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# taz.de -- Kommentar Flüchtlingspolitik in Europa: Fraglos schreiten wir voran
> Wir Europäer sind stolz auf unsere Zivilisation. Gleichzeitig tun wir so,
> als ginge uns das Elend der Welt nichts an und schauen weg.
Bild: Das blühende Leben steht nicht allen zu
Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass sich buchstäblich vor unserer
Haustür ein menschliches Kollektivdrama abspielt, vor unseren Augen eine
politische und gesellschaftliche Entzivilisierungsdynamik ihren irren Lauf
nimmt – und fast niemanden kümmert es?
[1][Die Festung Europa wird mit Gewalt gesichert], und wer ihre Burggräben
und Außenmauern überwindet, ist seines Lebens noch lange nicht sicher.
Zehntausende Menschen mussten in den vergangenen Jahrzehnten sterben, weil
sie auf europäischem Boden leben wollten.
Sie mussten ihr Leben lassen, nur weil sie am hiesigen, selbst gewaltsam
erwirtschafteten Wohlstand teilhaben wollten. Weil sie teilhaben wollten an
unseren Lebensverhältnissen, an dem für uns ganz normalen Leben – von dem
wir meinen, dass es uns zusteht und im Zweifel ausschließlich uns.
Sie ließen ihr Leben, weil sie ihr Glück suchten, getrieben von Hoffnung
oder Verzweiflung, von Mut oder Angst. Wir in Europa sind die Sieger*innen
in der Glückslotterie des Lebens: geboren dort, wo es sich im Weltmaßstab
gut leben lässt. Aber Glück ist eine knappe Ressource, für alle reicht es
nicht. Das ist die irrationale Rationalität, die verrückte Logik der
kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung: Die immensen Werte,
die sie produziert, dürfen niemals allen zugutekommen.
## Und so sterben dann die Leute
Sie müssen ungleich zugeteilt werden – das Glück der einen ist das Unglück
der anderen. Aus dieser Logik der Verknappung im Überfluss entspringen die
Notwendigkeiten sozialer Schließung: Die Unglücklichen müssen leider
draußen bleiben; und wer nicht hören will, muss fühlen.
Und so [2][sterben dann die Leute], die nicht mehr daheim bleiben konnten
oder mochten – auf Schlauchbooten und an Grenzzäunen, in Kühllastern und
Asylheimen. Oder einfach auch auf offener Straße, mitten in jenem Leben,
das wir für uns allein reklamieren.
„Todesursache Flucht“: In einem zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte erschienenen Buch dokumentieren die Historikerin
Kristina Milz und die Autorin Anja Tuckermann die menschengemachten
„Schicksale“ von 35.597 Opfern des europäischen Grenz- und Migrations-,
Aufnahme- und Abweisungsregimes. Ein Vierteljahrhundert
institutionalisierter Menschenverachtung, auf Hunderten von Seiten
aufgelistet – eine kaum erträgliche Lektüre.
Ein beliebiger Blick in dieses Buch spricht Bände. Zum Beispiel, rein
willkürlich aufgeschlagen, Seite 240, wo 66 im Herbst des Jahres 2012
Verstorbene aufgeführt werden. Ertrunkene Afrikaner*innen von den Komoren,
deren Boot vor der Küste des französischen Überseedépartements Mayotte
kenterte. Eine 39-jährige papierlose Nepalesin, die bei ihrem Versuch der
Flucht vor einer zypriotischen Polizeirazzia aus dem fünften Stock eines
Gebäudes fiel.
## Menschen mussten sterben, weil sie leben wollten
Ein 20-jähriger Kurde aus dem Irak, der sich nach endgültiger Ablehnung
seines Asylantrags in einem norwegischen Zentrum für Geflüchtete das Leben
nahm. Ein 30-jähriger Mann aus Eritrea, gestorben bei einem Verkehrsunfall
nahe dem griechischen Alexandropoulis, als sich das Auto eines
Schleppers bei der Verfolgung durch die Polizei überschlug.
Ein 26-jähriger Mosambikaner, der sich als blinder Passagier auf einen Flug
von Angola nach Großbritannien geschmuggelt hatte und kurz vor der Landung
in Heathrow starb, als er aus dem sich öffnenden Fahrgestell auf eine
Straße des Londoner Vororts Mortlake stürzte.
Unglaublich? In der Tat. Quer durch Europa, um ganz Europa herum dasselbe
Bild: Menschen, die sterben mussten, weil sie leben wollten. Wenn Europa
nach seiner Identität sucht, dann bemüht es mit Vorliebe seine
„europäischen Werte“, dann konstruiert es sich als historisch wie global
einzigartige „Wertegemeinschaft“, als Hort der Aufklärung und der
Bürgerrechte, als Hüterin des Friedens und der Demokratie.
Liest man die – sehr unvollständige – Liste der Opfer der europäischen
Mauer, dann kommen arge Zweifel auf an diesem hehren Selbstbild. Dann
spricht alles dafür, dass die Einheit Europas in der Schizophrenie seiner
Institutionen liegt – und seiner Bürger*innen: in der säuberlichen
politischen Trennung zwischen den Rechten der einen und der Entrechtung der
anderen; in der zur Selbstverständlichkeit gewordenen gesellschaftlichen
Unterscheidung zwischen den eigenen, legitimen Ansprüchen und der
illegitimen Anspruchshaltung „Fremder“.
## Die Schockstarre scheint anzuhalten
Die Studien zur Entzivilisierung des gesellschaftlichen Lebens im
Nationalsozialismus füllen ganze Bibliotheken. Noch Generationen später
fragt man sich, trotz oder auch wegen all der geschichtswissenschaftlichen
Evidenz: Wie war das möglich? Und bleibt ratlos und schockiert zurück.
Die Schockstarre scheint anzuhalten und sich fortzuschreiben, auch noch im
Angesicht des mittlerweile wieder ganz normalen Wahnsinns von
Alltagsrassismus und Protofaschismus: Innenminister freuen sich über
Abschiebungen zum Geburtstag, Verfassungsschützer nehmen Verfassungsfeinde
in Schutz. Ja selbst unter Linken ist das hausherrliche Gerede vom
„Gastrecht“ nicht tabu, und man meint doch auch mal sagen zu müssen, dass
„wir“ nicht „alle“ aufnehmen können.
Also lassen wir es doch lieber ganz bleiben. Oder greifen halt zum Hebel
der „intelligenten Steuerung“ von Zuwanderung. Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil – wohlgemerkt ein Repräsentant jener Sozialdemokratie, die
zugleich mal wieder Thilo Sarrazin wegen völkischer Umtriebe auszuschließen
versucht – hat die erbarmungslose Rationalität deutscher Migrationspolitik
soeben auf den Punkt gebracht: „Im Kern geht es darum, dass wir nicht die
Falschen abschieben.“
Es lebe die Logik der Nützlichkeit: Die wenigen Guten ins
Arbeitsmarkttöpfchen, auf dass die nationale Wachstums- und
Wohlstandsmaschinerie weiter wie geschmiert laufen möge. Und die Masse der
Schlechten eben ins Kröpfchen des Mittelmeers, der erzwungenen Illegalität
oder der – ja, das darf man heute wieder sagen – „konzentrierten“
Unterbringung in Zentren für Ankunft, Entscheidung und Rückführung. Also
vor allem für Rückführung natürlich.
## Bitte nicht das Leben vermiesen
Damit wir unsere Ruhe haben. Denn es ist ja so: Wir wollen nicht gestört
werden. Wir wollen schlicht so weitermachen wie bisher. Wir wollen, dass in
akademischen Diskussionen mit elaboriertem Code über das „gute Leben“
räsoniert wird, während in krawalligen Talkshowdebatten Woche für Woche die
„Grenzen der Belastung“ tiefer gelegt werden.
Derweil wir Neoliberalismusgeplagten über den stetig steigenden
Arbeitsstress klagen und ganz widerständig, unter kreativer Nutzung der
Brückentage, den wohlverdienten Urlaub planen. Gern in einem jener Länder,
in denen diejenigen zurückgehalten werden, die uns daheim, nach unserer
Rückkehr in die Alltagsmühle, bitte schön nicht das Leben vermiesen sollen.
So geht kollektives Ausblenden heute – im Grunde genommen nicht anders als
damals. Man weiß eigentlich, was vor sich geht. In jedem Fall kann man das
alles wissen. Aber wir wollen es nicht wissen. Mehr noch, und viel
praktischer auch: Wir müssen gar nicht wissen. Niemand zwingt uns dazu, uns
den Realitäten unserer Lebensweise zu stellen. Nichts zwingt uns dazu, die
uneingestandenen Voraussetzungen und ausgeblendeten Konsequenzen unserer
Stellung in der globalen Ordnung sozialer Ungleichheit zur Kenntnis zu
nehmen. Oder gar zu Herzen.
Dazu jedenfalls kann uns auch niemand zwingen – das müsste schon von Herzen
kommen. Was diese Gesellschaft hingegen derzeit kollektivindividuell
betreibt, ist die große Gleichgültigkeit. Unsere Gesellschaft ist
indifferent gegenüber all denen, die die Zeche zahlen müssen für unsere
einzigartige Wohlstandsposition. Sie schert sich nicht um jene, die die
Kosten und Lasten unserer vermeintlich „hochproduktiven“, in Wahrheit aber
höchst destruktiven Ökonomie zu tragen haben.
## Fraglos schreiten wir voran
Ja, sie ist nicht nur indifferent, sondern geradezu indolent –
schmerzunempfindlich. Wohlgemerkt: Sie ist arg empfindsam für den in die
Zukunft projizierten Phantomschmerz, vielleicht doch mal Lebenschancen mit
den weniger Glücklichen dieser Welt teilen zu müssen, irgendwann auch
einmal ein größeres Stück vom Weltwohlstandskuchen abgeben zu müssen. Über
die Schmerzen der anderen hingegen kann sie ohne viel Aufhebens hinwegsehen
und ohne Weiteres hinweggehen. Fraglos schreiten wir voran.
Gleichgültigkeit ist aber keine psychische Deformation. Gleichgültigkeit
ist eine soziale Beziehung – eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Wir
handeln so, als ob das alles nichts mit uns zu tun hätte: Die Toten im
Mittelmeer und die Hetzjagden auf Andersaussehende, die Rückhaltelager in
Nordafrika, die Arbeitsbedingungen in Südostasien, die Umweltzerstörungen
in Lateinamerika. Das Elend der Welt, die Verdammten dieser Erde – not our
business. So wir nicht sogar noch Geschäfte damit machen.
Klar, wir können weiterhin das Sterben auf dem Weg nach Europa und den
tödlichen Rassismus um uns herum ignorieren. Wir können so weitermachen,
als ob nichts wäre. Gleichgültigkeit muss man sich leisten können – und wir
haben’s ja! Und so zeigen wir bestenfalls auf die üblichen
Verantwortlichen, auf EU und Frontex, Kurz und Orbán, Salvini und Seehofer
– alles üble Gesellen, die da oben und da draußen. Aber warum denn wohl
können sie alle ihr Spiel immer weiter treiben? Wie hat es auch in diesem
Jahr wohl wieder so reibungslos funktioniert? Wann spielen wir nicht mehr
mit?
Frage ich mich. Fragen uns 35.597 Tote. Und ungezählte weitere, nicht
dokumentierte Opfer der europäischen „Zivilisation“.
23 Dec 2018
## LINKS
[1] /Gastbeitrag-Festung-Europa/!5546982
[2] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5558093
## AUTOREN
Stephan Lessenich
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