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# taz.de -- Ausstellung zeitgenössischer Architektur: Im Wolkenkuckucksheim
> Der japanische Architekt Yunya Ishigami stellt in der Fondation Cartier
> in Paris aus. „Freeing Architecture“ heißt sein Programm.
Bild: Junya Ishigami, Lecture Hall für den Park Groot Vijversburg in den Niede…
Für außergewöhnliche Architektur braucht es außergewöhnliche Bauherren.
Sagt ein außergewöhnlicher Architekt: Junya Ishigami, der mit seinem
breitkrempigen Filzhut von Yves Saint Laurent, dem schmalen Jackett, dem
weißen Hemd und einer Art Bolotie anstelle der Krawatte ausschaut wie ein
King of Pop. Mit gerade einmal 36 Jahren hat er 2010 für die zarte
Konstruktion eines fast unsichtbaren Wohnhauses den Goldenen Löwen der
Architektur-Biennale in Venedig gewonnen.
Jetzt steht er in dem lichtem Glashaus, das Jean Nouvel für die Fondation
Cartier in der Pariser Rue Raspail gebaut hat und gibt anhand von 30
großformatigen, aufwändig gestalteten Modellen, die von Zeichnungen und
Filmen begleitet werden, Auskunft über 20 seiner Bauprojekte. „Junya
Ishigami, Freeing Architecture“ ist die erste große Einzelausstellung zur
zeitgenössischen Architektur der Fondation Cartier. Was nicht heißt,
Architektur käme in ihrem Programm nicht vor.
2015, zum 30-jährigen Bestehen der Fondation, stellten Diller + Scofidio
einen roten Wischeimer in den Raum, in den alle zwei Sekunden ein
Wassertropfen von der Decke fiel. Das Duo war einst, bevor es noch für New
Yorks High Line berühmt wurde, Stipendiat der Fondation.
Die gemeinsam mit dem amerikanischen Komponisten David Lang und der
Sound-Designerin Jody Elff geschaffene Installation folgte Frank Lloyd
Wrights Erkenntnis, man müsse eben, wenn das Dach lecke, die Möbel
umstellen. Das könnte auch ein Motto für Junya Ishigami sein, der
Architektur so flexibel wie möglich entwickeln möchte, jenseits aller
stereotypen Vorstellungen darüber, wie sie zu sein habe.
Deshalb darf es in seine Räume von vornherein hineinregnen. Denn oft sind
sie nach oben offen, wie etwa die christlich-ökumenische Kapelle, die
Ishigami für einen chinesischen Immobilienentwickler in Shandong gebaut
hat. In einer zwanzig Meter tiefen Schlucht ragt nun eine Betonwand 45
Meter in die Höhe, wie eine Schlinge geformt.
## Altar und Bänke unter freiem Himmel
Den Anfang der Wand und ihr Ende trennen nur 1,3 Meter, hier liegt der
Eingang der Kapelle. Zunächst betritt man also einen dunklen, hoch
aufragenden Schacht, der sich im Verlauf immer mehr weitet, während ihn
mehr und mehr Licht erhellt. Dort, wo die Wand in einer Kurve umkehrt,
stehen Altar und Bänke unter freiem Himmel.
Überhaupt räumt der japanische Architekt, der bis 2004 beim Tokioter
Architekturbüro Sanaa gearbeitet hat, der Landschaft größten Stellenwert
ein. Frei zu bauen heißt für ihn, Architektur nicht als Mittel des
Selbstausdrucks zu begreifen, sondern als intelligente, sensible Reaktion
auf Nutzer und Umgebung.
Dass er auf beide einen ziemlich einzigartigen Blick hat, beweisen seine „8
Villas in Dali“, ein weiteres, derzeit in China realisiertes Projekt. Das
Bauland, eine mit riesigen natürlichen Steinblöcken übersäte
Berglandschaft, sieht aus, als hätte Obelix hier aus Spaß sämtliche seiner
Hinkelsteine über den Wiesen ausgeschüttet.
Junya Ishigami baut nun diese überdimensionalen Kieselsteine in seine
Ferienhäuser ein, indem er diese um sie herum baut. Manchmal verrückt er
einen einzelnen Stein oder fügt einen hinzu, damit ein ansprechender Raum
entsteht. Zugleich sind die Steine auch Stützen, auf denen das 300 Meter
lange Betondach aufliegt.
Es hat große verglaste Öffnungen nach oben, und bis auf wenige Betonmauern
sind auch die Wände der Häuser aus Glas. Den Bewohnern der Anlage muss –
verstärkt durch stolze 500 Quadratmeter Wohnraum − die Grenze zwischen
Innen und Außen oft völlig unkenntlich erscheinen.
## In der Höhle schmeckt das Essen besser
Ein extravaganter Bauherr ist auch der Chef de Cuisine des Restaurants Noël
in Yamaguchi in Japan. Da er der Meinung ist, sein Essen schmecke besser,
wenn es nicht in einer dieser schicken modernen Glas-Stahl-Architekturen
serviert werde, grub ihm Ishigami ein unterirdisches Restaurant in den
Lehmboden, den er als Gussform nutzte.
Von oben ließ er Krater in den Boden buddeln und mit Beton auffüllen, bevor
er sie im nächsten Schritt unterirdisch als sich nach unten verjüngende
Säulenstrukturen freilegte. Wie oft setzt der Architekt Glas von oben so
ein, dass das Gebäude mit Licht erfüllt ist, gleichwohl aber den soliden
Charakter der Höhle beibehält.
Dank seiner wunderbaren, speziell für die Ausstellung entwickelten Modelle
sind auch die tollen Ideen unmittelbar verständlich, die Junya Ishigami für
die Bauaufgabe Kindergarten entwickelt hat. Auf fragilen Tischen schwebend,
verwandeln die Modelle die Fondation in eine Zauberwelt aus geklebten und
gefalteten Papierwäldern und -landschaften. Manchmal bilden sorgsam aus
Alufolie modellierte Fantasietiere diese Landschaft oder wohlgeformte
Wolkengruppen.
Ja, sogar von jedem Baum, den er für einen Garten in Japan verpflanzt, hält
Ishigami ein zartes fotografisches Porträt für uns bereit. Vor allem aber
erkennt man durch die vielen, im Modell oder in Zeichnungen dokumentierten
Entwicklungsstufen der Projekte, auf wie viel unterschiedlichen Wegen ein
Gebäude entworfen werden kann.
Mit Ausnahme der Kapelle durchzieht eine Eigenart all seine Bauten: die
auffällig niedrige Deckenhöhe. In Japan kenne man keine hohen Wohnräume,
ist seine lapidare Erklärung zu seinen nur zwei Meter fünfzig Höhe, die er
selbst einer Sporthalle gibt. Im Forest-Kindergarten in Shangdong, China,
passen Erwachsene nur in die Klassenzimmer; die anderen Räume sind aufgrund
ihrer Höhe allein Kindern zugänglich, und selbst sie kommen in wieder
andere Räume nicht einmal auf allen vieren kriechend hinein.
## Spiel mit der Struktur
Dieser Kindergarten im Wald, dessen vielfach offenes Dach sich
notwendigerweise an der Stelle der Klassenzimmer aufwölbt, um an anderer
Stelle fast mit dem Boden zu verschmelzen, dieser Kindergarten also, das
ist leicht vorzustellen, kann nur ein wunderbares, bewohntes Abenteuer
sein.
Das ist auch das Wolkenkuckucksheim von einer Kindertagesstätte, mit dem
sich Ishigami im Auftrag der Stadt Atsugi im achten Stock eines
leerstehenden Industriegebäudes einnistete. Und zwar indem er die leere
Etage mit wunderlichen Betonelementen füllte: Wolken, die er zwischen die
tragenden Pfeiler stellte.
Die dadurch geschaffenen Räume sind für ihre kleinen Bewohner durchlässig,
an manchen Stellen können sie sich auf die Wolke legen oder über sie
hinwegklettern, an anderen unter ihr hindurchkriechen. Einfach im Spiel mit
der vorhanden Struktur entstand ein poetischer Raum, der ebenso sehr
Kunstwerk wie Architektur ist.
Die naheliegende Frage, inwieweit das Konzept der Nachhaltigkeit für ihn
von Bedeutung ist – wo er so empfänglich und unerwartet auf die
vorgefundene Umgebung, besonders auf die natürliche, reagiert – verfehlt
seine Idee einer befreiten Architektur, in der seine japanische
Sozialisation deutlich wird: JapanerInnen kennen und schätzen keine im
westlichen Sinne „echte“ Natur.
Sie betrachten sie als immer schon artifiziell, selbst Wälder und
Landschaften sind künstlich angelegt. Denn zur Natur in Japan gehören
Erdbeben, die das vermeintlich Solide stets aufs Neue erschüttern. Hier
greift unsere Vorstellung von Dauer nicht. Junya Ishigamis Vorstellung von
Nachhaltigkeit liegt in der Frage, wie man Prozesse neu denken und
verändern kann, während wir im Westen sie über unsere
Nachhaltigkeitskonzepte regeln und verstetigen wollen.
17 Apr 2018
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
Architektur
Fondation Cartier
Fondation Cartier
Garnisonkirche
Dokumentarfilm
Unesco-Kulturerbe
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