| # taz.de -- Schwedische Stadt weicht dem Bergbau: In vier Jahren ist alles weg | |
| > Kiruna lebt vom Erz. Weil die Eisenvorkommen bis unter die schwedische | |
| > Stadt reichen, wird sie nun abgerissen. Ein Umzug der besonderen Art. | |
| Bild: Auf Eisen gebaut: Kiruna und der Schneehuhnberg | |
| Kiruna taz | „Unser Informationsbüro liegt im Zentrum“, hatte Ann Bergqvist | |
| am Telefon erklärt: „Also wohlgemerkt im alten Stadtzentrum.“ Das besteht | |
| in Kiruna aus einem großen Parkplatz. Tagsüber ist der mit Autos zugeparkt, | |
| nachts so gut wie leer – genauso wie manche Gebäude ringsherum, denen man | |
| ansieht, dass schon länger am laufenden Unterhalt gespart wurde. „Na ja, es | |
| lohnt sich natürlich nicht mehr, zu investieren“, sagt Ann Bergqvist, die | |
| als Medienverantwortliche für die Stadt arbeitet, und deutet auf das große | |
| Schaufenster des Büros: „Das ist ja in vier Jahren alles weg.“ Und anhand | |
| eines Stadtmodells, das fast das ganze Foyer des Büros einnimmt und auf dem | |
| die geplanten Abrisszonen wie Jahresringe markiert sind, erläutert sie, wie | |
| sie genau ablaufen soll, diese „Stadsomvandling“. | |
| Mit „Stadtumwandlung“ wird umschrieben, was eigentlich ein Abriss ist. | |
| Kiruna, Schwedens nördlichste Stadt, muss dem Erzbergbergbau weichen. Nur | |
| für den war sie im Jahr 1900 auch überhaupt gegründet worden. | |
| Giron bedeutet in der Sprache der indigenen Sami so viel wie „Schneehuhn“. | |
| Giron hieß dieser Platz aufgrund der Form des hier liegenden Berges. Die | |
| Sami hatten als Erste das bis an die Erdoberfläche reichende Eisenerz des | |
| Schneehuhnbergs entdeckt. | |
| Aber es sollte Jahrhunderte dauern, bis eine Förderung technisch möglich | |
| wurde und dank der Eisenbahn das Transportproblem gelöst war. Im Jahr 1890 | |
| gründete sich das Grubenunternehmen Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag | |
| (LKAB), benannt nach den Namen, den finnische Einwanderer mittlerweile den | |
| erzhaltigen Bergen gegeben hatten, die Giron/Kiruna umgeben. | |
| ## Ein Stadt, gebaut für ihre Arbeiter | |
| Für die Arbeiter sollte nach dem Willen des damaligen LKAB-Direktors | |
| Hjalmar Lundbohm mitten in der lappländischen Wildnis eine „Musterstadt“ | |
| entstehen. Der gelernte Geologe, dem auf historischen Bildern eine gewisse | |
| Ähnlichkeit mit Lenin nicht abzusprechen ist, hatte auf Studienreisen nach | |
| England und in die USA das Elend gesehen, unter dem die Bergarbeiter leben | |
| mussten. Nicht in Kiruna! Nur wenn es den Arbeitern gut geht, arbeiten sie | |
| gut, so lautete Lundbohms Credo. | |
| Für die damalige Zeit großzügige Wohnungen entstanden. Straßenbahnen fuhren | |
| von den Wohnbezirken direkt zur Grube. Das Schulwesen in Kiruna entwickelte | |
| sich bald zum Vorbild für ganz Schweden. „Und bei der Anlage der Stadt | |
| wurde sogar an die Umwelt gedacht“, berichtet Bergqvist stolz: Nicht etwa | |
| gerade Straßen und ein geometrisch geformtes Straßennetz wurden angelegt. | |
| So sollte die Bebauung größtmöglichen Schutz vor den eisigen Winterstürmen | |
| aus dem Norden bieten. | |
| Im Jahr 1910 hatte die nördlich des Polarkreises gelegene Stadt, in der es | |
| die Sonne von Ende November bis Anfang Januar nicht über den Horizont | |
| schafft, während sie von Ende Mai bis Mitte Juli nicht untergeht, bereits | |
| 10.000 EinwohnerInnen. 18.000 sind es heute. Hätte Lundbohm geahnt, was man | |
| jetzt weiß, hätte er Kiruna allerdings weiter weg von der Grube erbauen | |
| lassen. | |
| Deren Erzvorkommen setzt sich nämlich vom Schneehuhnberg aus genau unter | |
| der Stadt fort. Bis zum Beginn der 1960er Jahre wurde das Erz ober-, | |
| seither unterirdisch abgebaut. Ende der 1990er Jahre hatte LKAB erstmals | |
| Alarm geschlagen. Die durch den Bergbau instabil gewordene Region mit | |
| Deformationen und Bodenabsenkungen näherte sich dem bebauten Stadtgebiet. | |
| ## Bei Sprengungen klirren die Fensterscheiben | |
| Dass da in mehr als einem Kilometer Tiefe täglich Zehntausende Tonnen | |
| Eisenerz gebrochen werden, spüren die BewohnerInnen von Kiruna jede Nacht | |
| gegen 1.30 Uhr ganz hautnah. Dann wird in der Grube gesprengt. Ein Dröhnen | |
| ist aus dem Untergrund zu hören. Die Fensterscheiben älterer Häuser klirren | |
| und in den Vitrinen scheppern die Gläser. | |
| Ist das nicht gefährlich? „Nein“, beteuert Erika Lindblad. Sie hat den | |
| gleichen Medienjob wie Ann Bergqvist – nur beim anderen Part des | |
| Stadtumwandlungsprogramms, dem Grubenkonzern LKAB. Über ganz Kiruna seien | |
| Hunderte „mätplintar“ verteilt, erklärt sie: Messgeräte, die jede | |
| Bodenbewegung registrieren. Außerdem werde das Erz nur dort abgebaut, wo es | |
| an der Oberfläche keine Bebauung gebe. Was ja auch die Ursache dafür sei, | |
| dass die Stadt umziehen müsse. Sonst müsse der Abbau eingestellt, die Grube | |
| stillgelegt werden. „Und dann gäbe es Kiruna bald auch nicht mehr.“ Für d… | |
| einen oder anderen sei es „natürlich traurig, wenn alte Erinnerungen | |
| verschwinden“: aber es gebe keine Alternative. | |
| So ähnlich beantwortet auch ihre Kollegin von der Kommune die Frage, ob es | |
| denn so gar keinen Widerstand in der Bevölkerung gegeben habe: „Für mich | |
| und meine Generation“ – sie sei hier aufgewachsen und Anfang Dreißig – �… | |
| das vor allem total spannend“, sagt Ann Bergqvist. „Bei der älteren | |
| Generation, die nun plötzlich aus ihrer gewohnten Alltagsumgebung | |
| verpflanzt werden muss, sieht das natürlich schon anders aus.“ Aber die | |
| meisten seien sich bewusst, dass es eben nicht anders gehe. | |
| LKAB, zunächst teilstaatlich, seit 1976 ein reines Staatsunternehmen, ist | |
| nicht nur für Kiruna von existenzieller Bedeutung. Der Eisenerzbergbau ist | |
| ein Eckpfeiler der schwedischen Wirtschaft und steht für 10 Prozent des | |
| Gesamtexports des Landes. Neunzig Prozent des in der EU produzierten | |
| Eisenerzes kommt aus Schweden. | |
| ## Umziehen werden nur die wenigsten Gebäude | |
| Der Umzug war 2005 beschlossen worden. Nach ersten Plänen sollte kurzerhand | |
| die ganze Stadt verlegt werden. Doch das versprach sehr teuer zu werden. | |
| Nach dem Mineraliengesetz haftet LKAB für die Folgen seiner | |
| Bergbauaktivitäten. Der Konzern muss also die Umsiedlung finanzieren. Stadt | |
| und Unternehmen einigten sich auf eine billigere Lösung. Erst einmal wird | |
| nur ein Drittel von Kiruna abgerissen, um den Erzabbau bis 2035 zu | |
| ermöglichen. Betroffen sind rund 3.200 Wohnungen, in denen 6.000 Menschen | |
| leben, Firmen mit 1.000 Arbeitsplätzen, Schulen, ein Krankenhaus und | |
| mehrere andere öffentliche Gebäude. Umgerechnet 2 Milliarden Euro soll das | |
| kosten. | |
| Im eigentlichen Sinn des Wortes „umziehen“ werden neben rund 100 Bäumen | |
| aber nur 21 Gebäude – ausschließlich Holzkonstruktionen, vorwiegend ältere | |
| Villen und Wohnhäuser. Das größte Projekt soll die 1912 geweihte Kirche | |
| werden. Sie ist vermutlich 2025 an der Reihe. | |
| Alles andere räumen die Bagger ab. Der Bahnhof, ein rostfarbiges | |
| Ziegelgebäude mit dem Schild „Kiruna, 550 Meter Meereshöhe“, ist bereits | |
| verschwunden. Er ist zwei Kilometer entfernt durch eine schlichte | |
| Wartehalle ersetzt worden. Anfang 2019 wird das „Igloo“, das alte Rathaus | |
| abgerissen, ebenfalls ein großer Ziegelbau. Das ist „verdammter Mist“, | |
| bedauert Göran Cars, Stadtplaner und Kulturgeograf, den Kiruna für die | |
| „Umzugsplanung“ angeheuert hatte: „So ein fantastisches Gebäude!“ Aber… | |
| Umzug wäre zu teuer geworden. | |
| Was zu teuer ist, bestimmt letztendlich LKAB. Der Konzern kauft zu dem | |
| Preis, den er in seiner Monopolstellung als einziger potenzieller Käufer | |
| bezahlen muss, Grundstücke und Gebäude auf. | |
| ## Denkmalschutz aufgehoben | |
| Bei Bauwerken wie dem Bahnhof und dem Rathaus wurde der Denkmalschutz vom | |
| Staat aufgehoben, damit der billige Abriss möglich wurde und kein | |
| kostspieliger Umzug erforderlich wird – obwohl ein solcher Denkmalschutz | |
| laut Gesetz eigentlich „für alle Zukunft“ gelten soll. Hätte die Stadt | |
| gerne eine kompaktere „Stadtumwandlung“ gesehen, rechnet sich für LKAB | |
| dagegen, diese über möglichst viele Jahre zu kleckern. Der ursprüngliche | |
| Zeitplan hat sich deshalb schon um drei Jahre verzögert. Kiruna wird zwei | |
| Jahrzehnte lang eine große Baustelle sein. | |
| Jedenfalls wird die Stadt anstelle des jetzigen öden Parkplatzes drei | |
| Kilometer weiter östlich ein schickes und dazu auch noch gänzlich | |
| autofreies neues Zentrum bekommen. Ende November ist mit königlichem Besuch | |
| das neue Rathaus eingeweiht worden. Bislang steht dieses „Kristall“ | |
| genannte schneeweiße runde Gebäude etwas verloren inmitten von Baugruben. | |
| In den kommenden Jahren sollen sich ein Kulturhaus und eine Schule, ein | |
| Geschäfts- und ein Wohnviertel dazugesellen. | |
| „Mit Mieten, die wir uns nie werden leisten können“, meint Margot, die es | |
| sich mit Ehemann Sven im Café Oscar bei Kakao und Kuchen gemütlich gemacht | |
| hat. In zehn Monaten müssen sie aus ihrer jetzigen Wohnung raus, „aber für | |
| uns Rentner bleiben dann wieder nur Wohnungen in den alten Häusern“. Die | |
| Mieten in den Neubauten sollen rund 40 Prozent höher liegen. „So geht das | |
| doch nicht“, schimpft Sven, ein pensionierter Eisenbahner: „Wir ziehen ja | |
| nicht freiwillig um. Korrekt wäre doch, wenn sie sagen: Gib mir deine alten | |
| Wohnungsschlüssel, hier hast du die neuen. Mit gleichen Mieten.“ | |
| Und natürlich ist auch ein Thema, dass LKAB im Oktober überraschend | |
| mitteilte, das Erzvorkommen der Kiirunavaara-Grube habe eine „komplexere | |
| Geometrie“ als bislang angenommen. Vermutlich befänden sich unterhalb des | |
| bislang erkundeten Niveaus von 1.365 Metern kaum noch abbauwürdige | |
| Vorkommen. Das würde bedeuten, dass nur noch bis zum Jahr 2035 Erz abgebaut | |
| wird. Also – zufälligerweise? – genau bis zu dem Zeitpunkt, den man schon | |
| vor zehn Jahren für die „erste Etappe“ des Umzugs angepeilt hatte. | |
| „Könnte es nicht sein, dass die das schon viel länger wissen?“, meint Sve… | |
| In den Nullerjahren habe es noch massiven Widerstand gegen die Abriss- und | |
| Umzugspläne gegeben. Doch die angebliche Alternativlosigkeit und die | |
| Aussicht auf eine nicht absehbar lange Zukunft für die Grube mit ihren | |
| Tausenden Arbeitsplätzen hatten die oppositionellen Stimmen bald | |
| verstummen lassen. „Ach lass mal, Sven“, legt Margot ihm die Hand auf den | |
| Arm: „Das ist Schnee von gestern.“ Fortschrittsglaube und Freude über die | |
| tolle Zukunft der Stadt? An diesem Kaffeehaustisch Fehlanzeige. Und in | |
| Kiruna wird man sich möglicherweise bald Gedanken über eine viel radikalere | |
| Art der „Stadtumwandlung“ machen müssen: die für eine Zukunft auch ohne | |
| Eisenerz. | |
| 4 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Reinhard Wolff | |
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