# taz.de -- Comiczeichner über Klischees: „Ich hatte echten Bammel“ | |
> Der Zeichner Mikael Ross hat mit „Der Umfall“ das Dorf Neuererkerode | |
> porträtiert, wo Menschen mit geistiger Behinderung leben. | |
Bild: „Ein Ort für Wachstum“: Die Hauptfigur Noel aus „Der Umfall“ auf… | |
taz: Erinnern Sie sich noch an Ihr allererstes Ankommen in Neuerkerode, | |
Herr Ross? | |
Mikael Ross: Es war so ein Schietwetter wie heute, ich bin mit einem | |
geliehenen Auto nach Niedersachsen gefahren und mir war total bange. Ich | |
wusste überhaupt nicht, wo ich da hinfahre und ich hatte vorher auch nicht | |
viel dazu recherchiert. | |
Absichtlich nicht? | |
Ich dachte, ich lasse es auf mich zukommen. Und dann war das Ankommen total | |
positiv. Der Leiter der Freizeit hat mich herumgeführt und schon auf dieser | |
Tour habe ich viele Leute kennengelernt, die mich angesprochen haben. Ich | |
habe gehört, wie die Leute untereinander schnacken – das hat mir gut | |
gefallen. Obwohl ich eigentlich gar nicht wusste, was ich in Neuerkerode | |
sollte. | |
War Ihre Aufgabe nicht, ein Porträt dieses Dorfes zu zeichnen, in dem 800 | |
Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leben und über 1.000 | |
StiftungsmitarbeiterInnen arbeiten? | |
Ich dachte, ich würde da nur einen Workshop geben. Am zweiten Tag habe ich | |
den Leiter, Rüdiger Becker, getroffen, der mir eröffnete, dass er auf der | |
Suche sei nach einem Comiczeichner, und ob ich nicht Bock hätte auf dieses | |
Projekt. | |
Konnten Sie direkt ja sagen? | |
Ich habe mir noch einmal Bedenkzeit genommen, weil ich nicht ganz sicher | |
war, ob ich der Aufgabe gewachsen wäre. Es ist das erste Buch, das ich auch | |
geschrieben und nicht nur gezeichnet habe, und dann gleich so eine | |
Riesenaufgabe, ein Dorf mit so vielen Menschen darzustellen – da hatte ich | |
echten Bammel. | |
War es die Furcht, so vielen Leuten oder insbesondere Menschen mit | |
geistiger Behinderung nicht gerecht zu werden? | |
Plus die Angst, dass die Stiftung bei solch einer Auftragsarbeit großen | |
Einfluss nehmen würde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. Die Stiftung | |
hat sich tatsächlich ganz rausgehalten. | |
Sie sind zwei Jahre lang immer wieder nach Neuerkerode gefahren – hatten | |
Sie einen Plan, wie Sie vorgehen? | |
Ich habe nach meiner Art gearbeitet: Ich habe gewartet, bis Sachen zu mir | |
gekommen sind, bis Leute mir vertrauen, ohne das so forcieren zu müssen. | |
Ich hatte meine kleine Wohnung dort, wo ich auch einen Rückzugsort hatte. | |
Ich habe gefrühstückt, bin in die Kunstwerkstatt rüber gegangen, habe den | |
Tratsch dort mitbekommen, in der Kantine gegessen, einen Spaziergang ins | |
Nachbardorf gemacht, ein Bürger hat mich irgendwohin mitgenommen. | |
Ein Bürger? | |
So werden die Menschen genannt, die dort leben; es gibt auch eine | |
Bürgervertretung. Da Neuerkerode so einen dörflichen Charakter hat, | |
verschwindet das Gefühl einer Einrichtung. | |
Wie abgeschieden, abgeschottet ist Neuerkerode? | |
Es ist sehr kompliziert. Es wohnen Betreuer in Braunschweig, die zur Arbeit | |
ins Dorf kommen, es wohnen Menschen mit geistiger Behinderung allein in | |
Braunschweig, die hier einen Job in der Kantine haben, es gibt Leute, die | |
in Neuerkerode als Betreuer arbeiten und auch hier leben. Der Direktor zum | |
Beispiel wohnt auch im Dorf. Man kann viel austarieren, was für wen passt: | |
Leute, die ganz alleine wohnen, zu denen nur eine Putzfrau kommt, Leute mit | |
viel Betreuung, Leute in Wohngruppen, die Betreuung der Schwerbehinderten, | |
die noch ein ganz anderes Feld ist. | |
Sie taucht im Comic auch nicht auf. | |
In dem Bereich ist es noch einmal schwieriger, Kontakt aufzunehmen. Man | |
braucht viel länger, wenn etwa nicht gesprochen wird. Man denkt am Anfang, | |
ich weiß, worum es sich handelt. Ich hatte auch meine Vorurteile dazu und | |
je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr merkt man, wie komplex es | |
ist. | |
Was waren Ihre Vorurteile? | |
Sonderbar: vor den Stadttoren so eine große Einrichtung, seit 150 Jahren – | |
werden da Leute weggesperrt? Ich bin neben einem Altenheim aufgewachsen und | |
habe als Jugendlicher sehr klar mitbekommen, was es heißt, wenn du in einer | |
Einrichtung gefangen bist. Wenn die Alten jeden Tag an deine | |
Kinderzimmertür klopfen: Hallo, ich will nach Hause. Könnt ihr mir ein Taxi | |
rufen? Und dann werden sie zurückgebracht. Ich hatte eher mit so etwas | |
gerechnet. Aber je länger ich in Neuerkerode war, desto mehr wurde mir | |
klar, dass dieses Klischee nicht zutrifft. | |
Als ich den „Umfall“ las, hat es mich an ein paar Stellen kalt erwischt: | |
etwa bei der Sehnsucht der Jugendlichen, dass ihre Familie sie endlich | |
besucht. | |
Die Familienbindung ist ein großes Thema bei den Neuerkerödern, deswegen | |
habe ich es auch so zentral hineingepackt. Fast egal, mit wem du sprichst, | |
zumindest bei den Jüngeren, die mit 20, 23 dorthin kommen: Die kommen | |
direkt aus ihren Familien und manchmal sind die Beziehungen sehr gut, es | |
gibt dann auch ein „Warum muss ich hier sein, ich will wieder bei meinen | |
Eltern wohnen“. Oder die Beziehungen sind so gekappt, dass eine große | |
Verletzung da ist. Es passieren auch tragisch Sachen. | |
Woran denken Sie da? | |
Wir haben mit einer Gruppe einen Ausflug nach Potsdam gemacht, bei dem | |
einer nicht mit hoch zum Schloss ging, weil ihm die Treppen zu viel waren. | |
Ich saß unten mit ihm und er sagt mir: Weißt Du, was mit meinem Auge | |
passiert ist? Dann gucke ich und merke, dass er ein Glasauge hat. Da | |
erzählt er: „Autounfall. Meine Mutter ist dabei gestorben und ich habe das | |
Auge verloren.“ Danach kam er nach Neuerkerode. Diese Art von Gespräch | |
waren die Grundlage für meine Hauptfigur. Dieser Zwiespalt: Du verlierst | |
etwas, was dir sehr teuer ist, und wirst in etwas Neues hineingeworfen, was | |
erst einmal unangenehm ist, aber wodurch auch die Möglichkeit besteht zu | |
weiterem Wachstum. | |
Gab es Menschen, die Ihnen besonders nahegekommen sind? | |
Irma. Das ist die älteste Bewohnerin von Neuerkerode, eine gestandene Frau | |
mit jetzt 91 Jahren, die noch total auf Zack ist. Sie ist mit neun Jahren | |
mit ihren beiden Brüdern dorthin gekommen. Von ihr zu hören, wie es war, | |
als Neuerkeröder von den Nazis und den Mitarbeitern abtransportiert wurden, | |
das hat mich sehr berührt. Über eine Zeitzeugin mitzuerleben, wie schnell | |
so eine Einrichtung von einer humanistischen Idee 70 Jahre später in das | |
Gegenteil kippt und die gleichen Menschen, die ihr ja zum Schutz befohlen | |
sind, umbringt. | |
Wie schwierig war es für Sie, das Thema anzusprechen? | |
Das war nicht ganz einfach, weil es für sie noch einmal ein Zurückkehren in | |
diese Zeit war, die bei ihr mit Schmerz besetzt ist. Sie da zu fragen, war | |
ein Seiltanz, weil ich für sie eher ein Fremder war, dem sie erst mal nicht | |
so vertraut hat. Dann hat die Mitarbeiterin aus der Wohngruppe aber noch | |
einmal für mich vorgesprochen, wir haben es zu dritt gemacht und sie hat | |
mir sogar die alten Fotos gezeigt. Danach hatte ich das Gefühl, dass ich | |
vielleicht eine Grenze überschritten und in etwas gewühlt habe, in dem ich | |
nicht wühlen sollte – und war dann sehr erstaunt, als sie mir über jemanden | |
zukommen ließ, dass sie sauer ist, dass ich danach nicht noch einmal | |
aufgetaucht bin. Jetzt bin ich zumindest für den 92. Geburtstag im Januar | |
eingeladen. | |
Damals sind drei Geschwister gemeinsam nach Neuerkerode gekommen? | |
Ja und es ist gar nicht so klar, ob sie alle eine Behinderung hatten. Ich | |
glaube, dass es einfach Kinder von Landarbeitern waren, die es nicht | |
stemmen konnten, vielleicht hatten sie eine Lernschwäche. Heute würde man | |
ganz anders damit umgehen. Wir sind inzwischen viel weiter als damals. | |
Sie haben einmal vom Zauber von Neuerkerode gesprochen, den man am besten | |
in einem Comic einfangen könnte. Warum? | |
Comic bietet die Möglichkeit, einen unklaren Raum für den Leser zu | |
schaffen. Hätte ich das filmisch oder mit Tonaufnahmen gemacht, hätte jeder | |
Rezipient, der das sieht oder hört, sofort gecheckt: Da geht es um Menschen | |
mit geistiger Behinderung. Und jetzt merke ich am Feedback, dass das Buch | |
diese Unklarheit hat: Es wird ja nicht erklärt. Die Leute schlagen das | |
Cover auf und müssen erst entdecken, worum es sich eigentlich dreht. Dann | |
schlüpft man vielleicht wirklich in diese fremde Haut. | |
Hatten Sie Angst, bei der Darstellung der Menschen mit geistiger | |
Behinderung in Klischees zu verfallen? | |
Man kann nur fehlgehen. Entweder man erzählt zu rosig oder man ist | |
ungerecht. Diesen superschmalen Grad dazwischen auszutarieren, war am | |
Anfang die Hauptarbeit. Den Ton zu finden; auch den Witz der Leute | |
darzustellen. In Neuerkerode ist es manchmal supertraurig und manchmal ist | |
es superlustig. | |
Gab es auch Situationen, wo Sie dachten: Muss das so sein, ginge es nicht | |
anders? | |
Du triffst Eltern von Bürgern, die total schimpfen, dass der Pflegestand | |
nicht gut ist: Warum gibt es so wenig Betreuung, warum müssen wir nach | |
allem fragen? Die eine große Wut haben. Aber das ist nicht die Einrichtung, | |
das ist in Deutschland generell so und es wird auf dem Rücken der zu | |
Betreuenden ausgefochten und auf dem derjenigen, die dort arbeiten. Es gibt | |
immer zu wenig Geld. | |
Gibt es Dinge, die Ihnen fremd geblieben sind? | |
Eigentlich nicht. Immer, wenn mir etwas fremd war, habe ich beim nächsten | |
Besuch oder einen Monat später die Antwort darauf bekommen. Wenn mir | |
Handlungen in Neuerkerode unplausibel und verrückt erschienen, musste ich | |
das verrückt meist wieder rausnehmen, weil dahinter immer eine Logik | |
steckt, wenn sie auch anders ist als die normale Logik. | |
Hätten Sie ein Beispiel? | |
Ich treffe zum ersten Mal eine Person, die mir sagt: „Heute kein Spielspaß, | |
heute kein Essensspaß, Tag ist ruiniert, tschüss.“ Dann lernt man deren | |
Leben kennen und merkt: Kein Spielspaß bedeutet, dass alle | |
Mensch-ärgere-dich-nicht-Partien heute schief gelaufen sind, er war nicht | |
pünktlich beim Abendessen und die Person, mit der er gewohnt ist, zu Abend | |
zu essen, war nicht anwesend. Und man merkt: Die Person ist nicht verrückt, | |
sondern einfach eigen. Auch die Sprache: Zu Beginn versteht man die Leute | |
manchmal schlecht. Je länger man da ist, desto mehr merkt man: Man kann | |
sich wunderbar unterhalten, die Person ist total höflich, interessiert, | |
will wissen, was du hier machst und was es Neues gibt. Je mehr ich da war, | |
desto mehr Vertrauen habe ich gewonnen. | |
Wohinein? | |
In die Menschen dort. Du merkst, es gibt wenig irrationales Verhalten. Ich | |
war vorher relativ uninformiert, dann hat man viel mehr Angst und denkt: Es | |
kann alles passieren. | |
Wovor genau hat man da Angst? | |
Man bekommt ja schon als Kind beigebracht: Verhalte dich nicht so und so, | |
sonst kommst du in der Gesellschaft nicht gut an. Und dann hast du | |
plötzlich Menschen, die sich genau so verhalten, die aber 45 sind. Ich | |
glaube, dass man in dem Moment, in dem man das sieht, schnell verfällt in | |
das Kind, dem gesagt wird: Wenn du dich so verhältst, wirst du ausgestoßen. | |
Und sobald wir sehen, dass sich jemand so verhält, spüren wir nicht nur ein | |
Befremden, sondern auch Angst, dass das nicht geht, dass etwas passieren | |
wird. | |
Und: passiert etwas? | |
Es braucht eine Zeit, bis man merkt: Es passiert gar nichts. Als Kind weiß | |
man ganz genau, wenn man den Teller vom Tisch schleudert, gibt es eine | |
Reaktion, dann wirst du erzogen. Aber in Neuerkerode gibt es ganz viele | |
Menschen, die es jeden Tag so machen. Weil sie es nicht anders können, aber | |
sie wollen trotzdem am Tisch sitzen und teilhaben und nicht mit einem | |
Schlauch ernährt werden. Da sieht es halt mal kurz unordentlich aus, aber | |
dann merkt man, es ist alles okay, niemand regt sich auf. Und in dem Moment | |
entspannt man sich. | |
22 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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