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# taz.de -- Judenverfolgung nach 9. November 1938: Langer Kampf um die Vergange…
> Herta Mansbacher wurde im März 1942 als Jüdin von Worms nach Polen
> transportiert und ermordet. Hier ist ihre Geschichte.
Bild: Herta Mansbacher und einige ihrer Schüler*innen
Eine kleine Frau stellt sich den Brandschatzern in den Weg. Sie will
verhindern, dass SA-Männer die Wormser Synagoge plündern, die heiligen
Gegenstände der ältesten jüdischen Gemeinde Europas vernichten. Das war in
der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – also vor 80 Jahren.
Die mutige Frau heißt Herta Mansbacher. Unter Einsatz ihres Lebens, so
berichten Zeitzeugen, stellt sie sich dem Mob entgegen, wird
beiseitegeschleift. Mehr geschieht ihr nicht, alle anderen, die in jener
Nacht den Nazis Widerstand leisten, werden verhaftet. Die Synagoge in der
Wormser Judengasse brennt lichterloh. Mit Marmeladeneimern versuchen die
Lehrerin und einige Schüler zu löschen. SA-Leute hindern sie daran.
Unermessliche Werte verbrennen: Aronschrein, Thorarollen, Silber, Leuchter.
Die älteste Synagoge Deutschlands – sie ist fast 1.000 Jahre alt – liegt
danach in Schutt und Asche. Aus jüdischen Privathäusern fliegen ganze
Einrichtungen auf die Gassen. Sogar ein Van-Dyck-Gemälde soll dabei in
Stücke gehen.
Zunächst war Herta Mansbacher Lehrerin an der Westend-Schule in Worms;
nachdem sie wegen ihrer jüdischen Herkunft Berufsverbot erhalten hatte,
wechselte sie zur jüdischen Schule. Ihr Selbstverständnis war das einer
assimilierten Jüdin ohne große Religiosität. Erst die Anfeindungen von
außen wirkten identitätsstiftend.
Warum ist ihr in der Pogromnacht 1938 nichts passiert? Man kann nur
spekulieren. Waren die Nazi-Rüpel ehemalige Schüler und hatten noch einen
Funken Respekt vor „Fräulein Mansbacher“?
## „Abgereist ohne Angabe des Reiseziels“
Was auch genau geschah: Die 1174 im romanischen Stil gebaute und nach einer
teilweisen Zerstörung während der Judenpogrome im 14. Jahrhundert mit
gotischen Elementen erneuerte Synagoge liegt unwiederbringlich in Trümmern.
Nur das umfangreiche Archiv der traditionsreichen Wormser Gemeinde bleibt
unversehrt, wie sich später herausstellt. Es lag vermutlich im
Gemeindehaus, das nicht völlig zerstört wurde. Außerdem hatte SS-Führer
Reinhard Heydrich befohlen, die jüdischen Archive zu konfiszieren. Sie
lieferten den Nazis wichtige Informationen, zum Beispiel, wer ist Jude, wer
nicht. Nicht alle geben sich zu erkennen.
Gerold Bönnen, der heutige Stadtarchivar von Worms, schreibt dazu in seinem
einschlägigen Aufsatz „Beschlagnahmt, geborgen, ausgeliefert. Zum Schicksal
des Wormser jüdischen Gemeindearchivs 1938–1957“: „Nur ein sehr kleiner
Teil der Archivalien ist mit den Museumsbeständen verbrannt; der weitaus
größte Teil der insgesamt wohl unversehrten und in ihrer Struktur
unangetastet gelassenen Unterlagen gelangte in die Hände der Staatspolizei.
Zu Beginn der reichsweiten Aktionen gab es Anweisungen, denen zufolge
‚Archivmaterial‘ durch eine sofortige Maßnahme sicherzustellen sei.
Befehlsgemäß hat die Gestapo die Archivalien beschlagnahmt.“
Schon am Tag nach der Pogromnacht räumt Herta Mansbacher auf und richtet
das Gemeindehaus so her, dass es wieder Unterricht geben kann. Die jüdische
Schule ist seit einiger Zeit dort untergebracht. Die Lehrerin schreibt zu
der Zeit bereits an ihrem „Auswandererbuch“. Darin dokumentiert sie ab 1934
fein säuberlich, wer von der jüdischen Gemeinde emigriert oder deportiert
wird. Sie hätte die Chance, zu Verwandten nach Ägypten zu entkommen, will
aber ihre Schulkinder nicht im Stich lassen. Eine eigene Familie hat die
kleine, leicht verwachsene Frau nicht. Herta Mansbacher wird am 19. März
1942 mit einer kleinen Schar von Schülern nach Polen transportiert und
ermordet. „Abgereist ohne Angabe des Reiseziels“, lautete der lapidare
Vermerk im Wormser Polizeiregister.
Henry R. Hüttenbach, ein ehemals Wormser Jude, ausgewandert nach New York,
beschreibt in einer kleinen Biografie Herta Mansbacher als Heldin. Ihr sei
es zu verdanken, dass viele Judaica gerettet wurden. Erhalten blieben
einige Thorarollen, silberne Kultgegenstände und vor allem der wertvolle
Wormser Machsor, eine mittelalterliche Handschrift in Form zweier
Gebetsbücher mit herrlichen Zeichnungen.
## Im Schatten Illerts
Mansbachers Zivilcourage wird in Worms bis in die 1980er Jahre nicht
besonders hochgehalten, denn jemand anders schwingt sich nach dem Krieg zum
Retter des jüdischen Erbes auf: Friedrich Illert. Er war sowohl während der
Nazizeit als auch danach im Dienst der Stadt Worms und hätte längst als
zumindest fragwürdige Gestalt eingestuft werden müssen. Er leitete
durchgängig von 1934 bis 1958 die Städtischen Kulturinstitute, zu denen
Bibliothek, Museum und Archiv gehörten.
Illerts politische Geisteshaltung wird als national-katholisch-konservativ
beschrieben, offen nationalsozialistisch war er nicht. Aber: Von Widerstand
keine Spur. Ehrgeizig nutzte Illert die NS-Herrschaft für seinen Aufstieg.
Seine ersten, hochtrabenden Pläne hatten mit der großen Geschichte der
Wormser Juden absolut nichts tun: Auf Basis des Nibelungenkults wollte er
Worms zur Geburtsstätte des Nationalsozialismus formen.
Der Krieg ist kaum vorbei, da schaltet der wendige Karrierist schleunigst
um. Dass der älteste jüdische Friedhof Europas, das Archiv, etliche Judaica
und Reste der Synagoge noch existieren, sei ihm zu verdanken, posaunt er
überall aus. Schon 1946, als eine Gruppe von displaced persons den
jüdischen Friedhof besucht, eilt er dorthin, um von seinen Rettungstaten zu
erzählen. Bald erscheint sogar ein Artikel in der deutsch-jüdischen
Exilzeitung Aufbau, der von der wundersamen Rettung jüdischer Heiligtümer
in Worms berichtet. Mit einer Mischung aus Fakten und Fiktion macht er
fleißig Werbung für sich als Person und die Stadt Worms. Seine Geschichten
werden immer rasanter.
Der heutige Stadtarchivar Bönnen dazu: „Problematisch ist die spätere
Selbststilisierung zum selbstlosen Retter des unzerstört gebliebenen
Friedhofes und der Archivalien. Wobei er sich angeblich selbst in Gefahr
gebracht hat. Eine problematische Selbsterhöhung und eine Geschichte, die
sich in der Literatur bis heute hartnäckig hält, aber von den Fakten so
nicht abzuleiten ist.“
Innerhalb seines geschickt aufgebauten Netzwerks aus Repräsentanten der
Stadt und ehemaligen jüdischen Bürgern erfand sich Illert nach dem Krieg
völlig neu – als Verwalter jüdischer Interessen. Das wurde seine neue
Lebensaufgabe, und er bemühte sich tatsächlich darum, dass nach
Architekturfragmenten der Synagoge gegraben wurde. Wertvolle
Ritualgegenstände des ehemaligen jüdischen Museums hatte er sich schon zu
NS-Zeiten angeeignet, genauso wie das bedeutende Archiv der jüdischen
Gemeinde.
## „Arisierung“ der Wormser Judaica
Dass er es sich schon während des Krieges aus der Gestapo-Zentrale in
Darmstadt verschaffen konnte, klingt abenteuerlich. Die Aufzeichnungen
darüber sind widersprüchlich. Wie auch immer, das jüdische Erbe gehörte für
ihn zum Kulturerbe der Stadt Worms. Hier kann man getrost von einer
gezielten „Arisierung“ der Wormser Judaica sprechen, da kann Illert noch so
oft von einer Rettungstat faseln.
Gerold Bönnen weiß: „Illert interessierte sich für die Erhaltung und
Rettung der Judaica, die bedrängten und entrechteten Juden und das
Schicksal der Gemeinde aber spielten dabei keine irgendwie erkennbare
Rolle. Vieles lässt sich nur vermuten, und der wichtigste Protagonist
Friedrich Illert hat sich später überaus widersprüchlich zu den Ereignissen
geäußert.“
Der kleine Wormser Stadtarchivar Illert befand sich in großer Gesellschaft.
Die Arisierung jüdischen Kulturguts begann spätestens nach der Pogromnacht
1938 und wurde ab etwa 1940 von den Nazis institutionalisiert. Dass viele
Archive, Bücher und Judaica – im Gegensatz zu ihren Besitzern – überlebte…
liegt am Ansinnen der Nationalsozialisten, die an ihnen die „Judenfrage“
erforschen wollten.
Illert beweist auch nach dem Krieg enorme Wendigkeit. Zu seiner behaupteten
Rolle als Retter des jüdischen Erbes in Worms passt, dass er sich weigert,
die geretteten Bücher, Archivalien und Judaica jüdischen Bürgern oder
Organisationen zu überlassen. Unbeirrt verteidigt er die Judaicasammlung
als Wormser Eigentum. Nur ein Beispiel: Ein früheres Mitglied der jüdischen
Gemeinde Worms, Julius Schach, soll 1948 Thorarollen und Dokumente nach
Israel transportieren – autorisiert vom hessischen Innenministerium. Illert
lässt ihn abblitzen.
## Alles soll in Worms bleiben
Ähnlich frustriert er Hannah Arendt, die für die Jewish Cultural
Reconstruction (JCR) in ganz Deutschland Judaica und Bücher aufspürt. Bei
dieser Organisation handelt es sich immerhin um eine international
anerkannte Treuhandgesellschaft jüdischer Organisationen. Der JCR kümmert
sich nach Kriegsende um die Auffindung und Rückführung von jüdischem
Kulturraubgut in Europa, um die Reste des geistigen Lebens des Judentums in
Deutschland und Europa zu retten.
Hannah Arendt kommt als Generalsekretärin des JCR 1949 nach Deutschland, um
sich einen Überblick über restituierbare Kulturgüter zu verschaffen. Sie
beschreibt in ihren reports den Wormser Kulturamtsleiter Illert als
besonders hartnäckig. Arendt schreibt in einem Brief an ihren Kollegen, den
Religionshistoriker Gershom Scholem, nach Jerusalem: Den wertvollen Wormser
Machsor betrachte Illert als Eigentum der Stadt, die er unbedingt für
„sein“ Museum und wohl auch als touristische Attraktion im Besitz der
deutschen Kommune belassen wolle.
Als sich die Auseinandersetzungen mit jüdischen Treuhandorganisationen
zuspitzen, scheut sich Illert nicht, emigrierte Wormser Juden für seine
Anliegen einzuspannen. Bis hin zu vorgedruckten Formularen, die sie nur
noch unterschreiben mussten. Alles soll in Worms bleiben: das Archiv der
jüdischen Gemeinde inklusive des wertvollen Wormser Machsor aus dem 13.
Jahrhundert und gerettete Judaica.
Der Streit wird schließlich juristisch ausgetragen, zieht immer weitere
Kreise und kommt der Bonner Regierung ins Gehege, die gerade Beziehungen zu
Israel knüpft. Das Bundeskanzleramt macht Druck, drängt auf einen
Vergleich. Nach einem Gerichtsurteil zugunsten der Jewish Trust
Corporation for Germany gelingt endlich eine Einigung. Die meisten
Gegenstände kommen nach Jerusalem, einige wenige Judaica bleiben in Worms.
Die Geschichte findet ein geschmackloses Ende: In der Wormser Zeitung steht
unter der Überschrift „Wormser Dokumente in Jerusalem“ Illerts
selbstgefällige Aussage, das sei „Beweis des Willens der Wiedergutmachung“.
## Trümmer der Synagoge als Mahnmal liegen lassen?
Zu der Zeit engagierte sich Illert bereits dafür, die in der Pogromnacht
1938 zerstörte Synagoge wiederaufzubauen. Der Wiederaufbau war bei den
Organisationen überlebender Juden in New York und beim zuständigen Rabbiner
in Mainz umstritten, weil ein jüdisches Gotteshaus nur eines ist, wenn auch
eine Gemeinde existiert.
Im Archiv des New Yorker Leo-Baeck-Instituts finden sich dazu Briefe an
Illert. Am 4. 10. 1954 schreibt ein (unleserlicher) Absender: „eine
Plakette würde auch genügen“ und schlägt vor, die Trümmer der Synagoge als
Mahnmal liegen zu lassen. Doch konnte Illert einen Teil der
heimwehgeplagten New Yorker des Worms Jewish Community zu
Ergebenheitsadressen überreden. Der Wiederaufbau der Wormser Synagoge
beginnt 1956, 1961 ist sie fertig.
Friedrich Wilhelm Josef Maria Illert starb 1966 in Worms. Er hatte bis
zuletzt an seiner Stilisierung als Retter des jüdischen Erbes gearbeitet.
Während der Beisetzung läuteten die Wormser Kirchenglocken. 1938 – als die
Synagogen brannten – hatten sich die Vertreter der Christenheit nicht groß
gerührt.
Die Nazis ermordeten die Lehrerin Herta Mansbacher, aber ihr Vermächtnis
hat in der Wissenschaft viel nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als
Illerts großspurige Betriebsamkeit. Ihre Chronik der Vertreibung der
Wormser Juden ist in den großen Archiven des Judentums präsent. 1973 werden
ihre Notizbücher, in denen sie jeden Einzelnen der jüdischen Gemeinde
würdigt, in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wieder
entdeckt. In fein säuberlicher Schrift hält ihr „Auswandererbuch“ minuti�…
die Schicksale fest – Deportationen, Reisen ins Exil.
In Anlehnung an Heinrich Heine schreibt sie in der Einleitung: Sie
verlassen nicht ihr Zuhause, sie suchen eine neue Heimat. Später, in den
1980ern, verfasst Henry Hüttenbach in New York seine Biografie über Herta
Mansbacher und resümiert: Als Chronistin des Exodus der Juden aus Worms hat
sie „den Kampf um die jüdische Vergangenheit gewonnen“.
9 Nov 2018
## AUTOREN
Ursula Schlosser
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Der 9. November
Synagoge
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Pressefreiheit
Staatsangehörigkeit
Der 9. November
Rechtstextreme
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