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# taz.de -- Landwirtschaft und Tierzucht: Der Pabst und seine Töchter
> Wie ein Bauer aus Niedersachsen mit dem Bullen Pabst Ideal die deutsche
> Milchwirtschaft für immer veränderte. Die Geschichte einer Zucht.
Bild: Bauer Beinsen besamt die Kuh Diana, eine Nachfahrin von Pabst Ideal
Immensen/Verden/Melle/Futterkamp/Berlin taz | Während das Sperma im
Wasserbad warm wird, schiebt Hans-Henning Beinsen die Besamungspistole
durch den Kragen unter sein Hemd und lässt sie da stecken. In ein paar
Minuten will er die lange, dünne Metallspritze in die Gebärmutter von Diana
einführen.
Es ist ein kalter Herbstmorgen. Beinsens Haut wärmt den Edelstahl vor, und
auf diese Weise, so denkt er, wird es für die Kuh ein wenig angenehmer. Das
macht nicht jeder so, aber Beinsen hat sich angewöhnt, die Dinge auf seine
Art zu tun.
Hans-Henning Beinsen, 53, ist Milchbauer in Immensen, Niedersachsen.
Gestern Nachmittag trank er einen Kaffee vor seinem Haus, als er sah, wie
eine andere Kuh von hinten auf Diana aufsprang, so wie ein Bulle es tut.
Diana blieb stehen. Duldungsverhalten nennt man das, ein klares Zeichen,
dass die Kuh brünstig ist.
Deswegen hat Beinsen ein Plastikröhrchen mit Bullensperma aus einer
Metallkanne genommen. Dort lagerte es in flüssigem Stickstoff bei minus 196
Grad. Gleich, sobald das Sperma im Wasserbad auf Körpertemperatur erhitzt
ist, kommt es in die vorgewärmte Pistole.
## 10.000 Jahre Zuchtgeschichte
Beinsen will heute seine Kuh Diana besamen. Aber er macht noch etwas: Er
züchtet. Als vor 10.000 Jahren Menschen im Nahen Osten die ersten
Auerochsen einpferchten – hochbeinige Tiere mit spitz nach vorn stehenden
Hörnern –, da begannen sie auch zu steuern, welche Tiere sich paaren
durften. Die Rinder veränderten sich. Und die Menschen wurden sich immer
sicherer, dass sie diese Veränderungen kontrollieren können. Dass sie auf
lange Sicht ein Wesen nach ihren Wünschen formen können.
Was ist eine schöne Kuh? Was muss sie leisten? Und wer bestimmt darüber?
Wenn man diesen Fragen nachgeht, erfährt man eine Menge über die moderne
Landwirtschaft. Wer von ihr profitiert, wer zu den Verlierern zählt. Und
warum es so schwer ist, etwas daran zu ändern.
Diana gehört zur D-Linie. Auch ihre Mutter und Großmutter hatten Namen mit
diesem Anfangsbuchstaben. Die F-Linie ist die älteste in dem Betrieb, sie
lässt sich bis 1902 zurückverfolgen. Hans-Henning Beinsen selbst gehört zur
H-Linie, könnte man sagen. Sein Vater heißt Henning, sein Großvater hieß
Heinrich. Heinrich Beinsen war einer der Männer, die die Milchkuhzucht in
Deutschland revolutionierten: 1964 mit dem Bullen Pabst Ideal, den sie von
einer Reise aus den USA mitbrachten.
Es gibt ein einziges Foto der Reisegesellschaft von damals, fünf lächelnde
Herren in weiten Anzügen. Nur einer von ihnen lebt heute noch: Gustav
Wilke. Der 87-Jährige war damals Mitarbeiter der Osnabrücker
Herdbuchgesellschaft, eines großen Zuchtverbandes. Wilke hat einen dicken
Ordner mit Urkunden, vergilbten Zeitungsartikeln und handschriftlichen
Notizen. Anhand von Dokumenten und dem, was Wilke und Beinsen erzählen,
lässt sich die Geschichte von Pabst Ideal rekonstruieren, vom ersten
amerikanischen Bullen, der in Deutschland unzählige Töchter zeugen sollte.
## Der Pabst
Das Zuchtziel für Kühe im Nachkriegsdeutschland lautete: Zweinutzungsrind.
Die Kuh sollte Milch liefern und ordentlich Fleisch ansetzen. Weil das
Kraftfutter knapp war, sollten die Kühe aber nicht zu groß sein, höchstens
132 Zentimeter Schulterhöhe. Unter den Züchtern dominierte die Philosophie
des Formalismus. Eine wertvolle Kuh war die Tochter eines wertvollen
Bullen. Und den Wert eines Bullen bestimmte sein Aussehen: sein breites
Tafelbecken, seine runde, gedrungene Erscheinung mit vielen sichtbaren
Muskeln.
Heinrich Beinsen bewirtschaftete den Familienbetrieb in Immensen seit den
vierziger Jahren – Kopfsteinpflaster im Hof, Backsteinscheunen, 30 Kühe,
ein paar Ackerflächen. 52 Milchviehbetriebe gab es Anfang der Sechziger im
Dorf, einige davon hatten sich zu einer Bullenhaltungsgenossenschaft
zusammengetan. Sie teilten sich einen Bullen, der auf Beinsens Hof stand.
Die Bauern führten ihre Kühe am Strick dorthin und ließen sie decken.
Ausgesucht wurden die Bullen von der Herdbuchgesellschaft, dem
Zuchtverband. Der verdiente sein Geld mit Gebühren für die Zulassung von
Bullen und mit deren Verkauf. Für die anderen Landwirte, die weniger
ambitionierten, musste die Gemeinde einen Bullen kaufen. Sie nahm einen
günstigen.
Beinsen wunderte sich: Die Bauern, deren Kühe vom Gemeindebullen gedeckt
wurden, stellen volle Kannen vor ihre Höfe; und wir haben schöne Kühe, mit
denen wir zu Ausstellungen gehen, aber die Milch wird immer weniger.
Seine Schlussfolgerung: Der Bulle ist nur Mittel zum Zweck; wie er
aussieht, ist egal. Beinsen achtete von da an darauf, wo der Bulle herkam –
die Mutter, die Großmutter. Er reiste umher und sah sich Herden an, kaufte
ein Kalb. Als das Kalb zum Bullen herangewachsen war, schüttelten sie in
der Gegend den Kopf über sein Aussehen. Viel zu schmal. Aber die Töchter
dieses schmalen Bullen gewannen Preise.
## „Wir müssen nach Amerika“
All das reichte damals schon aus, um Heinrich Beinsen in Verruf zu bringen.
Es ging auch ums Geschäft: Die Zuchtverbände lebten vom Verkauf schöner
Bullen. Beinsen werde die Zucht in der Region noch ruinieren, munkelte man.
Aber er hatte einen Verbündeten: Gunther Rath, ein Tierarzt der
Tierärztlichen Hochschule Hannover, der mit Geld aus dem Marshallplan die
künstliche Besamung in Niedersachsen etablieren sollte.
Mit der Post kamen Fachzeitschriften und Bullenkataloge aus Übersee. „Wir
müssen nach Amerika“, sagte Gunther Rath 1964. Was es da für Tiere gab!
Holstein-Friesian, eine Rasse, die die Amerikaner aus den Rindern gezüchtet
hatten, die europäische Siedler hundert Jahre zuvor auf ihren Schiffen
mitgebracht hatten. Sie waren deutlich größer als die Tiere in
Norddeutschland, hatten festere Euter, gaben mehr Milch.
Giraffen seien das, hieß es auf deutschen Züchtertreffen. Mit fettarmer
Milch, dünn wie Wasser.
## 153 Zentimeter, 1.150 Kilogramm
Heinrich Beinsen zögerte. Er hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen.
Schließlich baten er und Rath einen Mitarbeiter der Osnabrücker
Herdbuchgesellschaft, eine Reise zu organisieren: Gustav Wilke. Er hatte in
Madison studiert und sprach Englisch. Ein Schnapsfabrikant aus der Gegend,
der Hobbyzüchter war, wollte auch mit. Und den Chef des Zuchtverbands aus
Hannover luden sie ein.
In Wisconsin, dem Milchstaat der USA, besuchten die Männer die Pabst-Farm.
Der Betrieb war berühmt für seine Kühe. Nun sollte die ganze Herde
versteigert werden. Heinrich Beinsen und die anderen entdeckten einen
Bullen, schon drei Jahre alt: Pabst Ideal, 153 Zentimeter hoch, 1.150
Kilogramm schwer. Erste Töchter von ihm standen auf dem Hof, und Beinsen
verguckte sich: diese Euteransätze, diese Beine, diese guten Klauen!
Ein Bekannter sollte auf der Aktion in einigen Wochen mitbieten. Am 12.
Oktober kam der Anruf: Pabst Ideal wurde für stolze 7.000 Dollar
ersteigert, das entsprach 28.000 Mark. Der Bulle wurde auf ein Schiff
verladen. Ziel: Hamburger Hafen.
In Hamburg wartete der Zoll. Nur Zuchttiere durften nach Deutschland
eingeführt werden. Seit der NS-Zeit gab es in Deutschland ein Zuchtgesetz –
es regelte genau, dass Bullen gekört, also zur Zucht zugelassen und in ein
Herdbuch eingetragen werden mussten. Pabst Ideal hatte weder eine
Körurkunde noch eine Herdbuchnummer, folglich war er kein Zuchttier. Der
Zoll wollte ihn zum Schlachter schicken.
Gunther Rath, der Tierarzt aus Hannover, hatte einen Bullenpfleger
geschickt, um Pabst Ideal abzuholen. „Der hat viel Geld gekostet, der kann
doch nicht geschlachtet werden“, sagte der Bullenpfleger und schob den
Zollbeamten zur Seite. Er führte den Bullen auf den Viehwagen. Der Fahrer
fuhr los, der Zoll verständigte die Polizei. Ein Einsatzwagen raste
hinterher, hielt den Wagen auf der Autobahn an. Bei Gunther Rath klingelte
das Telefon, bei Gustav Wilke auch. Schließlich schafften sie es, Raths
Vorgesetzten, Professor der Tierärztlichen Hochschule, mit der Polizei zu
verbinden. Das habe alles seine Richtigkeit! Ein Versuchsobjekt für die
Hochschule!
## Körurkunde und Herdbuch
Der Professor stellte Pabst Ideal die Körurkunde aus. Gustav Wilke redete
mit seinem Chef, und Pabst Ideal bekam eine Herdbuchnummer: 15511. Damit
war der Bulle vor dem Schlachter gerettet.
Die guten Euter und die gestiegene Milchleistung seiner Nachkommen
überzeugten die Bäuerinnen und Bauern. Die Rasse aus Amerika setzte sich
durch. 1975 liefen auf einer Schau 128 Pabst-Ideal-Töchter durch den Ring.
Heute sind die Holstein-Friesians die wichtigste Milchkuhrasse weltweit.
Mehr als fünf Millionen dieser Rinder leben in deutschen Ställen. In den
Sechzigern gab eine durchschnittliche Kuh knapp 4.000 Liter Milch im Jahr,
heute sind es knapp 8.000. Noch stärker veränderte sich die Leistung der
Spitzenkühe. Sie können heute 15.000, teilweise 20.000 Liter geben. Bauern
können also mit weniger Tieren mehr Milch produzieren. Sie brauchen dafür
weniger Platz und produzieren weniger Abfälle.
Klingt erst mal gut.
## Der Kritiker
Anfang November hat die Tierärztekammer Berlin zu einer Fortbildung
geladen, Titel: „Die Milchkuh – Hochleistung am Limit? § 11b
Tierschutzgesetz“. Paragraf 11b im Tierschutzgesetz ist das Verbot von
Qualzucht. Es ist verboten, Tiere zu züchten, bei denen absehbar ist, dass
sie nur unter Schmerzen gehalten werden können. Die Tierärzte wollen an
diesem Tag diskutieren, ob die Hochleistungszucht von Kühen darunterfällt.
Sie haben Befürworter und Gegner dieser Argumentation eingeladen.
Ein Tierzuchtprofessor aus Gießen präsentiert die moderne Milchkuh als
Erfolgsstory. Er klickt sich während seiner Präsentation durch die
Geschichte der Zucht, ein Foto von Pabst Ideal erscheint, ein Bild des
Flugzeugs, das wenig später noch mehr Rinder aus den USA brachte. Gerade
erst, erzählt der Professor, habe er in der Fachzeitschrift Elite gelesen,
dass es in zehn Jahren gesunde Kühe geben könnte, die 40.000 Liter im Jahr
gäben. Wenn sich denn das Gen-Editing durchsetze, mit dem die DNA der Kuh
im Labor umgebaut wird. Man müsse nur diskutieren, ob man das wolle.
Er schaut mit einem jungenhaften Grinsen ins Publikum. Dann sagt er: „Herr
Martens schüttelt den Kopf.“
Holger Martens sitzt in der dritten Reihe, ein großer Mann mit grauem Haar.
Für seinen Vortrag legt er das Jackett ab und krempelt die Ärmel hoch.
## Kranke Kühe
Dann präsentiert er seine Zahlen: Zwischen 1970 und 2010 stieg der Anteil
der Milchkühe, die aufgrund von Erkrankungen getötet werden mussten, von 42
auf 54 Prozent. Zwischen 2010 und 2017 waren diese Zahlen in etwa gleich
geblieben.
Eine Kuh kann 20 Jahre alt werden. Durchschnittlich wird sie allerdings nur
etwas älter als fünf. Dabei kostet eine Kuh, bis sie im Alter von zwei
Jahren das erste Mal ein Kalb bekommt und Milch gibt, die Bäuerin
eigentlich nur Geld. Die Hälfte der Kühe, die ausrangiert werden, werden
nach dem ersten oder zweiten Kalb geschlachtet – also bevor sie das Geld
erwirtschaften, das der Bauer in ihre Aufzucht gesteckt hat. Und bevor sie
ihre bestmögliche Milchleistung erreichen.
Die Gründe, warum Kühe zum Schlachter müssen, sind meist
Fruchtbarkeitsstörungen, Euterentzündungen und Klauenkrankheiten. Man fasst
diese Probleme in der Tiermedizin heute als „Produktionskrankheiten“
zusammen – die Kühe werden krank, weil sie zu viel arbeiten.
Martens ist emeritierter Professor für Tierphysiologie. Bevor er
Wissenschaftler wurde, war er Tierarzt in Schleswig-Holstein und besamte
Kühe. Das war 1970, alle Bauern fragten ihn damals nach Pabst-Ideal-Samen.
Der Bulle war zur Legende geworden. Als Martens in die Wissenschaft ging,
beobachtete man gerade, wie die Milchleistung der Kühe sich rasend
verbesserte. Martens interessierte: Wie machen Kühe das? Wie können sie
immer mehr Milch geben?
## „Was haben wir da gezüchtet?“
Die Produktion von Milch ist eine enorme Leistung. Für jeden Liter muss
eine Kuh 500 Liter Blut durch ihr Euter pumpen. Während sie dasteht und
frisst, während sie liegt und kaut, vollbringt ihr Körper Leistungen, die
mit denen eines Menschen beim Marathon vergleichbar sind. Deswegen
behandeln Haltungsprofis ihre Kühe auch wie Leistungssportler: Rekorde sind
nur möglich, wenn jeder Parameter genau abgestimmt ist.
Kühe können mit ihren vier Mägen für den Menschen unbekömmliches Gras zu
wertvollem Eiweiß verarbeiten. Ein Wunder der Natur. Gibt man der Kuh aber
energiereicheres Futter, also Mais, Weizen, Sojaschrot, gibt sie mehr
Milch. Allerdings verbraucht sie dann auch immer mehr Ressourcen.
Als Martens sich die Milchproduktion genauer anschaute, bemerkte er aber
etwas anderes: Kühe, die nach der Geburt besonders viel Milch geben,
fressen zu wenig. Sie geben mehr Energie ab, als sie durch Futter
aufnehmen. Die Kuh schmilzt ihre Fettreserven ein, für ihr Kalb. Nur: Das
Kalb wäre irgendwann satt. Die Maschine, die am Euter saugt, pumpt immer
weiter. Die Kuh magert ab. Und wird häufiger krank.
Martens hat dutzende Studien zu diesem Thema ausgewertet. Er ist der
Meinung: Durch die Zucht wurden die Tiere bevorzugt, die sich am meisten
ausbeuten.
„Was haben wir da gezüchtet?“, ruft Martens in den Konferenzraum.
## Kühe mit Transponder
Er hält seit Jahren Vorträge wie diesen. Einige kritisieren, er sei stehen
geblieben in seiner Kritik. Anerkenne nicht, dass es doch mittlerweile
Konsens sei, dass man langlebigere Kühe brauche, gesündere, dass das heute
jeder Verband unterschriebe. Dass es Herden gebe mit gesunden Tieren, die
viel Milch geben.
Und ja, es gibt sie. Betriebe wie das Lehr- und Versuchszentrum Futterkamp
in Schleswig-Holstein. Hier werden Auszubildende geschult und Versuche
gemacht. Diesen Sommer etwa: Ist Weidehaltung eigentlich gut für Kühe?
Hier lebt eine der bestdokumentierten Herden Deutschlands. Sensortechnik
misst die Wiederkaubewegungen. Wiegetröge erfassen das Gewicht, bevor und
nachdem sich eine Kuh mit ihrem Transponder ins Fresssystem eingecheckt
hat. So wird ermittelt, wie viele Kilo die Kuh zu sich genommen hat.
Automaten teilen den Tieren individuelle Kraftfuttermengen zu. Wenn eine
Kuh kurz vor dem Kalben steht, bekommt sie einen kleinen Gegenstand in die
Vagina, der herausfällt, sobald das Kalb ihn nach hinten schiebt. Eine SMS
informiert dann den Herdenmanager darüber, dass er nach ihr schauen sollte.
In Futterkamp ist schon mancher Kuhtrend entstanden. Eine neue Idee kann
man im Kälberstall betrachten: ein wuscheliges Kalb, dessen schwarze
Flecken gräulich schimmern. Die Mutter ist eine der Milchkühe aus der
Herde, der Vater ist ein Weißblauer Belgier. „Ich möchte gar keine Werbung
für die Rasse machen“, sagt Ole Lamp, Leiter der Rinderabteilung.
## Eine Spezialisierungsgeschichte
Die Weißblauen Belgier sind ein Beispiel für eine Zucht, bei der sich viele
Leute einig sind, dass sie zu weit gegangen ist. Die Tiere sehen aus wie
mit Anabolika vollgepumpte Bodybuilder. Muskelberge, unter denen das Rind
fast verschwindet. Die Züchter haben sich einen Gendefekt zunutze gemacht:
Ein Hormon, das das Muskelwachstum hemmt, fehlt den Rindern. Eine Folge
ist, dass die Tiere nicht in der Lage sind, ihre Kälber auf natürlichem
Wege zur Welt zu bringen. Auf den großen Mastbetrieben in Belgien werden
alle Kälber per Kaiserschnitt geholt.
Die Leistungssteigerung der Milchkühe ist eine Spezialisierungsgeschichte.
Vom Doppelnutzungsrind hat man sich verabschiedet, es gibt heute
Fleischrassen und Milchprofis wie die Holstein-Friesians. Die männlichen
Kälber der Holstein-Friesians können aber keine Milchkühe werden. Sie zu
mästen ist ein mageres Geschäft, weil sie im Vergleich zu Fleischrindern
nicht viel Muskelmasse entwickeln. Sie sind ein Restprodukt der
Milcherzeugung.
In Futterkamp werden deswegen die Milchkühe, die nicht für die Zucht
taugen, mit Samen von Weißblauen Belgiern besamt. So bekommt man
wertvollere Tiere. Die Fleischqualität der grau schimmernden Kälber sei
vorzüglich, sagt Lamp. Auch hier vor Ort in der Kantine wird das Fleisch
serviert.
Die Milchprofis liegen nebenan im offenen Kuhstall und käuen wieder. Ihre
Hintern ragen über das Ende der Boxen hinaus. Auch das ist eine Folge der
Zucht, die Kühe werden immer größer. Eigentlich müssten sie den Stall
umbauen wie viele Bauern mit älteren Gebäuden.
## Immer weniger Milchbauern
Aber neue Ställe bedeuten neue Kredite, und neue Kredite bedeuten, dass
große Summen vom Konto verschwinden, auch in Zeiten, in denen der
Milchpreis niedrig ist. Spezialfutter, durch das die Kühe die nötige
Energie bekommen, kostet mehr Geld als Heu. Auch der Tierarzt ist teuer –
einige Gründe dafür, warum die Bauern nicht reich geworden sind in den
vergangenen Jahrzehnten. Und warum es immer weniger von ihnen gibt. In
Immensen etwa, bei der Bauernfamilie Beinsen, sind von den 52 Milchkuhhöfen
aus den sechziger Jahren noch drei übrig.
Halten kann sich nur, wer immer mehr Milch erwirtschaftet. Schuld daran
sind auch der chronisch niedrige Milchpreis und das System, durch das er
entsteht. Die Bauern erhalten keinen festen Betrag, sondern erfahren einige
Wochen nachdem ihre Milch abgeholt wurde, wie viel sie für sie bekommen.
Auch der Weltmarkt bestimmt da mit: Wenn etwa Indien mehr Milchpulver
produziert oder China mehr aufkauft. Molkereien verhandeln mit dem
Einzelhandel, große Discounter haben viel Marktmacht. Die Bauern kriegen,
was übrig bleibt. 40 Cent, 34 Cent, 22 Cent.
Der Betrieb in Futterkamp rechnet sich. Die durchschnittliche Kuh gibt hier
fast 11.000 Liter Milch im Jahr. Das Personal ist hochprofessionell.
Ole Lamp sagt: „Man kann mit einem Golf Diesel älteren Baujahrs mit 50 auf
der Landstraße auch mal Schlangenlinien fahren.“ Er reißt das gedachte
Lenkrad in seiner Hand nach links, nach rechts und wieder nach links. „Mit
einem Ferrari bei Tempo 350 auf der Rennstrecke geht das nicht.“ Lamp
managt Ferrari-Kühe. Nur ein guter Fahrer kann sie in der Spur halten.
Dahinter steht eine wichtige Frage: Kann ein System funktionieren, in dem
jeder Autofahrer ein Formel-1-Profi werden muss? Sollte es nicht die Regel
sein, dass eine Kuh gesund bleibt – statt die Ausnahme?
„Klar wollen die Bauern eine robuste Kuh“, sagt Ole Lamp . Und wirklich:
Alle Bauern bei dieser Recherche sagen das. Warum geht das Rennen um die
höchste Milchleistung dann trotzdem immer weiter?
## Die Show
„Mjöhhh.“ Sina streckt den Hals nach vorne und ruft in den Ring hinein. Der
Mann, der sie am Strick hält, streichelt ihr den Kopf. Gleich ist sie dran.
Nummer 216, ein Zettel mit der Zahl klebt auf ihrer Hüfte.
In der Auktionshalle in Verden wird heute Zuchtvieh versteigert. Bullen und
weibliche Jungtiere, die ihr erstes Kalb bekommen haben. So wie Sina, die
Henning Beinsen heute Morgen um fünf zu Hause in Immensen aufgeladen hat.
Unten auf einem grünen Anhänger im Sand steht der Auktionator. Oben auf
einem der Plastiksitze in den Reihen sitzt Henning Beinsen. Er hat die
gleichen kräftigen Unterarme wie sein Sohn Hans-Henning, der heute zu Hause
geblieben ist.
Seit er ein Kind war, geht Henning Beinsen auf Auktionen, mittlerweile ist
er 74 Jahre alt. Um in den Auktionskatalog zu schauen, setzt er die
Lesebrille auf; wenn er sich umdreht, um mit seinen Bekannten zu feixen,
setzt er sie ab. Es ist eine Welt, in der viele Gummistiefel und Overalls
tragen, aber später bekommen die Landwirte auch die Videobotschaft des
Auktionators über WhatsApp aufs Smartphone, inklusive Kuh-Emoji.
Als der Auktionator Sinas Nummer aufruft, geht der Vorführer in den Sand
der Manege. Sina ist etwas nervös, sie wird schneller, tänzelt.
„Es geht los mit 13.“ 1.300 Euro. Mindestens so viel hat Henning Beinsen
die Aufzucht des Tieres bisher gekostet.
Zuerst hebt niemand die Hand.
„Wer gibt mir dreizehn? Die Glückszahl.“ Sina läuft im Ring hin und her,
durch die weißen Stellen ihres Fells schimmert die rosa Haut. Beinsen und
sein Sohn haben die Kuh vorbereitet. Sie haben sie mit Seifenwasser
gewaschen, ihr Fell geschoren und die Haare an ihrem Euter noch kürzer
getrimmt, damit die Adern gut zu sehen sind. Die Haare am Ende des
Schwanzes haben sie lang gelassen, gebürstet und toupiert, damit sie
buschiger aussehen. So sind die Schönheitsnormen im Ring.
## 1.500 Euro für Sina
„Dreizehnfünfzig wieder rechts, und vierzehn, vierzehn geradeaus. Das
Rennen ist eröffnet. Vierzehn. Vierzehnfünfzig einmal. Vierzehnfünfzig
zweimal. Und! Fünfzehn. Und Tausendfünfhundert zum Ersten, Zweiten. Und!
Fünfzehn zum aller…“ Der Auktionshammer knallt.
1.500, das hatte Henning Beinsen zuvor geschätzt, würde seine Sina bringen.
Sie ist eine durchschnittliche Kuh, unscheinbar, ihre zwei hinteren Zitzen
sind ein bisschen schief. Der Vorführer hätte sich auch ein wenig mehr Mühe
geben können, sie ordentlich mit gehobenem Kopf durch den Ring führen
sollen. „100 Euro Unterschied sind da drin.“
Beinsen blickt nach unten zu denen, die am meisten mitbieten. Sie sitzen an
einem Holztisch, direkt unten im Sand der Arena. Wenn sie bieten, ticken
sie nur leicht mit dem Kugelschreiber. „Ohne die würde es die Auktion hier
nicht mehr geben.“ Es sind die Importeure, Viehhändler aus Italien und
Polen.
Die Zucht auf Ausstellungserfolg entstand in Kanada und den USA. Einige
Verkäufer merkten bald, dass Tiere, die im Ring gut wirken, höhere Preise
erzielen. Ein größeres Tier überstrahlt ein kleineres. Ein unscheinbares
Tier mit guter Mutter bringt weniger als eins, das optisch glänzt. So
begann die sogenannte Typzucht, die Schauzucht.
Henning Beinsen, der früher viel mit seinen Kühen auf Ausstellungen
gefahren ist, hat dafür heute nicht mehr viel übrig. „Wir haben das von den
USA übernommen, dieses übertriebene Rausbringen der Tiere.“ Vor großen
Shows kommen sie in Trainingslager mit besonderer Fütterung, Kuhstylisten
perfektionieren mit Farbsprays und Ölen den Glanz des Fells. „Das hat mit
dem Alltag im Stall nicht mehr viel zu tun.“
## Wie eine Geheimsprache
Auf seinen Knien hat Henning Beinsen den Auktionskatalog liegen.
Gewissenhaft notiert er sich Preise, streicht verkaufte Kühe durch. Dort
abgebildet sind allerdings keine Fotos von schönen Kühen, sondern Zahlen,
die wie eine Geheimsprache wirken: RZM 123. RZE 117. RZS 117 . RZN 119. RZG
130.
Um zu messen, wie gut eine Kuh ist, wurden Zahlen eingeführt, Zuchtwerte.
Für Eutergesundheit, Milchleistung, Fruchtbarkeit steht jeweils eine Zahl
hinter dem Bullen. Der Bauer sieht in seinem Katalog nur die Werte. Ein
paar Hundert Meter entfernt von der Auktionshalle in Verden steht das
große Rechenzentrum für Deutschlands Landwirtschaft. Hier werden die Zahlen
hinter den Rankings berechnet – wer wo platziert ist, entscheidet über
Zehntausende Euro.
Je höher die Werte, desto weiter oben stehen die Bullen in den Tabellen,
desto teurer kann man ihr Sperma anbieten. Dass jede neue Generation Kühe
besser sein soll als die vorherige, nennt man Zuchtfortschritt. Und der
geht immer schneller voran.
Früher musste man warten, bis eine gewisse Zahl Töchter eines Bullen
geboren und ausgewachsen waren, um zu sehen, ob er gute Kühe macht. Heute
entnimmt man den Jungbullen Blut und macht einen Gentest. Danach kann man
schätzen, wie viel Milch seine Nachkommen geben werden und ob sie gesund
sein werden. Man muss nicht mehr warten.
## Leihmutterschaft bei Kühen
Bei den weiblichen Tieren sind Techniken wie der Embryotransfer entstanden.
Besonders wertvolle Kühe werden dafür hormonell behandelt, damit mehrere
Eizellen gleichzeitig reif werden. Die Eizellen werden entnommen,
befruchtet und jede einer Leihmutterkuh eingesetzt. So kann eine Superkuh
gleichzeitig mehrere Kälber bekommen.
Für die allergrößte Mehrheit der Landwirte spielen solche Verfahren keine
Rolle. Sie sind viel zu teuer. Nur die wenigen Betriebe, die ganz oben
mitspielen, können sie sich leisten. Deren Kühe gewinnen Preise auf
Schauen, die Kälber werden teuer verkauft – weil sie vielleicht als Mutter
eines Bullen taugen, mit dessen Sperma wiederum viel Geld verdient werden
kann.
Holger Martens, der emeritierte Professor aus Berlin, sagt, er nehme das
Wort Zuchtfortschritt nicht mehr in den Mund. Er könne nicht sehen, worin
der Fortschritt bestehe.
## Was ist Fortschritt?
Ob etwas als Fortschritt gilt, als Leistung, als Schönheit, das kommt
darauf an, mit welchem Maßband man misst. Wer etwas ändern möchte, muss
also bei den Regeln anfangen. Es war, genau betrachtet, nämlich nicht Pabst
Ideal, mit dem das Leitbild einer Kuh entstand, die möglichst früh
möglichst viel Milch geben sollte. Seine Töchter waren keine von der Sorte,
die schon im ersten Jahr keine Kraft mehr hatten.
Im Gegenteil, mit ihm kamen die ersten 100.000-Liter-Kühe nach
Deutschland. Also Kühe, die in ihrem Leben 100.000 Liter Milch und mehr
gegeben haben. Die also nicht kurze Hochleistung bringen, sondern die lange
durchhalten. Und über ihr ganzes Kuhleben gerechnet erst zum Champion
werden.
Erst mit der Schauzucht, den Rankings und den immer schnelleren
Zuchtfortschritten wurde die Marathonkuh von der Sprintkuh abgelöst.
Schon länger haben sich Verbände gegründet, die einen anderen Weg gehen
wollen, deren Ziel langlebigere Kühe sind. Gerade planen sie, sich zu
verbünden. Ein wichtiger Ansatz: Die Bauern und Bäuerinnen sollen sich die
Zucht zurückholen.
## Ohne Algorithmus
Hans-Henning Beinsen besamt nicht alle seine Kühe mit der Pistole. In zwei
Gruppen seiner Herde laufen Bullen mit. Das ist eher ungewöhnlich.
Noch ungewöhnlicher ist, dass er diese Bullen nicht auf Auktionen kauft.
Sondern selbst großzieht. Bullenkälber seiner besten Kühe.
Beinsen vertraut lieber diesem Wissen als den Algorithmen der
Anpaarungsprogramme, die in vielen Betrieben bestimmen, welcher Bulle zu
welcher Kuh passt. Oft sind die Anbieter dieser Anpaarungsprogramme auch
die Verkäufer des Bullenspermas.
Mit solcher Software gebe man die Entscheidung aus der Hand, argumentiert
Hans-Henning Beinsen.
Er will nicht weiter wachsen. Dann wäre die Arbeit nicht mehr zu schaffen,
er müsste Manager sein, delegieren, koordinieren. Er kann aber nicht so gut
mit Menschen, besser mit Kühen. Er macht das Ganze hier lediglich mit
seinem Vater und einer Hilfskraft.
Der Mitarbeiter ist allerdings seit April krank. Seitdem hat Hans-Henning
Beinsen keinen Tag freigehabt, auch keinen Sonntag. Morgens um halb sechs
geht es los, abends um sieben ist Feierabend. Melken, Futter ranschieben,
ausmisten.
Wenn man ihn fragt, ob er ein glücklicher Bauer sei, sagt er: „Ja.
Irgendwie schon, ne?“
## Die Zukunft
Hans-Henning Beinsen weiß noch, dass er Dianas Ururgroßmutter als Kalb auf
einer Auktion gekauft hat. Dass die erste Tochter dieses Kalbs mal am
Labmagen operiert werden musste. Er habe jede Kuh vor Augen, sagt er.
Wenn er seine Kühe betrachtet, sagt er: „Solche Kühe wie damals, die
Töchter von Pabst Ideal, das ist eigentlich immer noch mein Ziel.“ Es
klingt nicht nach Zuchtfortschritt, aber vielleicht ist es genau deswegen
einer.
Beinsen, dem das hintere Ende der langen Besamungsspritze noch aus dem Hemd
ragt, hat jetzt im Stall Diana gefunden. Sie steht ganz ruhig, als er sie
am Hinterteil berührt, Duldungsverhalten, sie wartet auf den Bullen. Oben
am Becken hat sie eine Hautabschürfung von einer Kuh, die auf sie
aufgesprungen ist.
Beinsen drückt seine Hand durch Dianas After, die Finger wie eine
Pfeilspitze zusammengeführt. Er fühlt durch den Plastikhandschuh die Wärme
des Darms, jede Kontraktion der Muskeln und wie sie sich entspannen. Dann
kann er durch die untere Darmwand den Gebärmutterhals ertasten.
## Hand im Darm
Nun führt er mit der rechten Hand die Besamungspistole in Dianas Scheide
ein. Er hat das schon oft gemacht: Die Hand im Darm schiebt den
Gebärmutterhals ein Stückchen nach hinten, damit sich die Falten an den
Scheidenwänden glätten und die Spritze weiterkann. Die Spritze darf nicht
stoßen, sondern nur da entlanggleiten, wo sie freie Bahn hat.
Falls Diana tragend wird und eine Tochter bekommt, wird die in drei Jahren
selbst ihr erstes Kalb bekommen.
Wenn die beiden sich wiedersehen sollten, eines Tages im Kuhstall, dann ist
das ein kleiner Erfolg. Es hieße, dass Diana alt geworden ist und noch im
Stall steht. Es hieße, dass ihre Tochter die ersten anstrengenden Wochen
nach der Geburt gesund überstanden hat. Es hieße, dass Hans-Henning Beinsen
weitergemacht hat, dass es seinen Hof in Immensen noch gibt.
Hans-Henning Beinsen, den linken Unterarm im Darm von Diana, schaut
konzentriert ins Leere. Er sieht gerade mit seinen Händen. Dann drückt er
ab.
1 Dec 2018
## AUTOREN
Luise Strothmann
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Landwirtschaft
Tiere
Milch
Kühe
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Bio-Landwirtschaft
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