| # taz.de -- Deutsche Familiengeschichte: Einmal nur richtig geliebt | |
| > An ihrem 80. Geburtstag bricht die Oma unserer Autorin ihr Schweigen. Und | |
| > erzählt von der einzigen Liebe ihres Lebens. Er war ein SS-Mann. | |
| Bild: Die Großmutter kurz vor der Rente als Sekretärin, 1982 | |
| Meine Oma hat nie geheiratet und hatte auch nie eine Beziehung. In meiner | |
| Kindheit habe ich nie gewagt, groß nach dem Vater meines Vaters zu fragen | |
| und auch später hütete ich mich immer, weiter nachzuhaken, wenn sie mich | |
| bei der Frage nach meinem Opa mit der knappen Antwort abspeiste, dass sie | |
| ihn nur flüchtig gekannt habe. Ich akzeptierte ihr Schweigen in der | |
| Befürchtung, sie durch näheres Nachfragen womöglich an ein traumatisches | |
| Erlebnis zu erinnern: Meine im einstigen Ostpreußen geborene Oma ist nach | |
| Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling über Dänemark nach | |
| Norddeutschland gekommen. Erst 1949 fand sie ihre Familie und zog zu ihrer | |
| Schwester nach Stuttgart, wo mein Vater 1950 zur Welt kam. | |
| Wenn ich sie über ihr Leben befragte, erzählte sie immer dieselben | |
| Anekdoten: Wie sie sich als Kind der Hausarbeit entzog, indem sie so tat, | |
| als würde sie Schulaufgaben machen. Oder wie sie als 17-Jährige während des | |
| Zweiten Weltkriegs im Pflichtjahr als Rendantin auf einem besetzten | |
| polnischen Gut ihren Chef dazu brachte, Mitleid mit dem Sohn des | |
| enteigneten Gutsbesitzers zu haben, obwohl der Waffen für die polnischen | |
| Partisanen gesammelt hatte: „Ich habe ihm gesagt, er solle sich doch einmal | |
| in einen 15-Jährigen hineinversetzen, der gerade seine Eltern verloren | |
| hat.“ Über Liebe oder Beziehungen sprach sie nie. | |
| Erst an ihrem achtzigsten Geburtstag bricht sie ihr Schweigen. Ihre letzten | |
| Gäste, ein schwules Pärchen, sind gerade gegangen, als sie alte Fotoalben | |
| aus dem Schrank holt. Beim Blättern stoße ich auf Bilder von Soldaten, mit | |
| denen sie vor dem besetzten Gut posiert. „Die Männer haben mich damals alle | |
| umschwärmt. Ich habe noch einen Haufen Briefe von Verehrern“, sagt sie, | |
| geht zu ihrem Schreibtisch, zieht eine schwarze Schatulle mit goldenen | |
| Verzierungen heraus, reicht mir einen Stapel vergilbte Briefe und sagt: | |
| „Nur von ihm habe ich keinen Brief und kein Bild.“ Als ich frage, von wem | |
| sie spricht, erzählt sie sie mir: die Geschichte, warum sie nie geheiratet | |
| hat. | |
| „Ich war sofort hin und weg von ihm“, beginnt sie. Ich halte den Atem an: | |
| „Redest du von Papas Vater?“ Sie winkt ab. „Ach was, das mit ihm war nich… | |
| Ernstes, zumindest nicht für mich. Den habe ich nach meiner Flucht auf | |
| einem Bauernhof kennengelernt. Er und sein Vater hätten mich da schon gerne | |
| behalten, aber eher als Hilfe in der Landwirtschaft. Die haben bereits die | |
| Hochzeitsglocken läuten hören. Da bin ich abgehauen. Dass ich schwanger | |
| bin, habe ich erst bemerkt, als ich schon über alle Berge war.“ | |
| ## „Ich war wahnsinnig schüchtern“ | |
| Meine Oma geht in ihr Schlafzimmer rüber, winkt mir, ihr zu folgen, hebt, | |
| als ich im Türrahmen stehe, ihr Bettkissen hoch, deutet auf ein hellgraues | |
| Taschentuch mit weißen Rändern und sagt: „Ich rede von dem Mann, der mir | |
| das Taschentuch hier geschenkt hat.“ Sie geht wieder ins Wohnzimmer zurück, | |
| streift gedankenverloren über die Briefe und Bilder, die nun auf dem Tisch | |
| verstreut liegen, und erzählt: „Ich habe ihn 1943 auf dem Gut | |
| kennengelernt. Ein deutscher Offizier hat meinen Chef gefragt, ob er | |
| Mädchen kenne. Sie hätten eine Feier und keine Frauen da. ‚Ja‘, hat der | |
| gesagt, ‚meine Nichte und meine Sekretärin können kommen.‘ Wir wurden also | |
| zu dem Bankett kutschiert, ich habe mich gesetzt und da haben sich unsere | |
| Blicke getroffen und es hat geknallt. Dabei haben wir uns nicht einmal | |
| unterhalten. An dem Abend wurde nur gesungen und getrunken, aber es muss | |
| auch bei ihm geknallt haben, denn als ich rausging, um frische Luft zu | |
| schnappen, ging er mir nach.“ | |
| Sobald sie aber aufgestanden war, fährt meine Oma fort, merkte sie, dass | |
| der Wein ihr bereits zugesetzt hatte: „Ich war ja nicht gewöhnt, zu trinken | |
| und mein Abendbrot war schon lange her.“ Gleich vor der Tür musste sie sich | |
| übergeben. „Au weia, wie war mir das unangenehm! Ich wollte nur im Boden | |
| versinken, da kam er schon auf mich zu, reichte mir das Taschentuch und | |
| machte Anstalten, mich zu küssen. Ich war gerade mal neunzehn, hatte noch | |
| nie einen Mann geküsst und dachte nur: Das geht doch nicht, du hast doch | |
| gerade noch gespuckt! Er aber war mir bereits so nahe gekommen, dass sich | |
| unsere Lippen berührten. Da habe ich aus Angst zugebissen. Wir sind wieder | |
| reingegangen und haben so getan, als sei nichts passiert.“ | |
| Am nächsten Abend aber, erzählt sie, saß er mit einem Mal im Herrenzimmer | |
| des besetzten Gutes als einziger Gast am offenen Kamin: „Und wieder war ich | |
| so aufgeregt, dass ich kein Wort rausbekommen habe. Ich war ja wahnsinnig | |
| schüchtern. Den ganzen Abend hat er Operetten- und Trinklieder gesungen und | |
| Gedichte rezitiert und mich dabei angesehen.“ Sie seufzt: „Und was konnte | |
| der singen! Und was sah er toll aus!“ Gelernter Bäcker sei er gewesen. „Als | |
| Sohn eines Gutsbesitzers stand er aber auch bei den anderen Frauen hoch im | |
| Kurs: Es gab damals sogar das Gerücht, dass ihm ein Mädchen hinterherreist, | |
| aber alle haben gesagt, sie habe ein Musgesicht. Ich habe sie nie zu | |
| Gesicht bekommen.“ | |
| ## „Er war Bäcker. Bei der Bäckerkompanie der SS“ | |
| Ich bin verwirrt. „Sänger, Bäcker, Gutsbesitzer?“ Meine Oma lächelt: | |
| „Bäcker. Daher war er auch bei der Bäckerkompanie der SS.“ Ich frage | |
| ungewollt laut: „Der SS?“ Sie erklärt ungerührt: „Ja, aber doch nur in … | |
| Bäckerkompanie.“ Ich runzle die Stirn: „Was heißt da nur? Bei der SS war | |
| man freiwillig. Bäckerkompanie oder nicht.“ Sie überlegt kurz und sagt | |
| dann: „Nicht zwangsläufig. 1943 hat die SS auch noch zwangsrekrutiert.“ Und | |
| dann, so als sei es eine Entschuldigung: „Und in der Bäckerkompanie kam man | |
| nicht an die vorderste Front.“ | |
| Während ich nur entsetzt denke: „Ausgerechnet ein SS-Offizier!“, fährt sie | |
| auch schon fort: „Nach dem Abend hat er immer wieder angerufen und um ein | |
| Stelldichein gebeten. Meine Chefin hat schon eine Kriegshochzeit für uns | |
| geplant. Ich aber war so nervös, dass ich immer neue Ausreden erfunden | |
| habe, warum ich nicht kann.“ | |
| Sie schluckt. „Dann wurde seine Kompanie von einem auf den anderen Tag von | |
| Sichelberg nach Schröttersburg verlegt. Erst als er weg war, habe ich so | |
| wirklich gemerkt, was ich für ihn empfand.“ Eine Weile, sagt sie, sahen ihr | |
| Chef und seine Frau sich ihren Liebeskummer mit an, dann nahmen sie die | |
| Sache in die Hand und baten meine Oma, nach Schröttersburg zu fahren, um | |
| Erledigungen für sie zu machen: „Da stand er dann mitten auf der Straße und | |
| ich war so perplex, dass ich nur dummes Zeug von mir gegeben habe.“ Am | |
| Abend habe er sie zu einer Veranstaltung mitgenommen, bei der er als Sänger | |
| engagiert war: „Und wieder hat er immer nur mich angesehen. Da habe ich es | |
| erneut mit der Angst zu tun bekommen und bin gerannt.“ | |
| In den Wochen danach, erinnert sie sich, konnte sie nicht mehr schlafen und | |
| nicht mehr essen: „Ich war richtig krank.“ Ihr Chef machte die Feldadresse | |
| seiner Einheit ausfindig und drängte sie, sich zu erklären: „Er hat nie | |
| geantwortet. Entweder, dachte er, die kann hier nicht Kokolores spielen, | |
| oder mein Brief ist nie angekommen.“ Ungläubig frage ich: „Und du hast nie | |
| nach ihm gesucht?“ Meine Oma antwortet nachdenklich: „Doch, in den ersten | |
| Jahren schon, aber das war aussichtslos. Damals gab es ja noch nicht die | |
| technischen Möglichkeiten.“ | |
| ## „Er war ein Guter“ | |
| Ich hole meinen Laptop und frage sie nach seinem Nachnamen, seinem | |
| Geburtsjahr und seinem Heimatort, um zu sehen, ob ich im Internet etwas | |
| über ihn herausfinden kann. Meine Oma ist ganz aufgeregt: „Das könntest du? | |
| Da nachforschen?“ Ich gebe seinen Namen und SS in die Schlagwortsuche ein. | |
| Schon unter den ersten drei Treffern befindet sich eine polnische Liste von | |
| SS-Offizieren. Neben Namen und Geburtsdatum steht da: SS-Untersturmführer, | |
| 1945 befördert zum SS-Hauptsturmführer. Außer der Liste finde ich keine | |
| weitere Spur. Einsicht in die Akten von Archiven, recherchiere ich, bekommt | |
| man nur mit der Einwilligung Angehöriger. | |
| Aufgewühlt erzähle ich meiner Oma von der Beförderung und ende: „Ich will | |
| gar nicht wissen, was er getan haben muss, dass er zu Kriegsende noch | |
| befördert wurde.“ Sie steht auf, beginnt die Bilder vom Tisch zu räumen und | |
| sagt energisch: „Ach was. Er war ein Guter, feinfühlig, talentiert. Der | |
| hätte keiner Fliege was zuleide getan.“ Und dann: „Sonst findest du nichts? | |
| Keinen Hinweis, ob er den Krieg überlebt hat?“ Ich bin sprachlos. Seine | |
| SS-Mitgliedschaft scheint sie überhaupt nicht zu tangieren. Dabei weiß sie | |
| so gut wie ich, dass man in den besetzten Gebieten kaum als Soldat der | |
| Waffen-SS sein konnte, ohne an schweren Kriegsverbrechen beteiligt zu | |
| werden. Wir haben oft miteinander über den Krieg gesprochen. Ich merke: Was | |
| diesen Mann angeht, ist mit ihr nicht zu reden. Sie möchte sich das Bild | |
| ihrer großen Liebe nicht zerstören lassen. | |
| Sie geht in die Küche, um den Abwasch zu machen. Ich folge ihr, nehme mir | |
| ein Geschirrtuch und frage vorsichtig: „Und du hast nie wieder einen Mann | |
| getroffen, mit dem du dir eine Beziehung vorstellen konntest?“ Sie lächelt: | |
| „Doch, als dein Vater fünf war, habe ich noch einmal einen kennengelernt. | |
| Aber der hatte es nicht mit Kindern.“ Sie lässt Wasser in eine kleine | |
| Schüssel im Waschbecken laufen. Ich reiche ihr das Besteck und frage: | |
| „Warst du denn nie einsam?“ Sie verdreht die Augen: „I wo, ich hatte doch | |
| meine Arbeit, meine Familie, Freunde und Hobbys. Da waren viele meiner | |
| Freundinnen in ihren Ehen einsamer.“ | |
| ## Sie möchte mit seinem Taschentuch bestattet werden | |
| In den folgenden zehn Jahren redet meine Oma mir gegenüber immer wieder von | |
| ihrer Kriegsbekanntschaft. Einmal frage ich sie, warum sie das nicht schon | |
| früher getan habe, und sie antwortet: „Ach, weißt du, ich habe ja jahrelang | |
| selbst nicht mehr daran gedacht: Ich war ja auch glücklich mit meinem | |
| Leben. Aber je älter ich werde, umso wichtiger wird die Erinnerung. | |
| Vielleicht, weil ich nicht mehr so viel erlebe. Vielleicht aber auch, weil | |
| es das einzige Mal war, dass ich so richtig verliebt war.“ | |
| Als meine Oma mit Ende 90 merkt, dass es mit ihr zu Ende geht, erzählt sie | |
| mir, dass sie in Gedanken fast nur noch bei dem Mann in Schröttersburg sei, | |
| und bittet mich dafür zu sorgen, dass sie mit seinem Taschentuch bestattet | |
| wird. Gegen Ende des Gesprächs sagt sie: „Ich würde so gerne noch erfahren, | |
| was aus ihm geworden ist.“ Ich setze mich erneut an den Laptop, gebe wieder | |
| seinen Geburtsort, sein Geburtsdatum und seinen Namen ein und dann, in | |
| einem plötzlichen Impuls, noch das Wort Bäckerei. Zu meinem Erstaunen finde | |
| ich eine Bäckerei mit seinem Nachnamen in seiner Geburtsgegend. Ich rufe | |
| an. Am anderen Ende ist eine Bäckereimitarbeiterin, die mir bestätigt, dass | |
| die Bäckerei ihm einmal gehört habe und nun im Besitz seiner Tochter sei. | |
| Ich schreibe der Tochter einen Brief. | |
| Eine Woche später bekomme ich Post. Die Tochter antwortet, dass sie die | |
| Geschichte meiner Oma sehr rührend fand, und schreibt: „Über die | |
| Kriegsjahre meines Vaters weiß ich nur wenig. Er ist nach drei Jahren | |
| Gefangenschaft wohlbehalten nach Hause gekommen und hat ziemlich gleich | |
| meine Mutter geheiratet. Die beiden hatten eine gute Ehe und er war ein | |
| guter Vater.“ Mein Vater liest ihr die Zeilen vor. Am Abend frage ich sie | |
| am Telefon, was sie zu dem Brief sagt. Sie antwortet nur: „Dann ging es ihm | |
| also gut.“ In ihrer Stimme liegt ein Hauch von Enttäuschung. Vier Wochen | |
| später stirbt sie an den Folgen eines Infekts. | |
| Als ich schließlich von ihrem Tod erfahre, bin ich so benommen, dass ich | |
| vergesse, meinen Vater an das Taschentuch zu erinnern. Seitdem bewahre ich | |
| es für sie unter meinem Bett auf: in einem alten Koffer mit | |
| Erinnerungsstücken. | |
| 9 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Lena Lörzer | |
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