| # taz.de -- Essay Britische Kolonialnostalgie: Kein neues Empire | |
| > Im Diskurs um den Brexit verraten die Argumente der Brexiteers vor allem | |
| > eins: ihre kolonialen Denkmuster und Weltherrschaftsfantasien. | |
| Bild: Der Brexit hat gezeigt, wie gespalten die britische Gesellschaft ist | |
| Für mich als Pendlerin zwischen London und Berlin ist das Polit-Drama rund | |
| um den Brexit ganz großes Kino. Es wurde allerdings auch immer schwieriger, | |
| bei all den unterschiedlichen Lagern und Interessen noch den Überblick zu | |
| behalten. Nach mehr als zwei Jahren angespannter Verhandlungen und | |
| politischer Turbulenzen hat die britische Premierministerin Theresa May nun | |
| endlich einen Entwurf für ein Ausstiegsabkommen mit den | |
| EU-Verhandlungsführern [1][Entwurf für ein Ausstiegsabkommen mit den | |
| EU-Verhandlungsführern] vorgelegt. | |
| In London konnte ich in der Woche der Ankündigung das Drama, das sich nach | |
| dem Ausbruch dieser Nachricht entfaltete, quasi aus der ersten Reihe | |
| beobachten. Inmitten der sich stetig weiterspinnenden Berichterstattung | |
| über jede Entwicklung, der [2][hochkarätigen Rücktritte, der Forderungen | |
| nach einem Herausforderer für May] und einem zweiten Referendum war klar, | |
| dass das Chaos um den Brexit noch lange nicht vorbei ist. | |
| Der Brexit hat aber nicht nur gezeigt, wie vielfach gespalten die britische | |
| Gesellschaft ist. Er hat auch offenbart, mit welcher Inbrunst gewisse | |
| Kreise die Idee einer glorreichen britischen Vergangenheit hochhalten. Das | |
| reicht von dem konservativen Politiker David Davis, der den Kriegsminister | |
| Winston Churchill zitierte, mit Äußerungen über „unseren“ Sieg im Zweiten | |
| Weltkrieg, bis hin zu Slogans, die dazu aufriefen, „Großbritannien wieder | |
| das ,Groß' zurückzugeben“. | |
| Der ehemalige Außenminister Boris Johnson schlug wütend auf den Entwurf des | |
| Abkommens ein und behauptete, es sei das erste Mal in 1.000 Jahren | |
| politischer Geschichte, dass britische Gesetzgeber kein Mitspracherecht bei | |
| den Gesetzen hätten, die im Land herrschten. [3][Johnson, wahrscheinlich | |
| der lauteste Cheerleader des Brexits,] war besonders sentimental gegenüber | |
| der imperialen Vergangenheit der Nation, er appellierte wiederholt an den | |
| Nationalismus und rief die Macht des ehemaligen Imperiums auf, sich noch | |
| vor dem Referendum gegen die EU zu stellen. | |
| ## Direkte Verbindungen zur Kolonialgeschichte | |
| Unter Johnson und anderen prominenten „Brexiteers“ scheint die Sehnsucht | |
| groß zu sein nach einer vergangenen Welt, in der „die Pässe blau, die | |
| Gesichter weiß und die Weltkarte in Empire-Rosa eingefärbt“ war, wie es | |
| Vince Cable ausdrückte, der Parteichef der Liberal Democrats. Diese | |
| Sehnsucht scheint in den heutigen Brexit-Erzählungen recht präsent zu sein. | |
| Kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche, dann findet man sofort direkte | |
| Verbindungen zur britischen Kolonialgeschichte. Arron Banks, Mitgründer der | |
| „Leave“-Kampagne (gegen den inzwischen wegen des Verdachts auf illegale | |
| Kampagnenfinanzierung ermittelt wird), wuchs zwischen Großbritannien und | |
| Afrika auf, wo sein Vater unter anderem Zuckerrohrplantagen in Südafrika | |
| und Kenia leitete. | |
| Auch [4][Henry Bolton, ehemaliger Vorsitzender der euroskeptischen Partei | |
| Ukip], die eng mit der Leave-Kampagne verzahnt war, wurde in Kenia geboren. | |
| Und Robert Oxley, ehemaliger Chef des Leave-Medienbüros, soll starke | |
| familiäre Beziehungen nach Simbabwe haben. Welche Auswirkungen hatten diese | |
| persönlichen historischen Beziehungen zum untergegangenen Kolonialreich auf | |
| die Programmatik der Brexit-Befürworter? Und inwiefern beeinflussen sie | |
| auch ihre Vision für die Zeit nach dem Brexit? | |
| ## Gespött im Ausland | |
| Ich bin nicht sicher, wie hilfreich Nostalgie in Bezug auf die britische | |
| Kolonialvergangenheit für Großbritannien am Verhandlungstisch ist. In | |
| markigen Statements wie „Wenn Europa glaubt, dass sich Großbritannien | |
| seinen Forderungen beugen wird, dann sollte es mal einen Blick in die | |
| Geschichtsbücher werfen“ steckt der Glaube einiger Brexit-Befürworter, | |
| historisch auf der Siegerseite zu sein. | |
| In Wirklichkeit jedoch war der Umgang Großbritanniens mit dem Brexit eine | |
| Katastrophe. Er machte das Vereinigte Königreich zum Gespött im Ausland. | |
| Die Gefahr, die ein sogenanntes No-Deal-Szenario, ein ungeordneter Brexit | |
| ohne Vertrag, birgt, dürfte für Großbritannien weitaus größer sein als für | |
| die Europäische Union. Mit breitbeinigen Posen von gestern aufzutreten ist | |
| nicht gerade die beste Idee, wenn es darum geht, in Sachfragen von heute | |
| voranzukommen. | |
| Wenn man außerdem die blutige Bilanz der britischen [5][Kolonialgeschichte] | |
| betrachtet, wie klug ist es dann, diese historische Karte zu spielen? Auch | |
| wenn viele anders darüber denken mögen: Großbritanniens Geschichte als | |
| Großmacht ist nichts, worauf man stolz sein kann, dafür ist die Liste der | |
| kolonialen Verbrechen zu lang. Nach Indiens Unabhängigkeit 1947 wurden | |
| hastig Grenzlinien auf der Landkarte gezogen, die zum Tod von | |
| schätzungsweise zwei Millionen Menschen führten und mindestens zehn | |
| Millionen aus ihrer Heimat vertrieben. | |
| Unter den aufmerksamen Augen des gefeierten Premiers Winston Churchill | |
| verhungerten fast vier Millionen Bengalen durch eine menschengemachte | |
| Hungersnot in den frühen 1940er Jahren. Und es waren nicht, wie populäre | |
| Geschichtsdeutungen nahelegen, die Nazis, die als Erste Konzentrationslager | |
| errichteten. In Südafrika starben während der ersten Jahre des zwanzigsten | |
| Jahrhunderts Tausende in britischen Concentration Camps. | |
| ## Indien ökonomisch auf Augenhöhe | |
| Großbritanniens Weltreich-Eroberungszüge, die staatlich genehmigte | |
| Zerstörung und der Diebstahl von Land, Existenzgrundlagen und Familien, | |
| haben zusammen mit der praktizierten „Teile und herrsche“-Politik unzählige | |
| Leben rund um den Globus beeinflusst. Dieses Erbe findet heute einen | |
| Nachhall in Kaschmir, Palästina, Irak und weiteren Regionen. | |
| Auch wenn Teile der britischen Gesellschaft bis heute nicht bereit dazu | |
| sind, dieses Erbe zur Kenntnis zu nehmen – eine Tatsache zumindest kann | |
| nicht ignoriert werden: Das Empire existiert nicht mehr. In den Jahren nach | |
| dem Zweiten Weltkrieg haben die ehemaligen Kolonien ihre Selbstständigkeit | |
| erlangt, und auch sonst hat sich seither viel geändert in der Welt. | |
| Aktuelle Zahlen deuten darauf hin, dass Indien, einst Kronjuwel des Empire, | |
| mittlerweile ökonomisch auf Augenhöhe ist mit seinem einstigen Herrscher. | |
| Und jegliche Ambitionen, die Großbritannien heute in Afrika hegt, drehen | |
| sich inzwischen darum, die Aufholjagd mit China zu gewinnen, das jetzt der | |
| größte Investor für Handel, Infrastruktur und andere Wirtschaftszweige auf | |
| dem Kontinent ist. | |
| Wenn also Premierministerin Theresa May davon spricht, nach einem Austritt | |
| aus dem EU-Binnenmarkt Geschäftsbeziehungen zu „alten Freunden“ wieder | |
| aufnehmen zu wollen, dann muss man wohl annehmen, dass sie damit die | |
| ehemaligen Kolonien meint. Doch Großbritannien sollte nicht erwarten, mit | |
| offenen Armen in Ländern begrüßt zu werden, die die alten Beziehungen als | |
| weniger „freundlich“ ansehen. Es gab bereits erste Signale der | |
| Zurückweisung: Auf einem von Großbritannien ausgerichteten | |
| Commonwealth-Gipfel Anfang dieses Jahres machten Oberhäupter ehemaliger | |
| Kolonien sehr deutlich, dass das Leben nach dem Brexit auf keinen Fall ein | |
| Empire 2.0 bedeuten wird. | |
| ## Kingori, Rees und Olusoga | |
| Nicht nur im Ausland regt sich Widerstand gegen solche Ideen. Die britische | |
| Gesellschaft von heute ist voller Erfolgsgeschichten von Menschen mit | |
| Wurzeln im ehemaligen Empire. Vanessa Kingori, Verlagsleiterin der | |
| britischen Vogue, ist geboren und aufgewachsen in Kenia und auf der | |
| Karibikinsel Saint Kitts. Als eine der mächtigsten Frauen im | |
| Modejournalismus verfolgt sie das Ziel, den Wandel ihre Branche hin zu mehr | |
| echter Vielfalt voranzutreiben. | |
| Da ist Marvin Rees, der während seiner Kindheit und Jugend in der | |
| ehemaligen Sklavenhandel-Hafenstadt Bristol Rassismus erlebte und vor zwei | |
| Jahren Bürgermeister seiner Stadt wurde, der erste in ganz Europa mit | |
| afrikanischen Wurzeln. Er geht entschieden gegen den Rassismus in seiner | |
| Heimatstadt vor. Und dann gibt es noch David Olusoga, ein | |
| britisch-kenianischer Historiker, der fest zum Ensemble der BBC gehört, des | |
| ehemaligen Lautsprechers des Empire. In seinen Beiträgen beschäftigt er | |
| sich mit Rassismus, Sklaverei-Geschichte und dem britischen Militär. | |
| Diese Namen stehen beispielhaft für eine lange Liste von Menschen, die zu | |
| Empire-Zeiten wohl britische Untertanen gewesen wären, heute aber | |
| gesellschaftliche Machtpositionen innehaben. Mit ihren persönlichen | |
| Geschichten und Perspektiven im Rücken können sie diese verherrlichende | |
| Erzählung von Großbritanniens ruhmreicher Kolonialvergangenheit in Frage | |
| stellen – und Probleme angehen, die noch heute bestehen, was Vielfalt und | |
| Beteiligung in der britischen Gesellschaft angeht. | |
| ## Die Tage von „Rule-Britania“ sind vorbei | |
| Für mich, mit Wurzeln in Kenia und Indien, ist das koloniale Narrativ auch | |
| auf persönlicher Ebene schwierig. Der Kolonialismus ist tief in meine | |
| Familiengeschichte eingeschrieben, wie es auch bei Millionen anderer | |
| britischer BürgerInnen der Fall ist. Die Realität dieses Landes sieht doch | |
| so aus: Schottische Geschichte ist gleich karibische Geschichte ist gleich | |
| indische Geschichte ist gleich englische Geschichte. So ist es seit | |
| Hunderten von Jahren und so wird es auch weiterhin sein. Die Johnsons, | |
| Davises und andere Brexiteers mögen das nicht sehen. Doch wie lange wird | |
| die britische Mehrheitsgesellschaft diese wichtigen Teile unserer | |
| gemeinsamen Geschichte noch ignorieren können? | |
| In diesem Zusammenhang steht auch das größte Problem dieser nostalgischen | |
| Erzählung der Brexit-Befürworter. Sie ignoriert nicht nur historische | |
| Tatsachen, sondern weigert sich auch, das brutale und zerstörerische Wesen | |
| der britischen Kolonialeroberungen zu sehen. Mehr als 200 Jahre nach der | |
| Unabhängigkeit der ersten Kolonie ist es im Großbritannien von heute nicht | |
| mehr akzeptabel, solche überholten, gewalttätigen und faktisch falschen | |
| Geschichtsdeutungen zu verbreiten. | |
| Während das Brexit-Problem weiter vor sich hin rumort, liegen verschiedene | |
| Zukunftsszenarien – von einem zweiten Referendum über die Parlamentswahlen | |
| bis hin zu den britischen Wahlen, die ohne Abschluss verlaufen – auf dem | |
| Tisch. Unabhängig davon, was als Nächstes passiert, wünsche ich mir, dass | |
| dieser entscheidende Moment in der britischen Politik einen Ausgang findet, | |
| in dessen Rahmen diejenigen Briten, die an historischen Imperialfantasien | |
| festhalten, akzeptieren, dass sich das Kräfteverhältnis verschiebt. Die | |
| Tage von „Rule, Britannia!“ sind wahrhaftig vorbei. | |
| Übersetzung aus dem Englischen: Nina Apin | |
| 24 Nov 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Grossbritanniens-Brexit-Plaene/!5550047 | |
| [2] /Kommentar-Brexit-Ruecktritte/!5550998 | |
| [3] /Rede-der-britischen-Premierministerin/!5535235 | |
| [4] /Ukip-Chef-Henry-Bolton-abgesetzt/!5485394 | |
| [5] /!t5014183/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gouri Sharma | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Kolonialismus | |
| Neokolonialismus | |
| England | |
| Theresa May | |
| Kolonialismus | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Professur für Geschichte der Sklaverei: Unerzählte Geschichten erzählen | |
| Olivette Otele wird Professorin für Geschichte der Sklaverei. Für die erste | |
| Schwarze Geschichtsprofessorin Großbritanniens gibt es viel zu tun. | |
| EU billigt Brexit-Vertrag: Abstimmung noch vor Weihnachten | |
| Das britische Parlament soll noch vor Weihnachten über den Brexit-Deal | |
| abstimmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel verweist auf die anstehenden | |
| Probleme. | |
| EU-Sondergipfel in Brüssel: Brexit-Vertrag ist beschlossene Sache | |
| Die Brüsseler Runde billigt den Brexit-Vertrag. Theresa May schaut nach | |
| vorn, EU-Kommissionspräsident Juncker spricht von einem „traurigen Tag“. | |
| Vor dem EU-Brexit-Gipfel: „Affenfelsen“ geschickt umschifft | |
| Es darf am Sonntag zum Brexit gegipfelt werden: Spanien und Großbritannien | |
| werden ihren Zwist um Gibraltar anschließend bilateral klären. | |
| Großbritanniens Brexit-Pläne: Zitterpartie EU-Gipfel | |
| Die „politische Erklärung“ zwischen Großbritannien und EU stößt bei den | |
| Briten auf wenig Freude. Der nächste Schritt zum Brexit soll Sonntag | |
| folgen. | |
| Status von EU-Bürgern: So geht der Brexit für Migranten | |
| Bei EU-Bürgern in Großbritannien und Briten in EU-Ländern gilt: Für die, | |
| die schon da sind, bleibt alles beim Alten. | |
| Fragen und Antworten zum Brexit: Brexit means … äh … | |
| Was bedeutet der Brexit-Deal? Was wird aus EU-Bürgern im Königreich? Tritt | |
| die Premierministerin zurück? Ein Q & May. |