# taz.de -- „Gelbwesten“-Protest in Frankreich: Révolte toujours | |
> Die „Gelbwesten“ wühlen Frankreich auf – auch am Samstag wieder. Was a… | |
> Aufstand von Autofahrern begann, ist zum Klassenkampf geworden. | |
Bild: Sie sind überall: Gelbwesten-Solidarität bei einem französischen Fußb… | |
PARIS taz | Brennt Paris? Die Bilder von fliegenden Pflastersteinen, | |
Tränengas, brennenden Autos, beschmierten Häusern und beschädigten | |
Denkmälern haben [1][voriges Wochenende die Franzosen aufgewühlt]. Und | |
nicht nur die Franzosen. | |
La plus belle avenue du monde, so nennen sie in Paris die Champs-Élysées, | |
wurde zum Schauplatz von bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Wucht, mit der | |
die Gilets jaunes, die Gelbwesten, Frankreich überrannt haben, verbreitet | |
Angst. Angst vor weiterer Eskalation an diesem Wochenende. Eine mulmige | |
Spannung liegt über der Stadt. Ein bizarres Gefühl, dass sich hier etwas | |
zusammengebraut hat, was niemand mehr stoppen kann, selbst nicht 100.000 | |
Sicherheitskräfte. | |
Wieder werden die Champs-Élysée umkämpft sein. Der Triumphbogen trug vor | |
einer Woche die Aufschrift: „Die Gelbwesten werden triumphieren“. Aber um | |
welchen Preis? Eine erneute Erstürmung des Wahrzeichens wäre für den Staat, | |
für Macron und seine Regierung ein unkalkulierbares Risiko. Es geht viel um | |
Symbole in diesen Tagen. | |
Auf den Champs-Élysées treffen Frankreichs Geschichte und Gegenwart | |
zusammen, die Straße ist Symbol für Luxus und Savoir-vivre. Von Louis | |
Vuitton bis zum Nobelrestaurant Le Fouquet’s, der Boulevard ist in diesen | |
Tagen geschmückt mit prächtiger Weihnachtsbeleuchtung. | |
Hier läuft, nein flaniert man zwei Kilometer von der Place de la Concorde, | |
wo einst die Königsfamilie guillotiniert wurde, bis hinauf zum Arc de | |
Triomphe, wo zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg am Grab des unbekannten | |
Soldaten die Ewige Flamme brennt. Als über der Straße vergangenen Samstag | |
eine Tränengaswolke hing, fühlten sich viele ältere Franzosen [2][an den | |
Mai 1968 erinnert]. | |
## La France périphérique | |
Einen solchen Ausbruch an Gewalt hätte beim Amtsantritt Macrons im Mai 2017 | |
selbst der pessimistischste Beobachter nicht prophezeit, auch wenn mit | |
Widerstand, vor allem linker Gruppen, gegen den Reformeifer des Präsidenten | |
gerechnet wurde. Damit wären wir bei einem bekannten Frankreich-Klischee: | |
Sind diese Franzosen nicht schon immer unfähig zu Reformen gewesen, aber | |
schnell dabei, wenn’s darum geht, Revolutionen anzuzetteln? | |
Die Bilder des Pariser Aufstands täuschen, wenn man verstehen will, was | |
hinter den Gelbwesten steckt. In Wahrheit geht es um das Aufbegehren eines | |
anderen Frankreichs, das la France périphérique genannt wird, das | |
Provinz-Frankreich. Weit weg von den Pariser Eliten, deren Handeln die | |
Menschen wie eine einzige Nabelschau empfinden. | |
Zur Erinnerung: Mitte November kochte der Ärger hoch. In ländlichen | |
Gebieten protestierten Tausende Menschen mit Straßensperren gegen die | |
geplante Benzinsteuererhöhung. Ihr Erkennungszeichen: die gelbe Warnweste, | |
die jeder Autofahrer für den Notfall griffbereit im Auto haben muss. Es war | |
die Geburtsstunde dessen, was von nun an als die Bewegung „Gilets jaunes“ | |
bezeichnet wird. | |
Das Argument, man müsse mit Steuererhöhungen die Energiewende beschleunigen | |
verhöhnen die Gelbwesten als elitär. Gerade sie, die für die Fahrt zur | |
Arbeit, zum Einkaufen oder zum Arzt auf das Auto angewiesen sind, sollen | |
jetzt dafür herhalten, dass smoggeplagte Pariser, denen ausreichend Metros, | |
Busse und Züge zur Verfügung stehen, den Klimawandel stoppen wollen. Hinzu | |
kommt der Zorn über Macrons Steuerpolitik für Spitzenverdiener. Vor einem | |
Jahr antwortete der Präsident auf die Kritik an der Abschaffung der | |
Vermögensteuer, er werde dem „traurigen Reflex des französischen Neides“ | |
nicht nachgeben. Ein Satz, der vielen Geringverdienern grotesk abgehoben | |
vorkam. | |
## Die neue Protestfarbe Gelb | |
Es geht nicht um Neid, es geht um die Angst vor dem weiteren sozialen | |
Abstieg. Von welchem Geld sollen sie sich ein neues, energiesparendes Auto | |
kaufen? Wie kann es sein, dass die Regierung ihnen rät, auf die Bahn | |
umzusteigen, obwohl durch die Reform der Staatsbahn viele Linien in der | |
Provinz vom Verschwinden bedroht sind? Wieso verwaisen in den Innenstädten | |
zuhauf Ladenflächen, während große Handelsketten ihre Mega-Märkte ohne | |
einschränkende Auflagen auf der grünen Wiese errichten können? Die | |
Gelbwesten fühlen sich machtlos gegen die Verödung ihrer Regionen, gegen | |
ihre sinkende Kaufkraft. Von Macrons Versprechen, es gehe vorwärts, spüren | |
sie nichts. Keine Reform hat bislang ihr eigenes Leben spürbar verbessert. | |
Die Bewegung der Gelbwesten war anfangs im Grunde genommen unpolitisch, | |
oder besser gesagt: politisch-pluralistisch. Wähler von Le Pen standen an | |
der Seite von Wählern des Linken Jean-Luc Mélenchon und neben enttäuschten | |
Macron-Wählern. Die Tatsache, dass die Bewegung keinen tatsächlichen | |
Anführer hat, zeigt, dass ihre Anhänger der derzeitigen Form politischer | |
Repräsentation zutiefst misstrauen. | |
Von Beginn an versuchten das linke wie das rechte Lager, sich die neue | |
Protestfarbe Gelb auf die Fahnen zu schreiben. Doch die Bewegung in ihrem | |
spontanen, unkontrollierbaren Wesen entwischt immer wieder – der Politik, | |
den Journalisten, Intellektuellen und Soziologen. Uns allen. | |
Jene Menschen, die auf die Champs protestieren kommen, gehen weder bei | |
Vuitton shoppen noch bei Fouquet’s dinieren. Sie wohnen nicht in den | |
umliegenden Vierteln, sondern im riesigen Speckgürtel der Metropole oder in | |
der Provinz. Nun zieht es sie genau in diese Komfortzonen des Bürgertums, | |
zu den Symbolen der Republik, von der sie sich verraten fühlen. | |
## Die verhasste Staatsmacht schwächen | |
Von dem Sommermärchen, der nationalen Euphorie über den Weltmeistertitel | |
der Équipe Tricolore, der im Juli Zehntausende Menschen an gleicher Stelle | |
versammelt hatte, ist nichts mehr zu spüren. Auch ihre Fußballhelden | |
gehören letztlich zu jenen Superreichen, die Macron für die Abschaffung der | |
Vermögensteuer dankbar sein können. Von wegen Gleichheit und | |
Brüderlichkeit. Betrachtet man Einkommensunterschiede, die | |
Arbeitslosenzahlen und die prekären Anstellungsverhältnisse vor allem | |
junger Franzosen, dann ähneln die herrschenden Verhältnisse eher einem | |
Klassenkampf von oben. | |
Wenn Gleichheit und Brüderlichkeit abhandenkommen, bleibt nur noch die | |
Freiheit. Die Freiheit, seinem Ärger Luft zu machen. Die Freiheit, auf die | |
Straße zu gehen, Flagge oder besser: Weste zu zeigen. Dass sich radikale | |
Gruppen von links und rechts in diesen Tagen auch die Freiheit | |
herausnehmen, Chaos zu stiften, wundert nicht. Für sie ist es eine | |
hervorragende Gelegenheit, die verhasste Staatsmacht zu schwächen. | |
Randalierender Mob, extremistische Gruppen – so versuchte die Regierung die | |
Ausschreitungen zu erklären. Doch schaut man sich an, wer die Hunderte | |
Festgenommenen der bisherigen Proteste sind, stellt man fest: Auch | |
Handwerker, Arbeiter, Unternehmer, Angestellte waren in die Gewaltszenen | |
verwickelt. Menschen, die nie zuvor durch besondere Radikalität aufgefallen | |
sind. | |
Der Versuch von Premierminister Édouard Philippe, den Dialog mit den | |
Gelbwesten zu suchen, war von vornherein ein schwieriges Unterfangen. Denn | |
wer vertritt hier wen? Mit welcher Legitimation? Einige Gelbwesten, die | |
sich gesprächsbereit zeigten, erhielten Morddrohungen und sagten ihre | |
Teilnahme an den Gesprächen ab, Hochspannung auch innerhalb der gelben | |
Reihen. Andere verfassten einen 42-Punkte-Plan, in dem etwa die Erhöhung | |
des Mindestlohns und der Renten, eine Mietpreisbremse, die Wiedereinführung | |
der Vermögensteuer gefordert wird. Ähnlichkeiten mit Programmen Mélenchons | |
und anderer linker Strömungen sind unübersehbar. | |
Um die Bewegung zu besänftigen, sagte die Regierung die Preiserhöhungen | |
[3][bei Kraftstoff und Strom schließlich ab]. Aber reicht dieser | |
Löschversuch in letzter Minute, um gegen den schwelenden Flächenbrand zu | |
kämpfen, der an diesem Samstag noch zerstörerischer aufflammen könnte? Und | |
bei dem mittlerweile Verletzte oder gar Tote befürchtet werden, nachdem ein | |
Vertreter der Bewegung in einem Fernsehinterview dazu aufgerufen hat, den | |
Élysée-Palast zu stürmen? | |
Was auch immer an diesem Wochenende passiert: Der Aufstand der Gelbwesten, | |
dieser schwer zu fassenden Bewegung, die viel Sympathie im ganzen Land | |
gefunden hat, führt Frankreichs Regierung die immense Unzufriedenheit vor | |
Augen, die sich über Jahre und Jahrzehnte angestaut hat. Der arrogante | |
Habitus Macrons, der nur noch im Ausland für Jugendlichkeit und Tatendrang | |
bewundert wird, hat die Wut nur noch verstärkt. Verstärkt wurde für diesen | |
Samstag dann auch das Personal der Notaufnahmen in Paris. | |
7 Dec 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-in-Frankreich/!5555026 | |
[2] /Daniel-Cohn-Bendit-ueber-Gelbwesten/!5557141 | |
[3] /Gelbwesten-Protest-in-Frankreich/!5557106 | |
## AUTOREN | |
Romy Straßenburg | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Frankreich | |
Gilets jaunes | |
Gelbwesten | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Frankreich | |
Gelbwesten | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Gelbwesten-Proteste in Paris: Kein Grund zum Danken | |
Die Gewalt ist in Frankreich nicht so sehr eskaliert wie befürchtet. Das | |
aber ist weder beruhigend noch ein Sieg der Staatsgewalt. | |
Gelbwesten-Protest in Frankreich: Monsieur Macron, so reden Sie doch! | |
Trotz Zugeständnissen der Regierung demonstrierten wieder Zehntausende. | |
Vertreter der Gelbwesten warten auf Signale von Präsident Macron. | |
Gelbwesten-Protest in Frankreich: Abschreckung funktioniert nicht | |
Frankreichs Regierung versucht mit Härte, die Proteste in Paris zu | |
verkleinern – ohne Erfolg. Selbst Klimaschützer zeigen sich nun in Gelb. | |
Protest in Frankreich: Mehr als 500 Gelbwesten verhaftet | |
In Frankreich legen sich wieder Gelbwesten mit der Regierung an. Die | |
Polizei greift rigoros durch. Auch in Belgien und den Niederlanden wird | |
protestiert. | |
Französischer Autor über die Gelbwesten: Bewusstlos reaktionär | |
Edouard Louis ist vieles: schwuler Autor, Darling der Literatursalons und | |
ein Mann, der über Homophobie hinwegsieht. Etwa bei den „Gelben Westen“. | |
SchülerInnen-Proteste in Frankreich: Repressionen wie in einer Diktatur | |
Polizeikräfte gehen äußerst brutal gegen SchülerInnen in einem Pariser | |
Vorort vor. Das belegt ein Video. Die Menschen sind schockert. | |
Daniel Cohn-Bendit über Gelbwesten: „Lasse mich nicht ins Trikot zwingen“ | |
Die Bewegung der Gelbwesten treibt die französische Regierung vor sich her. | |
Was sind das für Leute? Daniel Cohn-Bendit über rechte Kader und linke | |
Hoffnungen. | |
„Gelbe Westen“ in Frankreich: Das ist erst der Anfang | |
Was die Franzosen so auf die Barrikaden treibt, kann man in der | |
nordfranzösischen Stadt Amiens beobachten. Zu Besuch bei den Gelbwesten. |