# taz.de -- Gewerkschaften im 21. Jahrhundert: Uberisierung statt Tarifbindung | |
> Auf dem WSI-Herbstforum diskutierten Gewerkschafter über die Zukunft der | |
> Sozialpartnerschaft und die Herausforderungen der Digitalisierung. | |
Bild: Streik bei Amazon in Leipzig: 55 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland … | |
BERLIN taz | Die deutschen Gewerkschaften hätten in diesem Jahr eigentlich | |
Grund zu feiern. Vor 100 Jahren, am 15. November 1918, wurde das | |
Stinnes-Legien-Abkommen geschlossen, mit denen die Arbeitgeberverbände die | |
Gewerkschaften anerkannten und versprachen, die Arbeitsbeziehungen künftig | |
durch Tarifverträge zu regeln. Nur wenige Tage nach der deutschen | |
Novemberrevolution ging die Angst vor der Räterepublik um. Verhandlungen | |
mit Gewerkschaften erschienen den Firmenchefs als kleineres Übel. | |
Doch auf dem [1][Herbstforum des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und | |
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI)] der Hans-Böckler-Stiftung am | |
Dienstag und Mittwoch in Berlin war niemandem so recht zu feiern zumute. | |
Das Herbstforum, so etwas wie alljährliche intellektuelle Treffpunkt von | |
gewerkschaftlichen Theoretikern und Praktikern, stand diesmal unter dem | |
Motto: „Interessenvertretung der Zukunft“. Aber zunächst stand eine | |
Bestandsaufnahme an – und die fiel reichlich deprimierend aus. | |
55 Prozent der Arbeitnehmer seien heute nicht mehr tarifgebunden, führte | |
WSI-Direktorin Anke Hassel in ihrem Eingangsreferat aus, in Ostdeutschland | |
deutlich weniger als im Westen. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften | |
gingen seit 1990 zurück. In der Konsequenz der gewerkschaftlichen Schwäche, | |
Tarifverträge zu erzwingen, gebe es mehr staatliche Eingriffe wie der | |
Mindestlohn. | |
Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, | |
entwarf eine Drei-Welten-Theorie. Die erste Welt: Vor allem | |
exportorientierte Betriebe, Großindustrie mit Tarifvertrag und Betriebsrat | |
– die klassische deutsche Sozialpartnerschaft. Die zweite: mittelgroße | |
Betrieb und Zulieferer. Und die dritte: kleine Betriebe, Dienstleister, | |
ohne Tarifvertrag und Betriebsrat. | |
## Stark in der Industrie | |
Früher habe man gedacht, dass die erste Welt auf die dritte als Vorbild | |
ausstrahle, heute sei es oft umgekehrt, sagte Schroeder: Die Zahl der | |
Betriebe ohne Branchentarifvertrag und Betriebsrat sei von 2000 bis 2016 | |
von 27 auf 38 Prozent gestiegen. | |
„Die Lohnstruktur hat sich in Deutschland in den letzten 20 Jahren so | |
gespreizt wie in keinem anderen Land“, sagte Hassel. „Die Akteure werden | |
schwächer, während die Themenstellungen komplexer werden.“ Der Übergang zur | |
Dienstleistungsgesellschaft macht den Gewerkschaften Sorgen. Im | |
industriellen Sektor, etwa der Automobilbranche, sind sie hingegen noch | |
relativ stark organisiert. „In Deutschland hängt jeder siebte Arbeitsplatz | |
vom Verbrennungsmotor ab“, sagte Schroeder. | |
Soweit der Aufgalopp. Am Mittwoch ging es mit einer Art Spitzentreffen zur | |
Zukunft der Sozialpartnerschaft weiter – mit Steffen Kampeter (BDA) und | |
Reiner Hoffmann (DGB). Der DGB-Chef machte dort weiter, wo Hassel und | |
Schroeder am Vortag aufgehört hatten. Beispiel Uber: „Wir sind keine | |
Arbeitgeber, wir vermitteln nur Dienstleistungen“, sei das Argument des | |
US-Unternehmens. „Wie kann es gelingen, die Sozialpartnerschaft neu zu | |
erfinden, wenn Arbeitgeber ihre Rolle nicht mehr annehmen?“, fragte | |
Hoffmann. | |
## Kaum akzeptable Vorschläge | |
Am 21. Dezember gehe im Ruhrgebiet der Kohlebergbau zu Ende. „Dort hatten | |
wir einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 90 Prozent.“ Dabei | |
betont Hoffmann die Notwendigkeit, den digitalen Wandel zu begleiten, nicht | |
zu verweigern. Die Verteidigung des Kohlebergbaus in Großbritannien gegen | |
Zechenschließungen unter Gewerkschaftschef Arthur Scargill in den 80er | |
Jahren sei nicht erfolgreicher gewesen als der sozialpartnerschaftlich | |
abgesicherte Ausstieg in Deutschland. | |
Aber kann man den digitalen Wandel gemeinsam mit den Unternehmern | |
gestalten? Steffen Kampeter, Chef der Bundesvereinigung der Deutschen | |
Arbeitgeberverbände (BDA), lobte anfangs die Sozialpartnerschaft, um dann | |
im Detail für Gewerkschaften kaum akzeptable Vorschläge zu präsentieren: | |
Öffnungsklauseln für betriebliche Vereinbarungen in Flächentarifverträgen | |
etwa. Oder, noch schwieriger: Firmen sollten sich aus Tarifverträgen | |
„Module“ aussuchen können. | |
Man hoffe, in zehn Jahren sagen zu können, die „Digitalisierung | |
sozialpartnerschaftlich gestaltet zu haben“, sagte Kampeter. Gleichzeitig | |
wunderte er sich über die Bereitschaft der Gewerkschaften, nun auch | |
Solo-Selbständige zu vertreten – solche wie die Uber-Fahrer. | |
## Teil des Establishments | |
Bereits am Mittwoch hatte der Politikwissenschaftler Schroeder eine | |
„konsequente Mitgliederorientierung“ gefordert, um den Bedeutungsverlust | |
der Gewerkschaften zu stoppen. Einen „Königsweg“ gebe es dafür aber nicht. | |
Skeptischer war Dieter Sauer vom Institut für sozialwissenschaftliche | |
Forschung München, der in einem Panel seine Studie über die Akzeptanz von | |
Rechtspopulismus unter Gewerkschaftern und Beschäftigten präsentierte | |
hatte. | |
Gewerkschafter würden zunehmend selbst als Teil des Establishments gesehen. | |
„Da kommt der Gewerkschaftssekretär, der hat keine Ahnung“, sei eine | |
Äußerung in den Betrieben. Das verstärke sich, „wenn | |
Verhandlungskompromisse von Teilen der Belegschaften abgelehnt werden“, | |
sagte Sauer. | |
Der Sozialwissenschaftler forderte verstärkte direkte Demokratie in der | |
betrieblichen Mitbestimmung. Wie das mit der Digitalisierung zusammengehen | |
soll, blieb offen. Vielleicht ist der ökonomische Wandel zu schnell, als | |
dass die ohnehin unter Druck stehenden Gewerkschaften angemessen reagieren | |
können. | |
21 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.boeckler.de/veranstaltung_wsi_114317.htm | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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