträt des | |
bolivianischen Architekten Freddy Mamani zu folgen. | |
Er ist der Schöpfer der Installation in Jean Nouvels sachlich-transparentem | |
Glasgebäude am Boulevard Raspail, bei der es sich um das Modell eines | |
Ballsaals im Maßstab 1:1 handelt. Alle Häuser Mamanis in der Millionenstadt | |
El Alto – gerne als hässliche Vorortsiedlung der Hauptstadt La Paz | |
geschmäht – besitzen einen solchen Ballsaal. | |
Bolivien erlebt seit der inzwischen zehnjährigen Präsidentschaft von Evo | |
Morales ein regelrechtes Wirtschaftswunder und an ihm hat auch die indigene | |
Bevölkerung teil, der der Präsident bekanntlich entstammt. Entsprechend | |
entwickelt sie ein neues Selbstbewusstsein, das in Freddy Mamanis | |
Architektur und Fassadengestaltung ebenso augenfällig wird wie ihre | |
erstarkte ökonomische Situation. | |
Mamanis „Neo-Andinismus“ genannte Bauform leitet sich aus Traditionen des | |
Aymara-Volkes ab und besticht neben seiner starken Farbigkeit durch eine | |
üppige, dabei aber extrem geometrische Ornamentik. Seine hoch aufragenden | |
Gebäude mit ihrer je eigenen Villa auf dem Dach scheinen vom International | |
Style noch nie gehört zu haben. Hier gibt es „Tollhaus statt Bauhaus“, wie | |
die Kollegin Silke Bender es unübertrefflich in der Welt formulierte. | |
## Nicht Architektur, sondern Geometrie ist das Thema | |
Der aufsehenerregende Auftakt der aktuellen Ausstellung in der Fondation | |
Cartier könnte freilich in die Irre führen. Nicht Architektur ist ihr | |
Thema, sondern die Formensprache der Geometrie. Sie nämlich, so die These | |
der Kuratoren Alexis Fabry und Hervé Chandès, verbindet und definiert Kunst | |
und Volkskunst des südamerikanischen Kontinents von der präkolumbianischen | |
Zeit bis heute. | |
Fabry, Kenner südamerikanischer Fotografie und Kunst, und Chandès, der | |
Direktor der Fondation Cartier, finden die „Géométries Sud“, wie ihre | |
Ausstellung heißt, in traditionellen Textilien und Korbflechtereien, aber | |
auch in Masken, in der Malerei, Fotografie, Skulptur und Architektur, und | |
zwar von Mexiko bis Feuerland, wie der Ausstellungstitel weiter besagt. | |
Zu sehen sind über 200 Arbeiten von rund 90 Künstlern und Künstlerinnen aus | |
den zwölf Ländern Kuba, Venezuela, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Chile, | |
Argentinien, Bolivien, Peru, Kolumbien, Ecuador und Mexiko. Schwer also, | |
eine gewisse Skepsis gegenüber einer womöglich überladenen und chaotischen | |
Angelegenheit zu zügeln. | |
Aber der Vorbehalt ist unbegründet. Großzügig gehört das Erdgeschoss außer | |
Freddy Mamani nur noch dem paraguayischen ArchitektInnenteam Solano Benítez | |
und Gloria Cabral und der venezolanischen Künstlerin Gego (Gertrud | |
Goldschmidt, geboren 1912 in Hamburg, gestorben 1994 in Caracas). | |
## Gegos Thema ist die Linie | |
Gegos Thema ist die Linie, ob in der Zeichnung, dem Aquarell oder ihren | |
„Reticuláreas“ genannten Objekten: multipel ge- und verflochtenen | |
Stahldrahtnetzen, die offen im Raum schweben. Weil sie weder Anfang noch | |
Ende, weder Zentrum noch Ränder zu haben scheinen, meint man in ihrem | |
wundersamen Drahtgeflirr zu versinken, während man durchgeht. | |
Auch Benítez und Cabral, Gewinner des Goldenen Löwen der | |
Architektur-Biennale 2016 in Venedig, huldigen in einer zwar mächtigen, | |
doch offenen Mauerkonstruktion der Linie. In Form des Dreiecks bildet sie | |
das – stets aus recycelten Ziegelsteinen gefertigte – bautechnisch | |
grundlegende Mauermodul ihrer Architektur. In Paris hat sie die Form einer | |
Raumplastik, die Schwere und Leichtigkeit im Spiel von Licht und Schatten | |
ausbalanciert. | |
Anders als Mamani sind Benítez und Cabral, vor allem aber Gego, die sich | |
als Jüdin nach ihrem Architekturstudium gezwungen sah, ihrer Verfolgung im | |
nationalsozialistischen Deutschland zu entkommen, im Modernismus zu Hause. | |
Ihre Arbeiten sind fern jeder Exotik, auch wenn sie deutlich in der neuen | |
Welt des südamerikanischen Kontinents wurzeln. Gegos Drahtarbeiten meint | |
man in den Netzkonstruktionen und Sphären des argentinischen Künstler Tomás | |
Saraceno wiederzufinden, freilich in stark vergrößerter, regelmäßigerer und | |
hierarchischerer Form. | |
## Fern jeder Exotik | |
Aber auch im Untergeschoss, das die Masse der Exponate beherbergt, haben | |
die Artefakte den ihnen angemessenen Raum, gleichgültig ob es sich um die | |
großen Leinwände der 103 Jahre alten Künstlerin Carmen Herrera („3 Red | |
Triangles“, 2016) handelt, die Serie kleinteiliger Fotografien zur | |
Geometrie mexikanischer Haussockel von Pablo López Luz („Neo Inca“, | |
2015/16) oder die blassen, geometrisch gemusterten Keramikvasen von Gustavo | |
Pérez („Sans titre“, 2010). | |
Auf weißen Sockeln frei im Raum platziert, sind sie das reduzierte | |
Widerspiel der üppig verzierten Keramiken, die der Stamm der Kadiwéu Ende | |
des 19. Jahrhunderts anfertigte und die nun in – ebenfalls auf weiße Sockel | |
gehobenen – Glasvitrinen präsentiert werden. | |
Die Kadiwéu gehören dem Stamm der Mbayá an, der einmal große Teile | |
Brasiliens und Paraguays beherrschte. Claude Levi-Strauss traf Mitte der | |
1930er Jahre auf sie, worüber er in „Traurige Tropen“ berichtete. Die | |
ausgestellte Erstausgabe von 1955 zitiert auf ihrem Schutzumschlag die | |
komplexen Symmetrien und Asymmetrien der Gesichtsbemalungen der | |
Kadiwéu-Frauen, die sich dabei, wie Levi-Strauss sagt, „einer abstrakten | |
Kunst widmen“. | |
Prominente Namen fehlen also nicht in der Ausstellung. Beatriz Milhazes | |
(*1960 in Rio de Janeiro) ist eine international hoch gehandelte Malerin, | |
deren Großformate auch mal für 4 Millionen Dollar verkauft werden. Ihr | |
florales „São Cosme e Damião“ reflektiert die Abstraktion der Moderne des | |
20. Jahrhunderts, die in Südamerika ganz unideologisch rezipiert und zur | |
urbanen Volkskunst werden konnte. | |
Lygia Clark (1920 Belo Horizonte – 1988 Rio de Janeiro) ist mit einem ihrer | |
„Bichos“ in der Ausstellung vertreten, einem geflügelten geometrischen | |
Metallobjekt, dessen Beweglichkeit die BetrachterInnen zur Aktion | |
herausfordern sollte. Die Pionierin einer partizipativen Kunst, die Hören, | |
Fühlen, Riechen und Tasten und Mittun einforderte, ist inzwischen eine | |
unhintergehbare Größe der Kunst des 20. Jahrhunderts. | |
## Die fade transatlantische Selbstverabredung | |
Doch das eigentliche Verdienst der „Géométries Sud“ ist es – auf eine | |
überaus elegante, unauffällige Weise –, in der Mehrzahl unbekannte oder nur | |
wenig gezeigte KünstlerInnen vorzustellen, die zu entdecken sich lohnt. Und | |
es wird kein Gewese gemacht um den Keil, den die Schau in die fade | |
transatlantische Selbstverabredung der modernen Kunst treibt, zugunsten der | |
viel zu selten diskutierten, dabei überaus deutlichen Beziehungen zu | |
Südamerika. Und glücklicherweise braucht es dazu auch nicht elf Säle wie | |
zuletzt in Berlin mit „Hello World“. | |
Auch in der kleineren Dimension kommen die raumfüllenden Geometrien der | |
Fadenvorhänge zur Geltung, die die vom Bauhaus geprägte kolumbianische | |
Künstlerin Olga de Amaral konstruiert. An der Wand bilden dazu die hundert | |
Jahre älteren Masken der Chiriguano-Guarani mit ihren runden oder | |
dreieckigen Backen, die blau oder rot auf das helle Holz gemalt sind, und | |
die beige-braune geometrische Ornamentik der gewebten Taschen und Gürtel | |
aus der letztjährigen Textilproduktion der Nivaklé einen harmonischen | |
Akkord. | |
Auf den – anders als in der orientalischen Ornamentik – immer rechtwinklig | |
ansetzenden Linienverlauf stößt man dann auch bei den kleinen Stelen, die | |
das Valdivia-Volk in Ecuador zwei- bis dreitausend Jahre vor Christus für | |
rituelle schamanistische Zwecke anfertigte. | |
Komplex, deswegen aber keineswegs kompliziert, regt „Géométries Sud“ ein | |
Zusammensehen und Zusammendenken von indigener, lokaler und westlicher | |
Kunst und Kultur an. Dabei darf das Fremde fremd bleiben, aber auch als | |
vertraut entdeckt werden kann. Und dazu stimmig: Die Exponate wurden | |
deutlich in den Museen, den Galerien und bedeutenden privaten Sammlungen | |
Südamerikas gesucht und gefunden. | |
5 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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